'Mehr als die Erinnerung' - Seiten 267 - Ende

  • Aber man könnte die Reihe ja fortsetzen und fragen, was hat seinen Vater dazu gebracht, ihn zu missbrauchen. Wird da nicht wieder beim Täter entschuldigt, er konnte ja nicht anders, da er ja diese Erfahrung des Missbrauchs schon gemacht hat? Ist denn nicht jeder irgendwann für seine Handlungen verantwortlich, kann man immer alles mit der Vergangenheit entschuldigen? Dann wäre ja oft auch die Täter der Naziherrschaft mit irgendwelchen psychischen Schäden und Kindheitstraumen zu entschuldigen?

    Es geht dabei nicht um das Entschuldigen einer Tat, sondern um das Verstehen. Die meisten Menschen, die Schreckliches in der Kindheit erlebt haben, werden keine Täter.


    Ich habe ja lange auch in der Forensischen Psychiatrie als Ärztin gearbeitet. Für seine Taten ist jeder selbst verantwortlich. Krankheit entschuldigt auch kein schlechtes Benehmen oder Straftaten.


    Aber es ist wichtig, Ursachen zu erforschen. Für die direkt betroffenen Menschen bringt es nichts mehr. Aber für spätere Generationen in der Prävention. Falls Viktors Vater schon missbraucht worden ist, hätte man die Spirale vielleicht damals schon durchbrechen können, wenn er Hilfe bekommen hätte. Dann wären seine Kinder verschont geblieben. Darum geht es letztlich bei der Aufdröselung solcher Muster. Täter-Opfer-Ketten zu durchbrechen.


    Zum Thema Manipulation - wenn jemand anfällig für so etwas ist, weil man ihm genau das einredet, was er selbst ohnehin gern täte, kann das schnell gehen. Viktor war wahnsinnig gekränkt und hatte auch Angst, weil Juliane sich erinnern konnte. Das hat Weiß ausgenutzt - narzisstische Kränkung in Verbindung mit Angst kann zu gruseligen Taten führen.

  • Das hat Weiß ausgenutzt - narzisstische Kränkung in Verbindung mit Angst kann zu gruseligen Taten führen.

    Okay, das erklärt es. Wie ich schon vermutete. :)

    Ich habe ja lange auch in der Forensischen Psychiatrie als Ärztin gearbeitet. Für seine Taten ist jeder selbst verantwortlich. Krankheit entschuldigt auch kein schlechtes Benehmen oder Straftaten.

    Aus eigener familiärer Erfahrung mit psychischen Erkrankungen kann ich sagen, dass das wirklich ein schmaler und schwieriger Grat gerade für Angehörige ist. Was kann man der Krankheit in die Schuhe schieben und wo muss man erkennen, dass der Betroffene sich auch anders hätte verhalten können/müssen.

    Hollundergrüße :wave



    :lesend


    Heumahd - Susanne Betz


    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,

    daß er tun kann, was er will,

    sondern daß er nicht tun muß,

    was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Darum geht es letztlich bei der Aufdröselung solcher Muster. Täter-Opfer-Ketten zu durchbrechen.

    Das wäre natürlich das Beste. Die Kette zu unterbrechen, die sich sonst immer weiter fortsetzt.

    Hollundergrüße :wave



    :lesend


    Heumahd - Susanne Betz


    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,

    daß er tun kann, was er will,

    sondern daß er nicht tun muß,

    was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Das wäre natürlich das Beste. Die Kette zu unterbrechen, die sich sonst immer weiter fortsetzt.

    Dafür wäre aber wirklich die erforderliche Menge an fachlich kompetenten Psychologen etc. nötig. Wenn ich an die Folgen des 1 WK für die Rückkehrer denke, wären die entsprechend behandelt worden, und nicht nur mit Morphium, nun ja, das kann man endlos fortsetzen.

    Die Frage aber wirft sich auf, gibt es wirklich von Grund auf schon grausame, gefühllose Menschen, oder hatten z.B. alle NS-Täter eine traumatische Kindheit?

  • Die Frage aber wirft sich auf, gibt es wirklich von Grund auf schon grausame, gefühllose Menschen, oder hatten z.B. alle NS-Täter eine traumatische Kindheit?

    Da muss man Unterschiede bei den Beweggründen machen. Z.B. habe ich gestern eine Arte-Sendung über die Todesmärsche gesehen (sehr schwere Kost). Da ging es u.a. um die Polizisten aus Hamburg, die für Spezialaufträge in den Osten geschickt wurden, wo sie zu Tausenden Gefangene erschießen sollten. Da hat sich kaum jemand widersetzt (alles Familienväter über 30). Das wird von Psychologen auch damit erklärt, dass der Gruppenzwang einfach sehr gut wirkt bei Menschen. Keiner wollte vor den Kollegen als Feigling gelten. Also gerade bei den ganzen niedrigeren Rängen bei NS-Tätern spielen viele andere Faktoren eine Rolle. Wie auch Entmenschlichung und dergleichen schreckliches. Bei den oberen Nazi-Rängen gab es aber sicher einige psychisch Auffällige. Auch solche, die durch ihre eigenen Väter - die ja auch schon einen Krieg hinter sich hatten - geprägt waren. Da muss man sicher jeden Fall eigens beleuchten.

    Hollundergrüße :wave



    :lesend


    Heumahd - Susanne Betz


    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,

    daß er tun kann, was er will,

    sondern daß er nicht tun muß,

    was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Die Frage aber wirft sich auf, gibt es wirklich von Grund auf schon grausame, gefühllose Menschen, oder hatten z.B. alle NS-Täter eine traumatische Kindheit?

    Nein, natürlich hatten die nicht alle eine traumatische Kindheit. Aber sie haben die Menschlichkeit gezielt abgespalten. Wenn man sich z.B. die Wannseekonferenz anschaut - da wird über Zahlen geredet. Die Schicksale der Menschen dahinter werden nicht wahrgenommen. Das ist so ähnlich, wie wir heute in den Nachrichten von irgendwelche Todeszahlen bei Flugzeugabstürzen am anderen Ende der Welt hören - man findet das im ersten Moment schrecklich, aber dann wird es ausgeblendet. Dieser ansich gesunde Mechanismus wurde von machen Menschen dann in solchen Fällen rationalisiert und überstrapaziert. Die Empathie und das Mitgefühl wurden ausgeschaltet. Was als Selbstschutz erfunden wurde, wurde ausgedehnt - man schützte sich nun davor, aus der Gruppe ausgestoßen zu werden, indem man mitmachte.

    Da ging es u.a. um die Polizisten aus Hamburg, die für Spezialaufträge in den Osten geschickt wurden, wo sie zu Tausenden Gefangene erschießen sollten.

    Mit der Thematik habe ich mich auch sehr intensiv befasst, deshalb kommt das ja u.a. auch in Hafenschwester 3 als Thema vor. Die Sorge davor, aus der eigenen Gruppe ausgestoßen zu werden, war so groß, dass es alles andere in den Schatten stellte. Dahinter steckte natürlich auch die Urangst, ganz allein darzustehen und selbst zum Opfer zu werden. Deshalb traute sich kaum jemand, NEIN zu sagen, obwohl denen nichts passiert ist - außer dass man sie für labil und schwach hielt.

  • Manchmal traut sich mal jemand "gegen das System" zu sein, aber oft jammern und klagen alle und am Ende ändert sich nichts.

    Noch schlimmer ist es, wenn jemand etwas sagt und alle, die vorher mitgejammert haben, dann vor dem Chef sagen, so schlimm sei es doch gar nicht und der Kollege würde übertreiben. Kommt leider auch regelmäßig vor.

  • Das Dr. Weiß jetzt selber ein "Irrer" ist, finde ich keine besondere Genugtuung. Ich hätte ihn lieber im Vollbesitz seiner Fähigkeiten lebenslang im Gefängnis gesehen.

    Aber wäre es dazu überhaupt gekommen? Immerhin steht ein Regimewechsel bevor - und da hätte möglicherweise jemand sich an die Geschichte von Dr. Weiß erinnert. Ich fürchte, er wäre rehabilitiert und Teil des Systems der Nazis geworden.


    Ich kann der ausgleichenden Gerechtigkeit schon etwas abgewinnen.

  • Aber wäre es dazu überhaupt gekommen? Immerhin steht ein Regimewechsel bevor - und da hätte möglicherweise jemand sich an die Geschichte von Dr. Weiß erinnert. Ich fürchte, er wäre rehabilitiert und Teil des Systems der Nazis geworden.


    Ich kann der ausgleichenden Gerechtigkeit schon etwas abgewinnen.

    Ich finde auch, dass das sehr gerecht ist. Ich hatte schon die Befürchtung er entkommt überhaupt irgendeiner Strafe. Aber dazu war er wohl zu neugierig ob sein Experiment klappt.

  • So, ich bin jetzt auch fertig und sitze hier mit roten Bäckchen vor Aufregung (oder ist es doch eher Bluthochdruck?)... Ich schreibe kurz meine Eindrücke, die Beiträge der anderen lese ich morgen...

    Bernhards Tod hat mich wirklich betroffen gemacht, ich hatte ihn absolut nicht erwartet, irgendwie hatte ich mich auf das weitere "heile Vater-Mutter-Kind-Leben" auf Gut Mohlenberg eingelassen... Aber - bei aller Trauer - kann ich die Dramaturgie dahinter auch nachvollziehen: durch Bernhard wäre Friederike immer in der Verpflichtung (nee, falsches Wort, sie hat es ja freiwillig gemacht), also sie hätte immer auf Bernhard und seine Befindlichkeit geachtet / achten müssen. So hat sie jetzt die Chance, ihr Medizinstudium zu beenden (ich gehe davon aus, dass nur Heidelberg Frauen für das Medizinstudium zugelassen hat? Paula (für "Uneingeweihte": die spätere Frau von Richard Hellmer) hat ja erst 1926 in Hamburg studiert.... Und da ich durch den kleinen Spoiler zu Band 4 weiß, dass Friderikes Tochter auch beim Grillen ist, gehe ich jetzt erstmal davon aus, dass die Schwangerschaft gut verläuft.

    Ja, Dr. Weiß wird einiges zum Verhängnis: dass Bernhards Reflexe (kann man das so sagen?) noch so konditioniert sind, dass er Viktor das Messer abnehmen kann und dass Wotan noch immer vollkommen verschreckt auf das Pistolenknallen reagiert... Tja, ich verrate hier kein großes Geheimnis: um Dr. Weiß bin ich nicht besonders traurig, dass er nun selbst ohne Sprache (seine stärkste Waffe!)n eine Pflegeanstalt kommt, beruhigt mich sogar etwas - wenn er sich in einer Gerichtsverhandlung hätte verantworten müssen, wer weiß was er da für Tricks gefunden hätte - und wir wissen doch alle, dass er bei den Nationalsozialisten Karriere gemacht hätte, als T 4 Arzt wäre er sicher eine ideale Besetzung gewesen...

    Juliane hat mir gut gefallen, obwohl mir ihre "Heilung" fast etwas zu schnell ging, vom schwersttraumatisierten Fräulein zur selbstbewussten Frau, die Friederike unterstützt und sogar ersetzen kann? Nun gut, dichterische Freiheit... Aber die einzelnen Schritte fand ich logisch, ich war begeistert, als sie ihrem Bruder weggeschickt hat...

    Auch um Viktor hält sich meine Trauer in Grenzen, obwohl er eindeutig ein Opfer war, die Episode mit der Katze (im Schrank) fand ich auch sehr bezeichnend!

    Von Walter /Wolfgang war nicht mehr die Rede, obwohl er ja die Vigenere-Verschlüsselung "geknackt" und damit wesentlich zur Fallauflösung beigetragen hat - schade, wie schon erwähnt: ich mochte ihn...

    Ich bin mit dem Schluss sehr zufrieden, obwohl ich das Gefühl hatte, es käme "so plötzlich", aber das lag vermutlich daran, dass ich mich gerade auf Gut Mohlenberg so häuslich niedergelassen hatte...

    So, das war's erstmal für heute, morgen mehr...

  • Ich bin mit dem Schluss sehr zufrieden, obwohl ich das Gefühl hatte, es käme "so plötzlich", aber das lag vermutlich daran, dass ich mich gerade auf Gut Mohlenberg so häuslich niedergelassen hatte...

    Ich freue mich sehr, dass es dir gefallen hat - ja, man kann sich auf Gut Mohlenberg schnell nieder lassen ;-)


    Friederike wird ihr Studium als Wochendendfahrerin in Hamburg beenden, da Hamburg 1919 eine eigene Universität eröffnet hat. 1918 bekamen Frauen auch das Wahlrecht und Studieren war schon Normalität.


    Juliane hat ihren Kernkonflikt überwunden - und deshalb schnelle Fortschritte gemacht. Es ist ja nicht so, dass aus jedem "Opfer" jemand wird, der lebenslang mit den Folgen kämpft. Viele Menschen können das auch überwinden und haben viel mehr Stärke, als man glaubt. Die Victimisierung von Missbrauchsopfern, von wegen, "das geht nie wieder weg, die sind für immer geschädigt" ist aus falschem Mitleid auch ein großes Problem. Man hält die Betroffenen dadurch in der Opferrolle, die dann immer jedes Problem, das sie in ihrem Leben haben, auf den stattgefundenen Missbrauch schieben, anstatt die Ärmel hochzukrempeln, mit der Vergangenheit abzuschließen und das Leben in die Hand zu nehmen. Juliane hat die Erfahrung gemacht, dass sie stark sein konnte - und das hat ihr letztlich die "Heilung" gebracht. Natürlich wird es im Leben von Menschen mit Missbrauchserfahrungen immer wieder auch Rückschläge und Einbrüche geben - aber die große Gefahr ist die, wenn man JEDE Schwierigkeit im Leben damit begründet. Das ist nämlich falsch und lähmt die Weiterentwicklung. Manchmal ist es auch ganz gut, abzuschließen und Eigenverantwortung für alles weitere selbst zu übernehmen. Das wird Juliane in den Folgebänden auch tun.

  • Es geht dabei nicht um das Entschuldigen einer Tat, sondern um das Verstehen. Die meisten Menschen, die Schreckliches in der Kindheit erlebt haben, werden keine Täter.


    Aber es ist wichtig, Ursachen zu erforschen. Für die direkt betroffenen Menschen bringt es nichts mehr. Aber für spätere Generationen in der Prävention. Falls Viktors Vater schon missbraucht worden ist, hätte man die Spirale vielleicht damals schon durchbrechen können, wenn er Hilfe bekommen hätte. Dann wären seine Kinder verschont geblieben. Darum geht es letztlich bei der Aufdröselung solcher Muster. Täter-Opfer-Ketten zu durchbrechen.

    Das halte ich für Widersprüchlich. wie kann man Täter - Opferketten durchbrechen, wenn es sie in der Regel nicht gibt? Ich habe in einer Fortbildung zum Thema Sexualstrafrecht mal gehört 80% aller Täter bei Pädophilie seien zuvor Opfer gewesen. Der Referent oder Referentin, ich weis es nicht mehr, war massiver Befürworter ordentlicher Opfertherapie.

  • Mich hat der Tod von Bernhard auch geschockt. Klar die Erläuterungen sind nachvollziehbar. Trotzdem konnte ich Riekes Trauer förmlich spüren.


    Das Dr. Weiß der Übeltäter schlecht hin war ja schon länger klar, bzw. hat sich immer mehr herauskristallisiert.

    Ich kann diesen ekelhaften Gedankengängen überhaupt nicht folgen. Sorry, aber mich verstört so etwas eher, als das es mich fasziniert.


    Eine wunderbare Entwicklung mach Juliane durch. Für sie habe ich mich wirklich gefreut.


    Teilweise habe ich diesem Roman eher als Kriminalroman empfunden, was nicht per se schlecht ist. Aber ich hatte ganz andere Vorstellungen, als ich mit dem Lesen begonnen habe.


    Insgesamt war es aber sehr interessant und der Roman hat mir gut gefallen, auch wenn es nicht mein Lieblingsbuch von der Autorin werden wird.

  • Ich kann diesen ekelhaften Gedankengängen überhaupt nicht folgen. Sorry, aber mich verstört so etwas eher, als das es mich fasziniert.

    Das. ist schlicht historische Realität und sicher noch teilweise Realität der Gegenwart. Es ist nicht allzulange her, da hatte sich ein Gericht mit der Frage zu befassen ob eine Gruppe Reisender mit Trisomie 21 in einem Hotel einen Reisemangel für andere Reisende begründet.