Jurek Becker: Jakob, der Lügner

  • ASIN/ISBN: 3518372742


    Jurek Beckers Roman „Jakob, der Lügner“ erschien 1969:

    Der Roman schildert die Wochen in einem fiktiven polnischen Ghetto, bevor die dortige Restbevölkerung abschließend in die Vernichtungslager transportiert wird. Die Handlung kann zeitlich mit dem Vorrücken der Roten Armee nach Polen Ende 1943/44 verbunden werden.


    Jakob Heym, ein Ghettobewohner und ehemaliger Imbissbetreiber, wird eine halbe Stunde vor der Ausgangssperre von einem deutschen Grenzposten aufgegriffen und in das Stadtrevier geschickt. Ghettobewohner, die dorthin verbracht oder geschickt werden, kommen in der Regel nicht mehr zurück. Jakob jedoch hat Glück und wird wieder zurückgeschickt, weil es erst halb acht war, als er aufgegriffen wurde. Im Revier erfährt er, dass die Rote Armee bereits auf eine Stadt vorrückt, die nur noch 450 Kilometer vom Ghetto entfernt ist. Als er versucht, diese hoffnungsvolle Nachricht an einen Arbeitskollegen weiterzugeben, glaubt ihm dieser nicht, weil er sich nicht vorstellen kann, dass man ungeschoren aus dem Revier entkommt. Also ersinnt Jakob die Lüge, er habe die Information aus einem versteckten Radio erfahren und löst damit Hoffnung bei den Ghettobewohnern aus. Um diese Hoffnung aufrechtzuerhalten, dichtet Jakob weitere Meldungen vom Vorrücken der Russen hinzu und senkt dadurch die Selbstmordrate im Ghetto, in dem das Leben von Hunger, Verzweiflung und der Willkür der deutschen Aufseher geprägt ist, erheblich. Außerdem erfahren wir Leser von dem alltäglichen Leben im Ghetto, der Zwangsarbeit, um Essen zu erhalten, den unterschiedlichen Charakteren, die hier zwangsweise zusammenkommen, weil sie Juden sind oder jüdische Vorfahren haben, aber sonst überhaupt keine Gemeinsamkeiten haben, wir erfahren von Mut und bewunderswerter Haltung, von junger und von selbstloser Liebe, aber auch von Verzweiflung und Aufgabe.


    Trotz des düsteren Themas gelingt Becker ein kunstvoller und zugleich unterhaltsamer Roman, in dem sogar manchmal Humor aufblitzt. Der Erzähler ist einer oder sogar der einzige Überlebende aus dem Ghetto, der 1967, als Sechsundvierzigjähriger, aus der Erinnerung und durch Recherchen gestützt, die Geschichte von Jakob Heym und seinen wohltätigen Lügen erzählt. Dabei erinnert er uns immer wieder daran, dass Literatur aus Erfahrung und Fantasie gemacht ist: Erlebtes wird durch Vermutetes angereichert, es wird ein „So-könnte-es-gewesen-sein“ aufgebaut. Folgerichtig werden uns auch zwei Enden angeboten, ein Versöhnliches, das Jakobs Lügen Wahrheit werden lässt und die meisten verbliebenen Ghettobewohner erlöst, dem aber Jakob, vermutlich als Ausgleich, geopfert wird – und das aus Erzählersicht wirkliche, die Deportation in die Vernichtungslager.


    Becker wuchs selbst, wenn auch in jüngeren Jahren, im Ghetto von Lodz auf, was man sehr gut an der Authentizität des Geschehens und der Glaubwürdigkeit der Charaktere erkennt, ohne dass man davon ausgehen sollte, dass hier wirkliche Menschen gespiegelt werden. Es wird deutlich, dass es überall solche und solche gibt, dass auch eine Notlage nicht dazu führt, dass alle Menschen gut werden und sich solidarisch verhalten, dass sie aber dennoch zusammenrücken und gemeinsame Gefühle entfalten.


    Mir fällt es immer schwer, Bücher zu lesen, die diese Zeit und die große Schuld, die aus diesem Land entsprungen ist, thematisieren, aber genau deshalb sind solche Bücher auch so wichtig, um die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Wenn sie dann auch noch so gut geschrieben und zutiefst menschlich sind, kann ich nur hoffen, dass „Jakob, der Lügner“ auch in Zukunft noch ganz viele Leser findet.

  • Ich habe das Buch Anfang Januar im Rahmen einer Leserunde hier bei den Eulen gelesen. Ich fand es sehr gut, dieses Buch in einer LR zu lesen, denn dadurch bekam ich neue Impulse und Interpretationsmöglichkeiten und ich sah auch vieles, was mir evtl. untergegangen wäre. Mir war das Buch und der Autor unbekannt, aber das Buch habe ich "gerne gelesen" - wenn man das so in Anbetracht des Inhalts sagen kann.


    Die Geschichte wird von einem Erzähler wiedergegeben und handelt von einem Juden im Getto, der sich (etwas ungewollt) in eine Lüge verstrickt, die aber anderen Getto-Bewohnern Hoffnung verleiht, so dass er von dieser Geschichte nur schwer abkommen kann, obwohl er selbst mit seiner Lüge zu kämpfen hat. Man erfährt viel von den handelnden Figuren, von der Situation und den Vorkommnissen in so einem Getto, von den Ängsten und Hoffnungen der Juden in der Zeit und in der Situation. Es ist aus diesem Grund natürlich kein "leichtes" Buch, die Beklemmung ist auf eine Art immer da - und doch kann man sie, glaub ich, als einfacher Leser kaum wirklich fassen. Es ist schwer, das Unbegreifliche greifbar zu machen und ich glaube, ich möchte mir das gar nicht vorstellen.


    Ich mochte den Schreibstil von Jurek Becker. Ich bin zwar ein Fan von Dialogen und dadurch, dass es einen Erzähler gab, wurde sehr viel in indirekter Rede berichtet und für mich teilweise auch etwas umständlich ausgedrückt, aber daran hab ich mich gewöhnt. Jurek Becker ist es gelungen, trotz der ernsthaften Thematik ein Buch zu schreiben, welches auch erhellende Momente beinhaltet und somit den Leser nicht einfach nur deprimiert und runterzieht, sondern trotzdem irgendwo noch Hoffnung und Zuversicht beinhaltet. Dennoch spürt man bei Lesen doch sehr die Angst der Juden vor der Verfolgung und dem Tod, die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage, auch die Verzweiflung. Ich denke aber, dass dem Autor diese Gratwanderung sehr gut gelungen ist - eine ernsthafte Geschichte mit dem nötigen Ernst zu verfassen, ohne den Leser unterwegs aufgrund der düsteren Thematik zu verlieren.


    Wie gesagt - alles in allem habe ich das Buch "gerne" gelesen. Natürlich hat es mich sehr beschäftigt, bin auch froh, dass ich das Buch in der Leserunde lesen konnte. Ich finde solche Bücher sehr wichtig, einfach für die Aufklärung, für das Bewusst-Werden dessen, was passiert ist. Und doch glaube ich, dass kein Buch das Leid wirklich so nah bringen kann, wie es in der Tat war. Es ist ja nun mal was anderes, ob ich über etwas lese (und ich kann mich noch so gut hineinversetzen) oder ob ich es am eigenen Leib erfahren muss. Dennoch begrüße ich es, Bücher mit der NS-Thematik zu lesen, gerne wieder in einer LR.

    With love in your eyes and a flame in your heart you're gonna find yourself some resolution.


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