Hier eine Leseprobe (gefunden auf der Internetseite des Verlags http://www.dumontliteraturundkunst.de)
Jorge
Die Insel vor ihm hatte die Farbe des Sandsteins, den man hier brach. Das Land in seinem Rücken entließ seine Hügel ins Licht. Es war eine buckelnde Herde, die vor der aufsteigenden Sonne davonkroch, spärliche Haine, gewundene Terrassen, Gärten aus Geröll. Auf den Spuren der Dämmerung wanderten Schatten wie dunkle Wolken über das Land. Doch der Morgen im Sommer war kurz, und sobald die Sonne steil stand, würde sich nichts mehr rühren. Jorge de Houwelandt watete bis zu den Hüften in den Uferwellen und rieb sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Das Meer schmeckte nach Schlaf. Ohne die Augen zu öffnen, legte er das Kinn auf die Brust, streckte die Arme aus und tauchte ein.
Mit angehaltenem Atem schwamm er ein paar Züge unter Wasser, in seinen Ohren das Rollen der Kiesel und Steine in der sanften Dünung. Er wußte, daß Esther ihm vom Strand aus zusah, daß sie die schiefergraue Oberfläche nach seinem Kopf absuchte und darauf wartete, ihn zwischen den Wellen wiederauftauchen zu sehen, die sich zu dieser frühen Stunde noch nicht brachen, sondern an Land huschten wie Tiere unter einem Tuch. Er brauchte nicht zu atmen. Er verspürte keinen Drang nach Luft. Was er brauchte, war das Meer.
Er konnte die Feier noch immer absagen. Er war das Familienoberhaupt. Wenn er nicht wollte, würde sein Geburtstag nicht stattfinden, alle würden bleiben, wo sie waren. Er, Jorge, brauchte kein Fest.
Die kleine Bucht warf einen Schattensaum über das allmählich erwachende Meer. Nur auf der Insel lag schon Licht. Es fing sich in den Klippen und verlieh dem Sandstein für Augenblicke die Farbe von gebrannten Ziegeln. Jorge glitt schwerelos durch die anschmiegsame, zudringliche Frische der flüssigen Welt und betrachtete die rundgewaschenen Steine und Muscheln unter sich. Ein, zwei Züge noch, dann erreichte er die Felder von Seegras und totem Tang. Danach kam nur noch Tiefe und sich selbst überschattendes Blau.
Jorge dachte nicht daran aufzutauchen. Er wußte, daß Esther ihn beobachtete. Für einen Moment war es, als könnte er hören, wie sie von einem Fuß auf den anderen trat und der Steinstrand unter ihren Sandalen knirschte. Er sah ihr zum Meer gewandtes Gesicht und die Strähnen ihres noch immer dichten Haars im auflandigen Wind. Sie würde nicht nach ihm rufen, obwohl ihr sein Name auf den Lippen lag, Esther würde die Luft anhalten, als wären ihre und seine Lungen eins. Doch er vermißte nichts. Er hatte sie hinter sich gelassen wie alles an Land.
Das Wasser war flüssiges Glas, farblos vor Frühe. Durch die Tanggärten strich schon der Herbst. Jorge tauchte zwischen zwei algenverhangenen Bojen hindurch, die den Schwimmbereich markierten. Der Gedanke an Sauerstoff durchzuckte ihn, doch es war nur ein Reflex wie vor dem Einschlafen – schon vorbei. All seine Sinne richteten sich auf das bodenlose Blau, das sich unter ihm auftat, und die hinaufdrängende Tiefe. Sie hatte ein so weiches Fell. Jorge war überwältigt von dem Gefühl des Entronnenseins auf der Haut. Wie jeden Morgen.
Hinter einem Fischerboot mit eingezogenem Motor durchbrach er die Oberfläche. Das Tier, das ihn trug, hatte den Rücken krumm gemacht und ihn in die Höhe gehoben. Jorge schnappte nicht nach Luft, sie strömte in ihn ein. Er war vollkommen ruhig.
Es würde keinen Geburtstag geben, und erst recht nicht, wenn es, wie Esther betonte, sein achtzigster war.