Simone Dorra, Ingrid Zellner: Flug mit dem Wind, Band 6 der Kashmir-Saga, Hamburg 2021, Tredition, ISBN 978-3-347-38282-4, Softcover, 468 Seiten mit Personenverzeichnis und Glossar, Format: 16,99 x 2,41 x 24,41 cm, Buch: EUR 18,99, Kindle: EUR 4,99.
Vikram seufzte. „Es ist frustrierend, weil man nicht allen Kindern helfen kann, sondern nur einigen wenigen. Dieses Haus ist ein winziges Boot mitten auf einem riesigen Meer mit gefährlichen Unterströmungen. Es passen bei weitem nicht so viele Schiffbrüchige darauf, wie ich gerne mitnehmen würde, und oft schaukelt es gewaltig.“ (Seite 441)
Familiensaga mit Rückblenden
Als ich 2017 den ersten Band dieser siebenteiligen Reihe las, war mir klar, dass das eine Familiensaga ist, die sich über zwei Jahrzehnte erstrecken wird. Ich bin immer davon ausgegangen, dass die Rückblenden mitzählen. Schließlich haben wir im Lauf der Zeit vieles erfahren über den hinduistischen Waisenhausleiter Vikram Sandeep, der 25 Jahre lang beim Militär war und Agent der indischen Abwehr. Weil er damals nicht gerade zimperlich war, will er durch seine jetzige Tätigkeit in Kashmir einiges wieder gutmachen.
Auch über seinen besten Freund Raja Sharma aus Shivapur/Maharashtra wissen wir so einiges: Er hat aufgrund einer Intrige 25 Jahre lang unschuldig im Gefängnis gesessen und es dort durchaus verstanden, seine Interessen zu wahren. Die beiden Männer haben sich in der Vergangenheit eine Menge mächtiger Feinde gemacht und müssen sich immer wieder gegen deren Machenschaften zur Wehr setzen.
Auf in die Zukunft!
In die Zukunft würden die Autorinnen mit ihrer Geschichte doch nicht gehen, oder? Doch, genau das tun sie! Am Ende des sechsten Bands sind wir im Jahr 2029.
Zwar können die beiden nicht hellsehen, aber mit der Annahme, dass die Menschheit nichts aus ihren Fehlern lernen und sich an der Situation in Kashmir nichts verbessern wird, sind sie sicher gut beraten. Die Lage der Nation liefert sowieso „nur“ das Hintergrundrauschen für die Geschichte des Waisenhauses Dar-as-Salam, deren Bewohner:innen, Freunden und Feinden.
Band 6 beginnt wieder einmal sehr stimmungsvoll und harmonisch. Im Dar-as-Salam wird Weihnachten gefeiert – eine Tradition, die Sameera, die christliche Ehefrau des Heimleiters eingeführt hat. Auch wenn die Bewohner:innen mehrheitlich Muslime und die Freunde Hindus sind, feiern alle begeistert mit. Als Kenner:innen der Reihe erwarten wir jetzt, dass prompt irgendwelche miesen Gestalten aus ihren Löchern gekrochen kommen und Vikram, Raja und/oder deren Angehörigen ans Leder wollen. Dann werden auf beiden Seiten die Netzwerke angezapft, Verbündete gesucht, ein epischer Kampf bricht aus – und am Schluss darf Frau Dr. Shetty die Verwundeten in der Klinik von Srinagar wieder zusammenflicken. Doch zu unserem Erstaunen bleibt der ganz große Angriff zunächst aus.
Es gibt eine Schmutzkampagne in den Medien, die Vikrams Arbeit diskreditieren soll, doch ein Journalist, der im Dar-as-Salam aufgewachsen ist, setzt dem Spuk schnell ein Ende. Danach ist Ruhe. Haben die Gegner sich vielleicht nur zurückgezogen, um neue Kräfte zu sammeln?
Natürlich ist nicht alles eitel Sonnenschein. Eine von Vikrams und Sameeras Pflegetöchtern wird überfallen, was ihre Zukunftspläne zunichtemacht. Einer der Jungs radikalisiert sich und verlässt das Heim im Zorn. Eine Freundin des Hauses wird Opfer eines feigen Anschlags. Frauenleben zählen hier nicht viel.
Die Waisenkinder werden flügge
Die Zöglinge der Sandeeps werden nach und nach flügge und finden mehr oder weniger ihr Glück. Wir werden Zeuge erstaunlicher Karrieren, schwerer Schicksalsschläge und berührender Liebesgeschichten. Und wir erhalten Einblicke in die Vorgeschichte der Kids aus dem Waisenhaus. Schon erstaunlich, wie sich manche hier entwickelt haben!
Es gibt Szenen, die einen zu Tränen rühren. Zum Beispiel, wenn eine „graue Maus“, der sämtliche berufliche Perspektiven weggebrochen sind, an völlig unerwarteter Stelle Erfüllung findet oder wenn der Sharma-Clan in Shivapur (inzwischen über 20 Leute! Kein Wunder, dass ich die nie auseinanderhalten kann!) sich zu den Zukunftsplänen seines Patriarchen Raja äußert.
Da hier das Leben in seiner gesamten Bandbreite abgebildet wird, muss man ab und zu auch herzlich lachen. Wenn die haarsträubenden Jugendsünden des jetzt so engagierten Yussuf Sadaq zur Sprache kommen oder wenn sich eine resolute Fünfzehnjährige ihren künftigen Ehemann aussucht. Noch weiß der Auserwählte nichts von seinem Glück, aber sie ist zuversichtlich, dass er es zeitnah kapieren wird. „Umgekehrt wird ein Schuh draus, bhaiyya“, grinste Raja. „Sie will IHN heiraten. Gut, seit gestern will er zum Glück auch.“ (Seite 326)
Die große November-Katastrophe
Wenn man sich gerade so schön damit eingerichtet hat, dass in diesem Band nichts Dramatisches mehr geschehen wird, das Buch lediglich ein Abschied von vertrauten Figuren ist und einen Generationenwechsel einläutet, passiert das, was in die Geschichte des Dar-as-Salam als „die große November-Katastrophe“ eingehen wird.
Ein alter Feind des Hauses bedient sich eines besonders perfiden Tricks, um das Lebenswerk der Sandeeps zu vernichten. Und es sieht nicht danach aus, als würden sie noch einmal in trauter Runde Weihnachten feiern können.
Doch eines sollten die Gegner der Sandeeps – und damit automatisch auch der Sharmas – bedenken: Die Helden mögen jetzt an die siebzig sein, ein bisschen müde, faltig und weißhaarig, doch man sollte sie keinesfalls als ausgemusterte alte Säcke unterschätzen. Männer, die ein so bewegtes Leben geführt haben, sind nicht nur mutig, sondern auch bestens vernetzt. Wer aus dem Hinterhalt gegen sie vorgeht, hat nicht die allerbesten Karten …
Ich hätte da noch Fragen …
Jetzt hoffe ich, dass die Zeitsprünge nicht in diesem Tempo weitergehen, sonst kann die Reihe ja nur mit dem Tod der Personen enden, die wir so viele Jahre auf ihrem Weg begleitet haben. Und das wäre doch zu traurig! Außerdem habe ich noch ein paar Fragen, die ich schon gerne zeitnah beantwortet hätte:
Was ist aus Salmas Bruder Sinan geworden? Und stimmt wirklich was nicht mit Aftab – oder kann Azad ihn nur nicht leiden, weil er so theatralisch ist? Könnte ich verstehen. Für meinen Geschmack ist der Kerl auch ein bisschen zu gut um wahr zu sein.
Als Quereinstieg in die Reihe würde ich den vorliegenden Band nicht empfehlen, trotz des Personenverzeichnisses und des Glossars. Wer noch nie von der Kashmir-Saga gehört hat und sich nun für die Reihe interessiert, sollte bei Band 1 anfangen.
Band 1: Das Haus des Friedens, Band 2: Der Weg aus der Finsternis, Band 3: Ein Geschenk der Götter, Band 4: Ein Band aus Stahl, Band 5: Ein Lied in der Nacht, Band 6: Flug mit dem Wind, Band 7: Der Strom des Lebens (Februar 2022).
Die Autorinnen
Ingrid Zellner wurde 1962 in Dachau geboren. Sie studierte in München Theaterwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Geschichte (1988 Magisterexamen). Von 1990 bis 1994 war sie als Dramaturgin am Stadttheater Hildesheim engagiert, von 1996 bis 2008 in derselben Funktion an der Bayerischen Staatsoper München. Heute ist sie freiberuflich als Autorin und Übersetzerin (Schwedisch) tätig.
Simone Dorra wurde 1963 in Wuppertal geboren, machte eine Ausbildung zur Buchhändlerin und arbeitete mehrere Jahre als kirchliche Radio-Redakteurin für den Privatfunk. Sie ist verheiratet, Mutter von drei erwachsenen Kindern und Autorin von sechs Büchern im Silberburg-Verlag Tübingen. Als begeisterter Fan von Indien und Kashmir schrieb sie "Das Haus des Friedens" als Soloprojekt und setzte es gemeinsam mit ihrer Co-Autorin Ingrid Zellner zu einer Serie in insgesamt sieben Bänden fort, die seit 2017 bis zum Frühjahr 2022 bei tredition erscheinen. http://www.simonedorra.de
ASIN/ISBN: 334738282X |