Alles anzeigenMich trifft das Buch so, weil es zeigt, wie grausam die Vernichtungsmaschinerie der Nazis war. Die Täter, hier besonders am Beispiel Preuß und Meyer, handeln ohne Skrupel und stellen überhaupt nicht in Frage, dass sie sich über andere Menschen erheben. Sie erschießen aus einer Laune heraus andere Menschen, nur weil sie vergessen haben, den Stern auf die Jacke zu nähen oder nach der Sperrstunde noch draußen sind oder weil sie es in dem Moment einfach wollen. Es war legitim, sie hatten die Macht. Auch nach vielen Büchern über die NS-Zeit will mir nicht in meinen Kopf, dass das möglich war.
Auch diese ganze Vernichtungsmaschinerie wird sehr deutlich. Das Ghetto ist ein Durchgangszimmer zum KZ, wo ein Massenmord durch Vergasen ermöglicht wurde, weil Erschießen in dieser hohen Zahl zu lange gedauert hätte.
Die Menschen im Ghetto sind nicht nur eine Zahl, sondern Becker macht sie zu konkreten Menschen, mit Stärken und Schwächen, wie du und ich. Sie dürfen nicht mehr leben, obwohl sie wunderbare Menschen sind wie z.B. Jakob, ein wahnsinnig empathischer Mensch, der sich um Lina kümmert und dabei sein Leben riskiert, der zuhört, Hoffnung schenkt. Oder wie Dr. Kirschbaum, der vielen Menschen das Leben gerettet hat. Sie dürfen nicht mehr leben, weil Menschen, auch wie du und ich, aberwitzige Gesetze erlassen haben, die das ermöglichten und sich aus Machtgier über andere Menschen erheben, Herren über Leben und Tod spielen. Das nimmt mich total mit.
Wenn ich lesen, mit welcher kindlichen Freude sich Lina auf die Reise freut, und wir wissen, dass sie ins KZ fährt, dann gefriert mein Herz.
Ich denke, das hat nichts damit zu tun, dass ich Deutsche bin. Ich habe auch schon über die Vernichtung Menschen anderer Nationen oder anderen Glaubens gelesen und finde das genauso schlimm.
Ich habe das Gefühl, ich finde dafür gar nicht die richtigen Worte.
Es ist schwierig, Dir meine Gefühle zu vermitteln und zu erklären, wenn nur ich sie empfinde, ebenso andersrum. Daher kannst Du zwar lesen, was ich schreibe und versuche zu erklären und vielleicht auch inhaltlich nachvollziehen, aber ich glaube, emotional greifen kannst weder Du meine Empfindungen noch ich Deine. Das ist gar kein Vorwurf, das ist einfach meine Feststellung bzw. meine Sicht, warum es schwierig ist, mich und meine Gefühle diesbezüglich nachzuvollziehen. Du sagst, das hat nichts damit zu tun, dass Du Deutsche bist, aber ich kann mir wiederum nicht vorstellen, dass die Tatsache, dass man quasi mit diesen "Untaten der deutschen Geschichte" aufwächst, wirklich keinen Einfluss hat. Aber wie gesagt, das ist nur meine Sicht auf diese Sachen.
Mich treffen selbstverständlich auch andere ähnliche Verbrechen. Und auch ich finde es unfassbar, was geschah (oder woanders geschieht), absolut unmenschlich und einfach nicht zu fassen, zu begreifen, nicht zu erklären. Allein die Vorstellung, da wird jemand abtransportiert und in einer Gaskammer vergast - mein Kopf kann so etwas einfach nicht nachvollziehen, diese Qual vorher und währenddessen möchte ich mir nicht vorstellen oder kann es einfach nicht. Welche Ängste die Menschen ausstehen mussten usw. Das ist für mich schwer greifbar und natürlich berührt und beschäftigt mich das. Ich glaube trotzdem, dass die Betroffenheit nochmal einen anderen Grad oder andere Facette bekommt, wenn man deutsche Wurzeln hat, in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Ich glaube, es hat einen zusätzlichen Einfluss auf den Blick auf die ganze Geschichte. Sicher gibt es auch Deutsche, die es gar nicht berührt und viele andere Nationen, deren Bürger es trotzdem sehr mitnimmt. Es sind schreckliche Dinge, die vielen Menschen nahe gehen, wenn man sich damit beschäftigt.
Vielleicht sollte ich meine Aussage/Theorie etwas korrigieren oder anpassen - es geht hier nicht um die Intensität der Gefühle oder nicht nur. Sondern auch um die Art. Ich kann das gerade nicht konkreter benennen. Ich glaube einfach, ich kann es schrecklich, unbegreiflich, belastend, bedrückend usw. empfinden. Aber ich werde trotzdem immer anders drauf gucken, als ein Mensch, der deutsche Wurzeln hat bzw. von seiner Geburt an quasi mit diesem Teil der eigenen Geschichte konfrontiert wurde und sich dem nicht so einfach entziehen kann. Ich glaube ja, dass sich das auch heute im Verhalten vieler Deutsche "widerspiegelt", diese Beschäftigung mit diesem furchtbaren Teil der Geschichte. Aber ja, mir ist klar - das ist meine Theorie.