Sibiro Haiku - Jurga Vilė, Lina Itagaki, Saskia Drude (Übersetzerin)

  • 240 Seiten

    Klappbroschur

    31. Juli 2020

    Internetseite zum Buch beim Baobab Books Verlag


    zum Inhalt (vom Verlag)

    Ein Blick zurück: Litauen im Juni 1941. Das Land wurde vor Kurzem von sowjetischen Truppen besetzt. Eines Morgens werden Algis und seine Familie unsanft von sowjetischen Soldaten geweckt. Sie haben nur wenige Minuten Zeit, um zu packen. Algis nimmt seinen Ganter Martin unter den Arm und sein Vater drückt ihm einen Eimer Äpfel in die Hand. Dann werden sie mit vielen anderen Litauern in Eisenbahnwaggons gepfercht, ahnungslos, wohin die Reise gehen wird.


    Die Endstation ist ein Lager in Sibirien. Die Bedingungen hier sind unmenschlich, der Hunger groß, die Winter bitter. Mit Galgenhumor und bemerkenswertem Ideenreichtum begegnet die Lagergemeinschaft ihrem Elend. Algis' Tante schwärmt für Japan und hat es geschafft, ein Buch mit japanischen Haiku ins Lager zu schmuggeln. Es ist nicht zuletzt diese karge Poesie, die die gefangenen Litauer nicht verzweifeln lässt. Und um ihr Heimweh zu lindern, gründen sie auch einen Chor: den Apfelchor. Apfelbäume wachsen in Sibirien zwar nicht, aber das Singen gibt der Hoffnung Auftrieb, dass dieser Albtraum bald vorüber sein wird.


    (Im Spoiler wird das Ende verraten.)


    Jurga Vilė schildert diese ungeheuerliche Geschichte aus der kindlichen Perspektive von Algis – ihrem eigenen Vater. Die Illustratorin Lina Itagaki hat dazu eine einzigartige Bildwelt geschaffen, in welcher sich Text und Bild zu einem vielschichtigen und wahrlich außergewöhnlichen Gesamtkunstwerk­ verweben. Ergreifend und ermutigend zugleich. In Litauen wurde das Werk mit zahlreichen Preisen geehrte, nun liegt es bei Baobab Books in deutscher Übersetzung vor.



    zur Autorin (vom Verlag)

    Die Autorin Jurga Vilè wurde 1977 in Vilnius geboren. Sie studierte an der Universität Vilnius französische Philologie, danach an der Pariser Sorbonne Filmwissenschaft und Audiovisuelle Medien. Später lebte sie einige Jahrein New York und in Spanien, bevor sie 2018 nach Litauen zurückkehrte. Hier ist sie heute als Autorin und Übersetzeriin in der Filmbranche sowie als freie Journalistin tätig.


    zur Illustratorin (vom Verlag)

    Lina Itagaki wurde 1979 in Kaunas geboren. Sie studierte Anglistik und Literatur in Kaunas, Ökonomie in Japan sowie Grafische Kunst an der Kunstakademie in Vilnius. Heute lebt sie als freischaffende Illustratorin und Designerin in Vilnius. Auch Itagakis Großvater wurde nach Sibirien deportiert. Für ihre Recherchen konnte sie unter anderem auf Familienfotos zurückgreifen.



    Meine Meinung

    Ein Zufallsfund in der örtlichen Buchhandlung, ansonsten wäre mir das Buch vermutlich nie aufgefallen – so ganz ohne Buchmessen usw.


    Auf den ersten Blick schien es nur eine weitere mehr oder minder biographische Erzählung über die Grauen des Zweiten Weltkriegs zu sein, als Graphic Novel für jugendliche Leser. „Sibiro Haiku“ ist jedoch viel mehr. Litauen und Sibirien als Schauplätze, die nur selten in Büchern über jene Zeit eine Rolle spielen, dann die meiner Meinung nach sehr gelungene graphische Umsetzung und die bildhafte, teilweise poetische Sprache machen diese Buch zu etwas Besonderem – nicht zuletzt dank der hervorragenden Übersetzung von Saskia Drude. Der Titel "Sibiro Haiku" ist sehr treffend gewählt.


    Der Inhaltsangabe des Verlags ist nicht hinzuzufügen. Die Geschichte beginnt nur kurz vor der Deportation des 13-jährigen Algis Mielis und seiner Familie. Die Leser erleben mit, wie andere Familien mit den Wagen steigen müssen und die Zugfahrt ins Ungewisse beginnt. Fräulein Violeta, Algis‘ Lehrerin ist dabei und beschreibt die Situation so:


    „Die unzufriedene Masse, so sagte es Fräulein Violeta. Aufgeblasen, glatt, glitschig, von unbestimmter Form und Farbe. Meistens sind ein paar Sauertöpfe dabei, die ständig klagen und schimpfen. Sie sind dauernd unzufrieden und sehen nur die dunkle Seite des Mondes.

    Das Schlimme ist, dass jeder von uns irgendwann im Leben Teil dieser Masse ist. Sie haftet an uns wie eine Klette, und man wird die fast nicht wieder los.“


    Weder während der Reise noch später im Arbeitslager bemühen Frau Violeta und einige andere Deportierte sich sehr phantasievoll darum, nicht Teil dieser unzufriedenen Masse zu werden. Phantasie ist auch wichtig, um sich vorzustellen, wie nahr- und schmackhaft die tägliche Wassersuppe ist. Ein Chor wird gegründet, gegen den Widerstand einiger Mitbewohner und es wird Unterricht für die Kinder organisiert. Gemeinsam mit den Erwachsenen versuchen die Kinder auf fast jede nur erdenkliche Weise an Nahrung zu gelangen, sogar an sibirischen Honig, und finden in der Ferne auch neue Freunde.


    So vieles, das für Algis und erst recht heute für viele Menschen heute alltäglich ist, ein sauberes Bett, warme Kleidung, ausreichend Nahrung und Sicherheit, ist plötzlich ungewiss. Umgekehrt werden für die Lagerbewohner Schikanen, Ungewissheit und Hunger zum Alltag. All dies auf eine der Zielgruppe angemessene Weise dargestellt.


    Algis‘ Tante Petronella, eine leidenschaftliche Leserin und Büchersammlerin, will unbedingt mit den anderen deportiert werden. Es gelingt ihr, ein Buch mit Haiku ins Lager zu bringen, die immer wieder eine Rolle spielen und auch ihren Humor verliert sie nicht.


    Humor ist bitter nötig, denn Algis‘ erlebt mit, wie ihm nahestehende Menschen sterben, oft nicht zuletzt „dank“ völlig unnötiger Schikanen und das Schicksal des Vaters ist völlig ungewiss. Die traurige Miene seiner Schwester Dalia beschreibt Algis als „umgekehrtes Lächeln“, das dem Himmel zugewandt sei. Algis und einige andere flüchten oft in eine Phantasiewelt, in Erinnerungen. Die grauenvolle Situation ist ständig präsent, trotzdem gelingt es Jurga Vilè und Lina Itagaki, das Buch nicht völlig trostlos werden zu lassen.


    So vergehen Jahre, fern der Heimat und des Vaters:


    „Und wirklich, die Zeit ist elastisch“ Mal zieht sie sich zusammen, mal dehnt sie sich lang.“


    „Heiligabend. Die Zeit schlich dahin wie auf Watte. Nur am Heiligabend wurde das Jahr gezählt. Alles andere verblasste wie Buchstaben in einem alten Schreibheft.“


    Gelegentlich sind handgeschriebene Briefe eingefügt, die an verschiedene Verwandte geschickt werden und in denen Algis sich sehr bemüht, positiv und stark zu wirken, wobei auch deutlich wird, dass er sich durch das Schreiben noch mehr nach der alten Heimat und den vertrauten Menschen sehnt. Die Mischung aus liebevoll gezeichneter und zugleich oft ironischer Comic-Erzählung mit Sprechblasen, handgeschriebenen Briefen, (gezeichnete, an nachkolorierte Schwarzweißbilder erinnernde) Fotos und z.B. einer gezeichneten Origami-Anleitung ist perfekt gelungen und verdrängen so ein wenig den sehr düsteren Unterton.


    Die Übersetzung von Saskia Drude liest sich sehr flüssig, als ob man Algis und den anderen zuhören würde. Saskia Drude spart nicht mit Humor, wenn es z.B. um die Übersetzung der Namen einiger Bewacher geht.


    Fazit

    Eine Gruppe Litauer kämpft im sibirischen Arbeitslager in den 1940er Jahren gegen die Trostlosigkeit und um das eigene Überleben. Als reiner Text hätte das Buch auf mich nicht so intensiv gewirkt. Bei dieser Graphic Novel ergänzen sich (der ausgezeichnet übersetzte) Text und Bilder perfekt. Ein düsteres Kapitel der europäischen Geschichte, aus kindlicher Perspektive geschildert.


    Mit einer Altersempfehlung tue ich mich sehr schwer. Kommt stark auf das Vorwissen und die Phantasie an, denn die Grauen des Lagerlebens werden zwar meist nicht bildlich dargestellt, sind jedoch trotzdem sehr eindrücklich spürbar.


    ASIN/ISBN: 3907277031

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
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