Der 1. Dezember von Breumel
Weihnachtswahn
Ende August ging es los. Nichtsahnend rollte ich meinen Einkaufswagen in den Supermarkt und strebte auf die Backwaren zu, da sah ich sie. Eine Verkäuferin räumte sie in das Regal vor den Aufbackbrötchen: Christstollen. Die Kinder hatten noch Sommerferien, die Eisdielen hatten Hochkonjunktur und Rotwein wurde zu Sangria verarbeitet, aber in der Konzernzentrale hatte jemand beschlossen: Zeit für das Weihnachtsgeschäft!
Keine zwei Wochen standen sie im Saisonartikel-Regal: Lebkuchen, Dominosteine und Spekulatius. Direkt hinter dem Regal mit Einweggrills, Grillkohle und Sonnenschirmen. Nur die Hohlfiguren mussten noch warten, bei den aktuellen Temperaturen wären sie auf dem Heimweg geschmolzen. Schließlich war noch nicht einmal Mon Chérie aus der Sommerpause zurückgekehrt. Meine Freunde fingen an zu lästern: "Hast du das gesehen? Die fangen auch jedes Jahr früher an! Demnächst dann direkt nach Ostern?!?" Nur um mir danach zuzuflüstern: "Aber ich habe auch schon eine Packung Lebkuchen gekauft, die sind einfach zu lecker. Sind schon fast weg." Und sobald das Weihnachtsgebäck in den Läden war, war ich auch online nicht mehr vor Weihnachten sicher. In meinem Lieblingsforum erblickte der Thread "Der ultimative Weihnachts-Vorfreude-Thread 2021" das Licht der Welt, für alle, die sich mehr als drei Monate auf Weihnachten freuen wollten.
Ende September lagen dann die Lichterketten, Lichterschläuche und Figuren in den Regalen der Discounter. Aber nicht lange – inzwischen wusste man schließlich, wer erst kurz vorm Advent einkauft muss suchen, wenn er überhaupt noch etwas findet, und zahlt deutlich mehr. Daran hatte auch der Online-Handel nichts geändert - so ein beleuchtetes Rentier samt Schlitten passte halt nicht so leicht in einen Karton, da mussten die freien Versandkosten auf den Preis aufgeschlagen werden. Neue Weihnachtsdekoration fand Einzug in die Dachböden und Keller der Republik. Es wurde zwar jedes Jahr mehr, aber wer wollte schon die ganzen Kisten auf der Suche nach längst vorhandenem Stimmungsleuchter, Türstopperwichtel und Laternen durchsuchen? Weil faul sein will, zahlt. Eventuell wollte man auch mit dem aktuellen Trend gehen, immer nur rot, weiß und grün war schließlich langweilig. Oder war das dieses Jahr wieder in? Ich hatte keine Ahnung.
Im Oktober schließlich erblühten überall die Weihnachtsbäume. Möbelhäuser bauten ganze Weihnachtsmärkte auf, Kaufhäuser dekorierten ihre Abteilungen, Baumärkte räumten endgültig die Gasgrills weg und die Christbaumständer raus. Selbst Bekleidungsgeschäfte hatten mindestens einen Weihnachtsbaum stehen und dazu Adventskalender mit Pralinen und Gutscheinen, mehr oder weniger hässliche Weihnachtspullover, Hemden mit Rentieren oder Ho Ho Ho Aufdruck und dazu passende dicke Flauschsocken in grün und rot. Ich war von Weihnachten umzingelt. Sollte ich nachgeben? Neue Deko kaufen, die ich bis Ende November zwischenlagern musste (und dann hoffentlich nicht vergaß)? "Weißt du schon was du dir zu Weihnachten wünscht?" Die gefürchtete Frage, auf die ich wie meistens keine Antwort wusste, erklang am Telefon und auf WhatsApp, und von mir wurde erwartet sie auch meiner Familie zu stellen. "Wichteln wir wieder?" Ja, gerne, aber nicht unbedingt am Arbeitsplatz, im Sportverein, im Freundeskreis und noch im Forum.
Anfang November begann in den Discountern die "Genuss-Offensive". Hochwertig aussehende Spezialitäten wanderten in die Kühlregale und Gefriertruhen. Auch wenn es nicht bis Weihnachten haltbar war – man hatte sich ja in letzter Zeit nicht viel gegönnt und Essen gehen war dieses Jahr auch selten gewesen. Die Prozente in den Regalen nahmen sichtbar zu. Für jemanden mit zwei Jahre altem Glühwein im Keller – der Winter war auch nicht mehr was er mal war, Klimawandel und Glühwein vertrugen sich nicht sonderlich gut – keine große Versuchung, aber es blieb die Frage, ob Feiertage, drohender Lockdown und Alkoholexzesse eine gute Kombination waren… In den Buchläden begann die Zeit der Weihnachtsbücher: Weihnachten im kleinen Buchladen, der kleinen Bäckerei, auf der Insel, in den Bergen, in Schottland, an unbekannten Orten mit merkwürdigen Namen und Tieren, Verbrechen oder heißen Kerlen. Es wurde geliebt, gebacken und gemordet. Mit Katze, Kamin und Kuscheldecke. Dazu wurde der weihnachtliche Countdown verkauft, 24 Türchen mit wahlweise Schokolade, Pralinen, Tee, Konfitüren, Gewürzen, Spirituosen, Werkzeug, Spielwaren oder "sinnlichem Vergnügen für zwei". Was sich verkaufen ließ und klein genug war, passte auch in einen Adventskalender. Der konnte dann auch schon mal Handgepäcksformat haben. War es eigentlich Zufall dass in einem klassischen Bierkasten 24 Flaschen sind?
An St. Martin schließlich begannen die Vorgärten zu leuchten. Lichterketten wurden aufgehängt (oder einfach nur wieder eingeschaltet), die ersten Rentiere grasten in deutschen Vorgärten und Sterne blinkten an den Fenstern. Nur eine Übung für den Advent, aber selbst ich, immer noch nicht in Weihnachtsstimmung, musste zugeben, dass es schön aussah. Manch einer ließ die Beleuchtung dann einfach aktiv, auf Zeitschaltuhr bis Ende Januar. Aber die meisten Straßen wurden danach wieder dunkel. Am Sonntag vor dem ersten Advent war ja noch Totensonntag, woran mich meine Mutter erinnert hatte. Von alleine hätte ich es nicht gemerkt, stille Feiertage hielt ich für religiöse Zwangsmaßnahmen, aber wenn du in Rom bist… Adventskränze hüpften in die Einkaufswagen und wurden in den Garagen gelagert, um bis Weihnachten nicht kahl zu sein. Die Tiefkühltruhen und Keller füllten sich, Black Friday leerte die Konten und die Paketdienste verstopften die Straßen. "Last Christmas" feierte sein jährliches Comeback in den Radiosendern, und bei "Weihnachten in Stenkelfeld" musste auch ich breit grinsen. Die Weihnachtsmärkte wurden aufgebaut und die Laternen in den Innenstädten erhielten ihre Sterne, Glocken und Kerzen.
Dann kam das erste Adventswochenende. Die Vorgärten strahlten, jedes Jahr wurde die Stromrechnung ein wenig gesteigert. Die glühweinbeseelten Weihnachtsmarktbesucher torkelten selig lächelnd gen Heimat, wo Lebkuchen und "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel", wahlweise auch "Bad Santa" oder "Nightmare Before Christmas" auf sie warteten. In den Restaurants wurden die Firmenweihnachtsfeiern zelebriert. Nur meine Weihnachtsstimmung blieb immer noch aus.
Vor dem Haus traf ich auf Amelie, die Teenie-Tochter meiner Nachbarin. "Und, freust du dich schon auf deine Weihnachtsgeschenke?"
"Dieses Jahr wird es nicht viel geben. Papa war lange in Kurzarbeit und bei Mama war im Lockdown zu. Aber nächstes Wochenende backen wir alle zusammen Plätzchen. Da hilft sogar Papa mit. Und an Nikolaus gehe ich mit meiner kleinen Schwester zum Nikolausumzug, da freut sie sich schon die ganze Zeit drauf. Danach schauen wir zusammen Weihnachtsfilme. Weihnachten holen wir Oma aus dem Pflegeheim und feiern dann alle gemeinsam bei uns, mit Onkel und Tante und meinen Cousins und Cousinen. Am ersten Weihnachtsfeiertag besuchen wir die Geschwister von Papa, die wohnen ja weiter weg und wir sehen die nicht so oft. Bei denen liegt vielleicht sogar Schnee. Das sieht so toll aus! Besonders die Weihnachtsbeleuchtung, wenn es überall funkelt. Sogar der türkische Kiosk hier an der Ecke hat einen blinkenden Stern aufgehängt. Ich hoffe die Lichterketten bleiben noch lange hängen, dann ist es nicht so dunkel wenn die Sonne untergeht und die Stadt sieht einfach viel schöner aus. Und weil wir Ferien haben und Mama und Papa Urlaub bis Silvester können wir vielleicht Schlittschuhlaufen, oder wir gehen in den Wildpark oder spielen alle gemeinsam Monopoly!"
Ihre Augen leuchteten, und mit einem Mal fühlte ich mich beschämt. Ich hatte Weihnachten nur von der kommerziellen Seite betrachtet und dabei völlig aus den Augen verloren, was es wirklich bedeutete. Zum Glück hatten die Geister der Weihnacht mir Amelie vorbeigeschickt. Wärme erfüllte mich und ich betrachtete die Weihnachtsdekoration. Ich könnte den Stimmungsleuchter vom letzten Jahr wieder ins Fenster stellen, der sollte zu finden sein. Und den Engel welchen mir Mama zum Einzug geschenkt hatte. Ein paar Kerzen konnten auch nicht schaden. Und vielleicht würde der Nikolaus ja Kinokarten in den Briefkasten von Amelies Familie stecken…