Der Büchereulen-Adventskalender 2021

  • Der 1. Dezember von Breumel



    Weihnachtswahn


    Ende August ging es los. Nichtsahnend rollte ich meinen Einkaufswagen in den Supermarkt und strebte auf die Backwaren zu, da sah ich sie. Eine Verkäuferin räumte sie in das Regal vor den Aufbackbrötchen: Christstollen. Die Kinder hatten noch Sommerferien, die Eisdielen hatten Hochkonjunktur und Rotwein wurde zu Sangria verarbeitet, aber in der Konzernzentrale hatte jemand beschlossen: Zeit für das Weihnachtsgeschäft!


    Keine zwei Wochen standen sie im Saisonartikel-Regal: Lebkuchen, Dominosteine und Spekulatius. Direkt hinter dem Regal mit Einweggrills, Grillkohle und Sonnenschirmen. Nur die Hohlfiguren mussten noch warten, bei den aktuellen Temperaturen wären sie auf dem Heimweg geschmolzen. Schließlich war noch nicht einmal Mon Chérie aus der Sommerpause zurückgekehrt. Meine Freunde fingen an zu lästern: "Hast du das gesehen? Die fangen auch jedes Jahr früher an! Demnächst dann direkt nach Ostern?!?" Nur um mir danach zuzuflüstern: "Aber ich habe auch schon eine Packung Lebkuchen gekauft, die sind einfach zu lecker. Sind schon fast weg." Und sobald das Weihnachtsgebäck in den Läden war, war ich auch online nicht mehr vor Weihnachten sicher. In meinem Lieblingsforum erblickte der Thread "Der ultimative Weihnachts-Vorfreude-Thread 2021" das Licht der Welt, für alle, die sich mehr als drei Monate auf Weihnachten freuen wollten.


    Ende September lagen dann die Lichterketten, Lichterschläuche und Figuren in den Regalen der Discounter. Aber nicht lange – inzwischen wusste man schließlich, wer erst kurz vorm Advent einkauft muss suchen, wenn er überhaupt noch etwas findet, und zahlt deutlich mehr. Daran hatte auch der Online-Handel nichts geändert - so ein beleuchtetes Rentier samt Schlitten passte halt nicht so leicht in einen Karton, da mussten die freien Versandkosten auf den Preis aufgeschlagen werden. Neue Weihnachtsdekoration fand Einzug in die Dachböden und Keller der Republik. Es wurde zwar jedes Jahr mehr, aber wer wollte schon die ganzen Kisten auf der Suche nach längst vorhandenem Stimmungsleuchter, Türstopperwichtel und Laternen durchsuchen? Weil faul sein will, zahlt. Eventuell wollte man auch mit dem aktuellen Trend gehen, immer nur rot, weiß und grün war schließlich langweilig. Oder war das dieses Jahr wieder in? Ich hatte keine Ahnung.


    Im Oktober schließlich erblühten überall die Weihnachtsbäume. Möbelhäuser bauten ganze Weihnachtsmärkte auf, Kaufhäuser dekorierten ihre Abteilungen, Baumärkte räumten endgültig die Gasgrills weg und die Christbaumständer raus. Selbst Bekleidungsgeschäfte hatten mindestens einen Weihnachtsbaum stehen und dazu Adventskalender mit Pralinen und Gutscheinen, mehr oder weniger hässliche Weihnachtspullover, Hemden mit Rentieren oder Ho Ho Ho Aufdruck und dazu passende dicke Flauschsocken in grün und rot. Ich war von Weihnachten umzingelt. Sollte ich nachgeben? Neue Deko kaufen, die ich bis Ende November zwischenlagern musste (und dann hoffentlich nicht vergaß)? "Weißt du schon was du dir zu Weihnachten wünscht?" Die gefürchtete Frage, auf die ich wie meistens keine Antwort wusste, erklang am Telefon und auf WhatsApp, und von mir wurde erwartet sie auch meiner Familie zu stellen. "Wichteln wir wieder?" Ja, gerne, aber nicht unbedingt am Arbeitsplatz, im Sportverein, im Freundeskreis und noch im Forum.


    Anfang November begann in den Discountern die "Genuss-Offensive". Hochwertig aussehende Spezialitäten wanderten in die Kühlregale und Gefriertruhen. Auch wenn es nicht bis Weihnachten haltbar war – man hatte sich ja in letzter Zeit nicht viel gegönnt und Essen gehen war dieses Jahr auch selten gewesen. Die Prozente in den Regalen nahmen sichtbar zu. Für jemanden mit zwei Jahre altem Glühwein im Keller – der Winter war auch nicht mehr was er mal war, Klimawandel und Glühwein vertrugen sich nicht sonderlich gut – keine große Versuchung, aber es blieb die Frage, ob Feiertage, drohender Lockdown und Alkoholexzesse eine gute Kombination waren… In den Buchläden begann die Zeit der Weihnachtsbücher: Weihnachten im kleinen Buchladen, der kleinen Bäckerei, auf der Insel, in den Bergen, in Schottland, an unbekannten Orten mit merkwürdigen Namen und Tieren, Verbrechen oder heißen Kerlen. Es wurde geliebt, gebacken und gemordet. Mit Katze, Kamin und Kuscheldecke. Dazu wurde der weihnachtliche Countdown verkauft, 24 Türchen mit wahlweise Schokolade, Pralinen, Tee, Konfitüren, Gewürzen, Spirituosen, Werkzeug, Spielwaren oder "sinnlichem Vergnügen für zwei". Was sich verkaufen ließ und klein genug war, passte auch in einen Adventskalender. Der konnte dann auch schon mal Handgepäcksformat haben. War es eigentlich Zufall dass in einem klassischen Bierkasten 24 Flaschen sind?


    An St. Martin schließlich begannen die Vorgärten zu leuchten. Lichterketten wurden aufgehängt (oder einfach nur wieder eingeschaltet), die ersten Rentiere grasten in deutschen Vorgärten und Sterne blinkten an den Fenstern. Nur eine Übung für den Advent, aber selbst ich, immer noch nicht in Weihnachtsstimmung, musste zugeben, dass es schön aussah. Manch einer ließ die Beleuchtung dann einfach aktiv, auf Zeitschaltuhr bis Ende Januar. Aber die meisten Straßen wurden danach wieder dunkel. Am Sonntag vor dem ersten Advent war ja noch Totensonntag, woran mich meine Mutter erinnert hatte. Von alleine hätte ich es nicht gemerkt, stille Feiertage hielt ich für religiöse Zwangsmaßnahmen, aber wenn du in Rom bist… Adventskränze hüpften in die Einkaufswagen und wurden in den Garagen gelagert, um bis Weihnachten nicht kahl zu sein. Die Tiefkühltruhen und Keller füllten sich, Black Friday leerte die Konten und die Paketdienste verstopften die Straßen. "Last Christmas" feierte sein jährliches Comeback in den Radiosendern, und bei "Weihnachten in Stenkelfeld" musste auch ich breit grinsen. Die Weihnachtsmärkte wurden aufgebaut und die Laternen in den Innenstädten erhielten ihre Sterne, Glocken und Kerzen.


    Dann kam das erste Adventswochenende. Die Vorgärten strahlten, jedes Jahr wurde die Stromrechnung ein wenig gesteigert. Die glühweinbeseelten Weihnachtsmarktbesucher torkelten selig lächelnd gen Heimat, wo Lebkuchen und "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel", wahlweise auch "Bad Santa" oder "Nightmare Before Christmas" auf sie warteten. In den Restaurants wurden die Firmenweihnachtsfeiern zelebriert. Nur meine Weihnachtsstimmung blieb immer noch aus.


    Vor dem Haus traf ich auf Amelie, die Teenie-Tochter meiner Nachbarin. "Und, freust du dich schon auf deine Weihnachtsgeschenke?"

    "Dieses Jahr wird es nicht viel geben. Papa war lange in Kurzarbeit und bei Mama war im Lockdown zu. Aber nächstes Wochenende backen wir alle zusammen Plätzchen. Da hilft sogar Papa mit. Und an Nikolaus gehe ich mit meiner kleinen Schwester zum Nikolausumzug, da freut sie sich schon die ganze Zeit drauf. Danach schauen wir zusammen Weihnachtsfilme. Weihnachten holen wir Oma aus dem Pflegeheim und feiern dann alle gemeinsam bei uns, mit Onkel und Tante und meinen Cousins und Cousinen. Am ersten Weihnachtsfeiertag besuchen wir die Geschwister von Papa, die wohnen ja weiter weg und wir sehen die nicht so oft. Bei denen liegt vielleicht sogar Schnee. Das sieht so toll aus! Besonders die Weihnachtsbeleuchtung, wenn es überall funkelt. Sogar der türkische Kiosk hier an der Ecke hat einen blinkenden Stern aufgehängt. Ich hoffe die Lichterketten bleiben noch lange hängen, dann ist es nicht so dunkel wenn die Sonne untergeht und die Stadt sieht einfach viel schöner aus. Und weil wir Ferien haben und Mama und Papa Urlaub bis Silvester können wir vielleicht Schlittschuhlaufen, oder wir gehen in den Wildpark oder spielen alle gemeinsam Monopoly!"


    Ihre Augen leuchteten, und mit einem Mal fühlte ich mich beschämt. Ich hatte Weihnachten nur von der kommerziellen Seite betrachtet und dabei völlig aus den Augen verloren, was es wirklich bedeutete. Zum Glück hatten die Geister der Weihnacht mir Amelie vorbeigeschickt. Wärme erfüllte mich und ich betrachtete die Weihnachtsdekoration. Ich könnte den Stimmungsleuchter vom letzten Jahr wieder ins Fenster stellen, der sollte zu finden sein. Und den Engel welchen mir Mama zum Einzug geschenkt hatte. Ein paar Kerzen konnten auch nicht schaden. Und vielleicht würde der Nikolaus ja Kinokarten in den Briefkasten von Amelies Familie stecken…

  • Der 2. Dezember von Jeanette



    Weihnachtsmann gesucht

    Montag, 27. Dezember 2021


    Der Weihnachtsmann ließ sich erschöpft in seinen Lieblingssessel fallen. Gerade war er von seiner alljährlichen Weihnachtsreise in sein Hauptquartier am Nordpol zurückgekehrt. Die Strapazen der Geschenkeauslieferung machten ihm von Jahr zu Jahr mehr zu schaffen. In diesem Jahr war er zum ersten Mal vor lauter Erschöpfung am Steuer seines Rentierschlittens eingeschlafen. So etwas wäre ihm früher nie passiert! Der Weihnachtsmann beschloss, sich nach einem Nachfolger umzusehen und in den Ruhestand zu gehen.


    Dienstag, 28. Dezember 2021


    Der Weihnachtsmann saß an seinem mächtigen Eichenholzschreibtisch und versuchte, eine Stellenanzeige zu verfassen. Gar nicht so einfach, seinen komplexen Arbeitsalltag in ein paar Stichpunkten zu beschreiben! Der Mülleimer quoll über, der Papiervorrat ging zur Neige und der Füllstand seines Tintenfässchen war bedrohlich gesunken, bevor er endlich mit dem Ergebnis zufrieden war.


    Weihnachtsmann (m) gesucht

    Der Weihnachtsmann sucht zum nächstmöglichen Termin einen Nachfolger.

    Ihre Aufgaben:

    - Auswertung der eingegangenen Wunschlisten
    - Koordination und Überwachung der Geschenkeproduktion und -verpackung durch die Elfen
    - Weltweite Auslieferung der Weihnachtsgeschenke per Rentierschlitten

    Das sollten Sie mitbringen:

    - Bereitschaft, Ihren Wohnort an den Nordpol zu verlagern
    - Körperliche Merkmale: Mindestalter 60 Jahre, langer, weißer Bart, Kugelbauch, Bassstimme
    - Erfahrung in der Zusammenarbeit mit frechen Elfen und Rentieren
    - Rentierschlitten-Führerschein
    - Erfahrung im Entziffern von (insbesondere kindlichen) Handschriften
    - Bereitschaft, Dienstkleidung zu tragen (roter Mantel und Mütze mit weißem Fellbesatz)
    - Internationale Reisebereitschaft, insbesondere zur Weihnachtszeit
    - Zuverlässigkeit und Belastbarkeit auch in stressigen Situationen

    Der Weihnachtsmann betraute einen Elf mit der Aufgabe, die Stellenanzeige zu veröffentlichen und ging zufrieden in den Rentierstall, um seinen Lieblingen eine gute Nacht zu wünschen.


    Montag, 17. Januar 2022


    Der Weihnachtsmann betrachtete die riesigen Stapel Bewerbungsunterlagen, die sich auf dem Schreibtisch, sämtlichen Regalen, der Fensterbank, dem Fußboden und sogar seinem Lieblingssessel türmten. Er sollte endlich damit anfangen, die Unterlagen zu sichten. Vorsichtig bahnte er sich seinen Weg durch die Papierstapel zum Schreibtisch. Nicht vorsichtig genug, wie sich herausstellte, denn mit einem seiner schwarzen Stiefel stieß er gegen einen Stoß Briefe, der daraufhin umkippte. Der Dominoeffekt riss auch die umliegenden Stapel mit, sodass das Hauptquartier binnen Sekunden aussah, als hätte ein Schneesturm aus Briefen gewütet. Ein Umschlag blieb auf dem Schuh des Weihnachtsmanns liegen. Dieser nahm das als gutes Omen und hob ihn auf.


    Sehr geehrte Damen und Herren,

    Der Weihnachtsmann schnaubte. „Also bitte, hier gibt es doch keine Damen!“ Er beförderte die Bewerbung ins Kaminfeuer und hob den nächsten Umschlag auf.


    Dienstag, 18. Januar 2022


    Inzwischen hatte der Weihnachtsmann seinen Lieblingssessel freigeräumt, sodass er die Bewerbungen im Sitzen sichten konnte. Das regelmäßig mit aussortierten Briefen gefütterte Feuer loderte hell und verbreitete Gemütlichkeit. Der Weihnachtsmann fühlte sich optimistisch. Heute würde er seinen Nachfolger finden, nachdem er gestern nur Humbug zu lesen bekommen hatte.


    BEWERBUNG

    Sehr geehrter Herr Weihnachtsmann,

    mit Entsetzen habe ich Ihre Stellenanzeige gelesen.

    Der Weihnachtsmann stutzte und rückte seine Nickelbrille zurecht. Nein, ganz oben stand BESCHWERDE.


    Wie können Sie es wagen, die Stelle nur für männliche Kandidaten auszuschreiben und zudem körperliche Merkmale vorzugeben? Eine Frau könnte die Aufgaben schließlich ebenso gut erledigen. Das ist eine bodenlose Unverschämtheit! Ich erwäge, gerichtlich gegen Sie vorzugehen.

    Mit fassungslosen Grüßen

    Heidrun Schraupel-Schulz

    Der Weihnachtsmann schüttelte den Kopf. Ein weiblicher Weihnachtsmann? Manche Leute hatten seltsame Ideen.


    Mittwoch, 19. Januar 2022


    Nachdem er am Vortag zwar wieder eine unglaubliche Masse an Bewerbungen durchgesehen, aber immer noch keinen Nachfolger gefunden hatte, war der Weihnachtsmann zuversichtlich, heute zu dem entscheidenden Brief vorzustoßen. Inzwischen hatte er sich Gänge auf dem Fußboden freigeschaufelt, sodass er im Zimmer umherlaufen konnte, um die Keksteller zu erreichen, die die fürsorglichen Elfen überall verteilt hatten. Zufrieden kaute er auf einem Spekulatius herum und riss den nächsten Umschlag auf.


    Lieber Kollege Weihnachtsmann,

    du brauchst keinen Nachfolger. Ich schaffe die Auslieferung der Geschenke auch allein. Schließlich stehe ich für das christliche Fest, während du nur ein Marketing-Gag eines amerikanischen Getränkeherstellers bist. Spar dir also die Suche und genieße deinen Ruhestand.

    Liebe Grüße aus dem Himmelszelt

    das Christkind

    Eine Welt ohne Weihnachtsmann? Unvorstellbar! Es schmerzte den Weihnachtsmann, dass dieses hochnäsige Christkind seine Arbeit, in die er sein Leben lang sein Herzblut gesteckt hatte, als überflüssig abtat. Traurig aß der Weihnachtsmann sämtliche Keksteller in seiner Reichweite leer und starrte auf die Flammen im Kamin, die den Brief des Christkinds ebenso gierig verschlangen wie er seine Plätzchen.


    Donnerstag, 20. Januar 2022


    Der Weihnachtsmann hatte sich über Nacht von der Enttäuschung am Vortag erholt und ging mit frischem Elan ans Werk. Inzwischen war der Fußboden freigeräumt. Nur auf dem Schreibtisch, den Regalen und der Fensterbank türmten sich noch Briefe. Im Laufe des Tages beförderte er eine unpassende Bewerbung nach der anderen ins Kaminfeuer. Schließlich war es Abend geworden. Der Weihnachtsmann wollte mechanisch nach dem nächsten Umschlag greifen, doch seine Finger ertasteten nur das polierte Eichenholz seines Schreibtischs. Ungläubig sah er sich um. Es lag tatsächlich kein einziger Brief mehr im ganzen Zimmer. Er hatte alle nach und nach verbrannt. Jetzt saß er hier und hatte immer noch keinen Nachfolger gefunden. Was sollte er bloß tun? Frustriert ging er an den tuschelnden Elfen vorbei in sein Schlafzimmer.


    Freitag, 21. Januar 2022


    Als der Weihnachtsmann morgens sein leeres Arbeitszimmer betrat, kam es ihm kälter vor als sonst. Lag es an seiner Enttäuschung über die missglückte Suche nach einem Nachfolger? Nein, die behagliche Wärme des Feuers fehlte. Der Kamin war zwar sorgfältig von Asche gereinigt, aber es züngelten keine Flammen darin. Mit einem Fluch auf den Lippen machte der Weihnachtsmann einen Schritt in Richtung Tür, um den zuständigen Elfen den Marsch zu blasen, doch ein Geräusch lenkte ihn ab. Es klang wie das Getrappel von Rentierhufen!


    Der Weihnachtsmann ging ans Fenster, um nach dem Rechten zu sehen. Was er dort sah, entsetzte ihn zutiefst. Hoch am Himmel flogen seine Rentiere und zogen den Schlitten hinter sich her. Wie konnten sie ohne ihn ausfliegen? Das hatten sie noch nie getan! Das mit Geschenken beladene Gespann näherte sich dem Hauptquartier. Auf dem Kutschbock saß eine rot-weiße Gestalt und machte „HO-HO-HO!“ Entführte dieser Verbrecher gerade seine Lieblinge?


    Der Weihnachtsmann wollte das Fenster aufreißen, um seine Rentiere zu retten, doch ein Poltern ließ ihn herumfahren. Ein blaues Paket mit roter Schleife war im Kamin gelandet. „HO-HO-HO!“, ertönte es wieder. Dazwischen mischte sich ein vielstimmiges Kichern. Eine Gruppe sichtlich selbstzufriedener Elfen drängte sich an der Tür. Der Weihnachtsmann stemmte die Hände in die Hüften. „Fynn, was ist hier los?“, fragte er den Anführer mit seiner strengsten Stimme.


    Der rothaarige Elf konnte seine Freude kaum verbergen. „Chef, Sie brauchen keinen Nachfolger, wir haben alles im Griff, wie wir Ihnen gerade demonstriert haben. Wir steuern in Zukunft die Geschenkeauslieferung hier aus der Zentrale. Das ist viel moderner und effizienter. Die Details würden Sie eh nicht verstehen, aber in groben Zügen geht das so: Der Rentierschlitten fliegt ferngesteuert und eine Drohne wirft die Geschenke durch den Kamin. Die HO-HO-HO-Rufe für die passende Atmosphäre kommen vom Tonband und etwaige Beobachter sehen eine Schaufensterpuppe im Weihnachtsmann-Outfit auf dem Kutschbock sitzen. Genießen Sie Ihren Ruhestand, Chef.“

  • Der 3. Dezember von Sinela



    Die Chance


    Die Kobolde, die am runden Tisch saßen, ließen die Köpfe hängen. Die Standpauke, die ihnen ihr Chef gerade gehalten hatte, war nicht von schlechten Eltern gewesen. Dabei arbeiten sie schon Tag und Nacht, machten überhaupt keine Pause mehr, und trotzdem kamen sie mit der Arbeit nicht hinterher. Dabei bastelten, klebten, schnitzten und schnitten sie schon wie die Weltmeister, aber sie wurden und wurden einfach nicht fertig. Immer mehr Wünsche von den Menschenkindern trafen in der Werkstatt ein, es war ihnen ein Rätsel, wie sie das alles bis Weihnachten schaffen sollten. Und jetzt war ein weiteres Problem aufgetaucht – zwei Tage vor Heiligabend hatten sich vier der sechs Christkinder krankgemeldet! Das gab es auch noch nie! Wer sollte denn jetzt die Geschenke verteilen? Ach, was waren das noch für Zeiten, als ein Christkind alle Geschenke zu den Kindern bringen konnte. Die Kobolde seufzten, was für ein Schlamassel.

    »Ihr könnt gehen«, ließ sie der Chef wissen, was sie sich nicht zweimal sagen ließen. Schnell standen sie auf und rannten aus dem Raum. Nicht, dass er es sich doch noch anders überlegte. Als die Tür zugefallen war, wandte sich der Chef an die Engel, die alles aufmerksam verfolgt hatten.

    »Was machen wir jetzt?«

    Der kleinste der Engel, welcher Salavia hieß, zuckte mit den Schultern. »Ich bin überfragt. Alle verfügbaren Kobolde, Feen und Elfen sind bereits im Einsatz.«

    »Nicht alle«, meldete sich Aurelia. Sie betrachtete den allwissenden Monitor, auf dem ein kleines Zimmer mit einer Elfe zu sehen war, die eifrig häkelte.

    »Oh nein!«, riefen sofort alle anderen Engel im Chor, »nicht Luana!«

    Erstaunt fragte Padidi: »Warum denn nicht?«

    »Du bist noch nicht lange bei uns, deshalb kannst du das nicht wissen, aber Luana sitzt deshalb allein in diesem Raum, weil sie zwei linke Hände hat. Alles, was sie anfasst, endet in einem Chaos. Nicht mal stricken kann sie, alle paar Maschen verliert sie eine davon. Häkeln ist das einzige, das sie einigermaßen beherrscht, ohne das die Welt untergeht.«

    »Aber haben wir denn eine Wahl?« Murmur, einer der beiden männlichen Engel, schaute in die Runde. »Wir brauchen dringend noch jemanden, der die Geschenke verteilt, sonst werden einige Kinder nichts zu Weihnachten bekommen. Und das geht gar nicht!«

    Jetzt fingen alle Engel an zu reden, ein wildes Durcheinander an Stimmen, die aber alle den gleichen Tenor hatten – auf keinen Fall sollte Luana auf die Menschheit losgelassen werden.

    »Ruhe«, rief da der Chef. »Es kann nicht sein, dass Kinder unter dem Weihnachtsbaum weinen, weil sie keine Geschenke bekommen haben. Luana bekommt eine Chance, um sich zu bewähren. Nein, keine Widerrede, so wird es gemacht und Schluss!«


    »Ich hoffe, du enttäuschst mich nicht wie beim letzten Mal, ach, was sage ich, wie jedes Mal, wenn du eine Aufgabe übertragen bekommen hast.«

    »Nein, diesmal werde ich alles richtig machen, das verspreche ich!«

    Luana schaute ihren Chef mit leuchtenden Augen an. Sie konnte es noch gar nicht fassen, dass sie nicht mehr den ganzen Tag in diesem langweiligen Zimmer sitzen und häkeln musste. Sie konnte wieder hinaus in die Welt, durfte sogar den Zauber der Weihnacht verbreiten. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass sie die Möglichkeit haben würde als Christkind zu arbeiten. Das würde toll werden, sie …

    »Ich verlasse mich auf dich«, riss sie der Chef aus ihren Gedanken. »Geh jetzt in die Personalabteilung, sie werden dir einen Passierschein geben, danach gehst du in die Geschenkabteilung und anschließend zum Kartenservice, bei dem du deine Reiseroute bekommst. Und jetzt geh, die Zeit drängt!«

    Luana nickte ihrem Chef zu, drehte sich um und ging mit beschwingten Schritten zur Tür hinaus. Der Chef schaute ihr nachdenklich hinterher. Hoffentlich hatte er da keinen Fehler gemacht.


    Aber wider Erwarten enttäuschte Luana ihren Chef nicht. Pflichtbewusst klapperte sie die Stationen, die auf der Karte, die sie bekommen hatte, markiert waren, ab und brachte den dort lebenden Kindern ihre Geschenke. Die Engel, die sie an dem im Chefzimmer stehenden Monitor beobachten, waren sprachlos – das hatten sie wirklich nicht erwartet. Luana flog von Australien hinüber nach Afrika, alles klappte reibungslos. Am Heiligen Abend hatte die Elfe ihre Geschenke fast alle verteilt, nur noch einige Haushalte in Deutschland musste sie anfliegen, dann hatte sie ihre Aufgabe erledigt. Die Engel waren beruhigt, was sollte jetzt schon noch passieren? Sie ließen den Monitor Monitor sein und widmeten sich wieder ihren Aufgaben.


    Luana landete in einem großen dunklen Wald. Die Tannen waren über und über mit Schnee bedeckt und als die Elfe den Boden berührte, knirschte dieser unter ihren Füßen. Sie fing an zu zittern, ihr war schweinekalt. In Australien und Afrika war es sonnig und warm, der Aufenthalt dort war wie im Urlaub gewesen und jetzt das hier! Aber die letzten beiden Stationen würde sie auch noch bewältigen, sie würde sich von der Kälte nicht von ihrer Aufgabe abhalten lassen. Mit für eine Elfe großen raumgreifenden Schritten ging sie durch den Wald, streifte einen Tannenzweig, welcher sofort den auf ihm liegenden Schnee über sie ergoss.

    »He!«, rief Luana, schüttelte und rieb sich den Schnee von den Flügeln und dem Körper. Jetzt war sie auch noch nass, das durfte doch nicht wahr sein! Als sie den Waldrand erreichte, traf sie eine starke Windböe und sie fing wieder an zu zittern. ›Ich muss mich bewegen, sonst erfriere ich‹, dachte sie und setzte den Gedanken sofort in die Tat um. Die Elfe stapfte durch den tiefen Schnee und tatsächlich wurde ihr auch schnell warm dabei, aber dann frischte der eisige Wind wieder auf. Die Sterne standen klar und hell am Himmel, die Landschaft lag wie verzaubert darunter, doch Luana hatte keine Augen dafür. Sie ging immer weiter, aber ihre Schritte wurden kürzer, sie wurde immer kraftloser und war nahe daran aufzugeben, als sie den Lichtschein in nicht allzu weiter Entfernung vor sich sah. Sie blieb stehen und rieb sich die Augen. Schaute nochmal hin – da war ein Haus! Und wo ein Haus war, war es bestimmt warm! Jetzt gab es kein Halten mehr für die Elfe, von Hoffnung erfüllt mobilisierte sie ihre letzten Kräfte und ging so schnell es ihr möglich war weiter. Sie blieb hinter einem Baum in der Nähe des Gebäudes stehen, denn trotz ihrer Angst vor dem Erfrieren war ihr klar, dass die Menschen sie nicht sehen durften. Ein Blick genügte ihr aber, die Fenster waren dunkel, es schienen alle, die sich im Haus aufhielten, zu schlafen, nur vor dem Eingang brannte ein Licht. Luana lief dorthin und versuchte die Tür zu öffnen, aber sie war abgeschlossen. Sie ging einmal um das Haus herum, aber die Fenster waren alle zu. Sie war einen Blick nach oben – und hätte fast vor Erleichterung aufgeschrien, denn eines der Dachfenster war nur angelehnt. Luana trat ein paar Schritte zurück, bewegte ihre Flügel, aber das war gar nicht so leicht, denn sie waren schon ziemlich steif geworden in der Kälte. Aber dann hob sie doch ab und flog hinauf aufs Dach. Sie landete auf dem dort liegenden Schnee und rutschte weg! Panisch versuchte sie sich irgendwo festzuhalten, aber es gelang ihr nicht: inmitten einer großen weißen Wolke landete sie unsanft auf der Erde.


    In einem Zimmer im Obergeschoss des Hauses setzte sich die Frau in ihrem Bett auf. Was war das bloß für ein Geräusch gewesen?

    »Fred! Fred, wach auf, da ist jemand vor dem Haus!«

    »Lass mich in Ruhe weiterschlafen. Das war bestimmt nur eine Dachlawine. Wer sollte sich hier schon herumtreiben, das Haus liegt doch mitten im Nirgendwo.«

    Der Mann drehte sich um und schon kurze Zeit darauf ertönte sein zum Glück leises Schnarchen erneut. Seine Frau schüttelte nur den Kopf über ihren Helden. Aber wahrscheinlich hatte er recht, wer sollte sich hier in dieser eisigen Nacht schon herumtreiben. Sie legte sich ebenfalls wieder hin und war bald darauf wieder im Land der Träume.


    Luana hatte sich inzwischen vom Schnee befreit und startete einen neuen Versuch aufs Dach zu kommen. Und diesmal klappte es, sie fand einen sicheren Stand auf den jetzt von der weißen Pracht befreiten Ziegeln, öffnete das Fenster, kletterte hinein und lehnte es wieder an. Leider war es auf dem Dachboden auch nicht wirklich warm, weshalb sie diesen verließ und die Treppe nach unten schlich. Im Erdgeschoss angekommen öffnete die Tür, die ihrer Meinung nach ins Wohnzimmer führte, und schaute hinein. Sie jauchzte leise auf – da war ein Kamin. Und es brannte ein kleines Feuer darin. Schnell ging sie hinein und rannte dorthin. Die Flammen wärmten sie, ihren Rücken, ihren Bauch, ihre Brust und ihr Zittern ließ nach. Luana seufzte wohlig, hier würde sie eine Weile bleiben. Ihr Blick fiel auf den geschmückten Tannenbaum, der in einer Ecke des Zimmers stand. Ach du Schande, ihre Aufgabe, an die hatte sie ja gar nicht mehr gedacht! Allzu lange durfte sie deshalb nicht hierbleiben, sonst würde sie Ärger mit dem Chef bekommen. Aber ein paar Minuten waren bestimmt noch drin. Sie schaute sich weiter um. Auf dem Tisch stand eine Karaffe mit einem goldbraunen Getränk. Die Elfe merkte erst jetzt, wie durstig sie war. Sie ging hin, füllte ein ebenfalls dort stehendes Glas und trank. Sie keuchte, schnappte nach Luft, aber dann genoss sie es, wie die Flüssigkeit langsam ihre Kehle hinunterrann, um sich dann in ihrem Magen auszubreiten. Eine wohlige Wärme durchflutete sie, das tat ja so gut! Sie nahm einen weiteren Schluck, das schmeckte ja einfach nur lecker! Nach Früchten, die von Vanille ummantelt waren. Leicht süßlich, aber auch fruchtig, eine geniale Mischung! Schnell trank sie noch einen Schluck und ehe sie es sich versah, war das Glas leer. Jetzt war es Luana so warm, dass sie ihr Kleid auszog und es mit Schwung über den Tisch warf. Sie kicherte, wenn das ihr Chef sehen würde. Aber der war ja zum Glück weit weg, weshalb sie keinen Gedanken mehr an ihn verschwendete und sich das Glas noch einmal füllte.


    Im Zimmer von Luanas Chef standen indessen einige Engel vor dem allwissenden Monitor und schüttelten fassungslos den Kopf.

    »Was ist denn hier los? Habt ihr nichts zu tun?«

    Mit großen Schritten lief der Chef auf den Monitor zu, schaute hinein und traute seinen Augen nicht – Luana lag inzwischen total beschwipst vor dem Tisch auf dem Boden und schlief – in ihrer Unterwäsche! Und die letzten Geschenke hatte sie auch nicht verteilt!

    »Padini und Murmur, ihr fliegt sofort nach Deutschland und holt Luana umgehend hierher! Aurelia, du begleitest sie und bringst die Geschenke zu den Kindern, für die sie bestimmt sind.«

    Die genannten Engel nickten und liefen aus dem Zimmer. Der Chef indessen starrte weiter in den Monitor – die Elfe hatte ihn wieder einmal bitter enttäuscht.


    Während Aurelia mit den Geschenken davon flog, um sie zu den Kindern, die bestimmt schon auf sie warteten, zu bringen, betraten die beiden anderen Engel das Haus auf dem gleichen Weg wie Luana früher am Abend. Schnell huschten sie ins Erdgeschoss und betraten das Wohnzimmer. Padidi ging zu der am Boden liegenden Elfe und schüttelte sie leicht. Luana schlug die Augen auf und murmelte »hallo, was machst du denn hier?« Doch schon im nächsten Moment war sie hellwach und sprang auf. Geriet aber gleich ins Taumeln und hätte der Engel sie nicht festgehalten, wäre sie sofort wieder umgefallen. Murmur hatte inzwischen das Kleid der Elfe geholt und hielt es ihr hin.

    »Anziehen, aber sofort. Du bist wirklich eine Schande für uns alle.«

    Mit hochrotem Kopf nahm Luana ihr Kleid und streifte es sich über. Während sie noch betreten da stand, hatte Padidi das auf dem Tisch stehende gläserne Gefäß mit der goldbraunen Flüssigkeit entdeckt und da er ziemlich neugierig war, ging er hin, ergriff es und nippte vorsichtig an dem Getränk.

    »Meine Güte, das ist ja erstklassiger Single Malt-Whisky aus Schottland«, sagte er ergriffen. »Ganz eindeutig ein Glenmorangie.«

    Murmur ließ die Elfe los, ging zum Tisch, nahm Padidi die Karaffe aus der Hand und nahm einen großen Schluck. Sein Gesicht bekam einen völlig verklärten Ausdruck.

    »Das nenne ich mal einen Whisky«, sagte er und trank noch einmal.

    »Hey, gib her!«, rief Padidi und riss Murmur das Gefäß aus der Hand, um sich ebenfalls an dem köstlichen Getränk zu laben. Luana beobachtete mit großen Augen, wie die beiden Engel sich beim Trinken abwechselnd die Karaffe bis zum letzten Tropfen leerten. Murmur rülpste laut und wollte sie auf den Tisch stellen, da er diesen aber doppelt sah, fiel sie auf den Boden und zerbrach in viele Teile.

    »Ups, das wollte ich jetzt nicht«, lallte der Engel, beugte sich hinunter, um die Scherben aufzuheben, bekam dabei Übergewicht und knallte unsanft auf das Parkett. Padidi wankte in die Richtung, in der Murmur lag, um ihm zu helfen, verschätzte sich aber in der Entfernung, stolperte über den dort liegenden Engel, konnte sich noch einige Schritte lang aufrecht halten, bevor er in den Weihnachtsbaum fiel. Einige der daran befestigten Kugeln und Kerzen lösten sich und rollten quer durch den Raum. Murmur, der sich inzwischen wieder aufgerappelt hatte, trat auf eine der Kerzen, rutschte darauf aus, krachte mit dem Kopf voran an die Wand und fiel bewusstlos um. Luana hatte das Spektakel mit offenem Mund verfolgt. Das würde Ärger geben, mächtigen Ärger sogar, dessen war sie sich sicher.


    Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und das Ehepaar, das im Obergeschoss geschlafen hatte, stand im Eingang des Wohnzimmers. Fassungslos sahen sie auf das dort herrschende Chaos. Sie trauten beide ihren Augen nicht – Engel und eine Elfe, in ihrem Wohnzimmer? Langsam gingen sie hinein, während Luana genauso langsam Schritt für Schritt vor ihren zurückwich. Wie sollte sie nur aus dieser Nummer wieder rauskommen?

    »Was ist denn hier los? Was soll diese Maskerade?«, fragte der Mann, der dazu all seinen Mut zusammen genommen hatte. »Seid ihr alle besoffen, oder was?«

    Jetzt konnte die Elfe nicht mehr an sich halten und lachte los. Sie lachte, bis ihr die Tränen kamen.

    »Das könnte man so sagen, ja«, japste sie. »Aber keine Sorge, alles ist in Ordnung, wir sind gleich wieder weg. Das ist alles nur … «

    Ein helles Licht erfüllte den Raum, blendete und lähmte die Menschen durch sein Erscheinen. Sie blieben stocksteif stehen, konnten sich nicht mehr bewegen. Das Licht erlosch und der Chef stand direkt vor ihnen. Er legte den Menschen die Hände auf die Köpfe, worauf sie sich umdrehten und das Zimmer wie Schlafwandler verließen.

    »Sie werden morgen nichts mehr von all dem wissen, werden es für einen Traum halten«, sagte der Chef zu Luana, welche nicht wagte, ihn anzuschauen. Der Chef ging zu seinen Engeln, schnipste mit den Fingern, worauf sich die beiden wie von Geisterhand erhoben und zu schweben begannen.

    »Komm her«, sagte er zu Luana, die dem Befehl sofort folgte. Als alle eng beieinander waren, begann das Licht wieder hell zu leuchten. Als es verblasste war niemand mehr im Zimmer, alles stand wieder an Ort und Stelle, selbst die Karaffe war wieder mit Single Malt-Whisky gefüllt.


    »Du bist wirklich eine Schande für alle himmlischen Wesen!«

    Luana zog den Kopf ein, so zornig hatte sie den Chef noch nie erlebt. Und dabei war er ja schon öfter sauer auf sie gewesen.

    »Und ihr« – der Chef drehte sich zu Murmur und Padini um – »ihr seid keinen Jota besser! Wie konntet ihr nur?!?«

    »Dieser Whisky schmeckte so gut und wir hatten schon so lange keinen mehr getrunken, außerdem … «

    »Schluss, kein Wort mehr! Ihr werdet die nächsten Wochen und Monate, vielleicht ja auch Jahre, da muss ich noch drüber nachdenken, also ihr werdet das Archiv wieder auf Vordermann bringen.«

    Entsetzt sahen sich die beiden Engel an. Im Archiv war es dunkel, staubig und vor allen Dingen furchtbar langweilig.

    »Chef, könntest du nicht …«

    »Raus, verschwindet, bevor ich es mir noch anderes überlege! Mit dieser Strafe kommt ihr mehr als glimpflich davon.«

    Murmur und Padini gingen mit hängenden Köpfen und schlapp herunterhängenden Flügeln aus dem Raum.

    »Du!«, wandte sich der Chef wieder an Luana, »du wirst für den Rest deines Lebens in dem kleinen Zimmer, aus dem ich dich in meiner Barmherzigkeit herausgeholt habe, bleiben. Und häkeln bis dir die Finger qualmen!«

    Entsetzt schaute die Elfe ihren Chef an. Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Doch sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel an seinen Worten. Luana wischte sich einige Tränen aus den Augen, erhob sich und verließ wortlos den Raum, um zu ihrer neuen alten Bleibe zu gehen.


    Luana saß in dem Sessel, den man ihr anstelle des unbequemen Stuhls gnädigerweise in das Zimmer gestellt hatte. Sie häkelte und ließ dabei ihr Erlebnis Revue passieren. Am Anfang lief ja wirklich alles sehr gut und sie lächelte, als sie an ihre Reise und den Aufenthalt in Australien und Afrika dachte. Als sie an den Abschluss ihres Ausflugs dachte, an den Abend in Deutschland, da musste sie sogar herzhaft lachen. Zu schade, dass es hier oben keinen Single Malt-Whisky gab, vielleicht würde der Chef dann ja etwas lockerer. Sie könnten ihm ja eine Flasche davon zum nächsten Weihnachtsfest schenken. Ja, der Gedanke gefiel Luana. Sie nahm sich vor, darüber bei Gelegenheit mit Murmur und Padini zu sprechen. Vielleicht würde der Chef sie ja alle begnadigen, wenn er von ihnen einen Glenmorangie bekam und er ein wenig von dem köstlichen Getränk intus hatte. Nur wie sie es schaffen sollte, mit den beiden Engeln in Kontakt zu treten, um ihnen diese Idee mitzuteilen, da würde sie noch drüber nachdenken müssen. Aber das hatte ja Zeit, bis zum nächsten Heiligen Abend war es ja noch etwas hin. Luana verbannte die Gedanken an den Whisky aus ihrem Kopf und konzentrierte sich wieder auf das Häkeln.

  • Der 4. Dezember von Marlowe

    Kasimir und seine Besucher Teil 1



    Ich liebe den Samstag. Es ist der erste Tag vom Wochenende, man kann shoppen gehen ohne jeden Stress, sich den Tag einteilen wie man eben möchte. Und diesen Samstag liebte ich erst recht, es war immerhin schon der vierte Dezember, also nur noch 20 Tage bis Heilig Abend.

    Gerade wollte ich diese fantastische Erkenntnis meinem Wichtel Kasimir mitteilen, als mir die Stille im Haus auffiel. Ich hatte Kasimir den ganzen Morgen noch nicht gesehen, wo steckte der Lümmel also?

    Wenn es so ruhig ist, dass man gar nichts von ihm hört, ist das meistens ein Anzeichen von einem schlechten Gewissen seinerseits. Ich ging zur Wand gegenüber, hockte mich vor die Wichteltür und klopfte sachte.

    „Kasimir,“ rief ich und klopfte nochmals. Keine Reaktion. Wo steckte er nur?

    Plötzlich klopfte es an meiner Terrassentür. Ich schaute zur Tür, aber da war niemand. Nur ein paar Zweige lagen vor der Tür, anscheinend vom Wind dorthin getragen.

    Ich rief wieder: „Kasimir!“ und klopfte nochmals. Es klopfte wieder an der Terrassentür.

    Ich stand auf und sah genauer hin.

    Da stand nicht nur ein Wichtel vor meiner Türe, nein, es waren zwei und dann noch eine kleine weibliche Gestalt, aber ohne Wichtelmütze.

    Ein seltsamer Anblick, drei Winzlinge, die mehrere Zweige an Seilen hinter sich hergeschleppt hatten und nun vor der verschlossenen Türe standen.

    „Nun mach schon auf,“rief Kasimir, „es ist kalt hier draußen!“

    Verwundert öffnete ich die Türe und die drei versuchten die Zweige ins Zimmer zu hieven.

    „Was soll das werden,“ fragte ich und erbarmte mich, indem ich mich bückte und die Zweige hochhob, nun baumelten die drei Gestalten an ihren Seilen und ich legte sie schnell aber vorsichtig auf den Boden.

    Kasimir schaute mich vorwurfsvoll an. „Wir wollten Dir eine Freude machen, aber Du...!“

    „Langsam, wer ist wir?“

    Kasimir stemmte seine Ärmchen in die Hüften. „Na, meine Besucher und ich. Darf ich vorstellen, das hier ist die liebe Dorlefee, Du weißt schon, die nette Fee, die vor Jahren die Eisvögel vom Weihnachtsmann fliegen ließ.“ Sie winkte mir zu.

    „Und weswegen Du fluchtartig das Nordpolweihnachtsquartier verlassen musstest,“ sagte ich.

    Kasimir nickte. „Genau, aber wir hatten es ja nur gut gemeint. Wie auch immer, das hier ist Frederic von Hicksenstein, ein guter Freund von Dorlefee und mir. Die beiden besuchen mich und wir dachten uns, es wäre eine gute Idee, dir ein paar Zweige als Deko ins Zimmer zu stellen. Außerdem.“ Ich unterbrach ihn lächelnd. „So ein paar entlaubte Zweige sind aber keine besonders schöne Dekoration.“

    Kaismir sah mich entrüstet an. „Das sind doch ganz besondere Zweige, das sind Barbarazweige!“

    „Aha, Barbarazweige also, und für was soll das gut sein?“

    Dorlefee schwebte jetzt hoch bis sie mir in die Augen sehen konnte. „Die Zweige bringen Dir Glück, wenn Sie Weihnachten blühen. Das ist ein alter Brauch. Normalerweise nimmt man Kirschzweige, aber wir haben Dir auch einen Ginsterzweig und einen Forsythienzweig mitgebracht.“

    Frederic von Hicksenstein musste nun auch seinen Senf dazugeben. „Forsythien sind fast schon eine Blühgarantie. Bei den anderen ist das so eine Sache, denn die Zweige müssen den ersten Frost gespürt haben, sonst klappt das nicht.“

    „Richtig,“ bestätigte Kasimir, „und wir müssen sie erst langsam an die Wärme gewöhnen, also sollten wir sie erst mal in ein kühleres Zimmer bringen. Und nicht vergessen, das Wasser muss immer wieder mal erneuert werden.“


    So belehrt holte ich eine Vase, steckte die Zweige hinein und meinte dann: „Kommt mit in die Küche, wir frühstücken jetzt erst mal.“

    Ein tolles Quartett gaben wir ab. Zwei Wichtel, eine Fee und ich, meine kleinen Besucher tranken Tee aus Tassen die zu einem Puppenhaus gehörten, knabberten Kekse und ich trank meinen Morgenkaffee und aß einen Marmeladentoast.


    „Ist das ein Überraschungsbesuch oder gibt es einen besonderen Grund,“ fragte ich neugierig, denn normalerweise hätte mir Kasimir vorher Bescheid gesagt.


    „Das ist so,“ antwortete Frederic, der übrigens eher wie ein kleiner Musketier mit Wichtelmütze gekleidet war und zudem einen winzigen Degen trug, „Dorlefee und ich waren im Weihnachtsland und haben eine Party mit den Trollen und anderen Wichteln gefeiert. Da ging es wohl ein wenig heftig zu und zur Strafe mussten wir alle die Lagerräume putzen und sauber machen, aber Dorlefee und ich sollten dann auch noch die Rentierställe säubern. Und das geht nicht, das ist unwürdig. Dafür sind die Trolle da.“

    Ich sah Dorlefee an. „Aber Du kannst doch Wünsche erfüllen, wäre doch eine Kleinigkeit gewesen, sich die Ställe sauber zu wünschen.“


    „Das ist nicht erlaubt, wenn es sich um eine Strafe handelt, muss man das machen. Aber es war ungerecht, deshalb sind wir geflohen, sozusagen.“


    „Geflohen, aha, interessant. Werdet Ihr jetzt gesucht oder wie geht es weiter?“ Ich sah schon die Weihnachtspolizei mit Polizeirentieren mit Blaulicht auf dem Kopf vor der Türe stehen.


    Dorlefee kicherte. „Klar werden sie uns suchen. Aber sie werden sehr nett zu uns sein. Wir haben uns abgesichert.“


    Ich war fassungslos. Bonnie und Clyde aus dem Weihnachtsland waren bei mir untergetaucht. Kasimir sah mich an und grinste. „Lustig, das wird bestimmt ein schönes Wochenende.“


    Er spielt mit einer kleinen Schachtel mit einer goldenen Werbeschrift “OOHOHOHOH“, was immer das bedeuten sollte. Ich war nicht neugierig, hätte es aber sein sollen.


    Ich stand auf und meinte nur: „Ich gehe jetzt mal einkaufen und ihr macht bitte keinen Unsinn. „Ach Dorlefee, Du kannst wirklich Wünsche erfüllen?“


    „Na klar, einen Wunsch hast Du jetzt frei, weil wir Deine Gäste sein dürfen.“ Sie schnippste mit den Fingern. „Danke schön,“ sagte ich und wünschte mir was. Es klingelte an der Haustür. „Das ging ja schnell,“ meinte ich, „ich bin dann mal weg.“


    Ich ging zur Tür und tatsächlich, da stand Helene Fischer vor mir. „Sorry,“ sagte sie, ich bin noch ganz atemlos, ich suche einen Herrn Salzmann, ich habe die Hausnummer vergessen, ich muss ihm ein Ständchen singen.“


    „Kein Problem,“ ich lächelte sie an, „gleich das Haus gegenüber, der wird sich aber freuen.“ Sie japste nach Luft, eilte über die Straße und klingelte dort.


    Ich machte, dass ich wegkam. Salzmann hasste die deutschen Schlager und vor allem Helene Fischer. Aber er spielte sehr oft sehr laut Metallica um mich zu ärgern. So eine Fee im Haus war wirklich eine gute Sache. Ich vergaß die Absicherung, von der Dorlefee gesprochen hatte und konzentrierte mich auf meine Einkäufe.


    Als ich zurück kam, lag ein Zettel auf dem Tisch. “Sind Freunde besuchen, bis morgen“ stand darauf. Also gut, dann erfahre ich eben morgen, was die Absicherung der Beiden war. (Und die Eulen natürlich auch)

  • Der 5. Dezember von Marlowe


    Kasimir und seine Besucher Teil 2



    Am Sonntag bleibe ich grundsätzlich lange im Bett, dafür ist der Sonntag schließlich da. Gegen Mittag schlurfte ich dann in die Küche, machte mir einen starken Kaffee und hörte ein wenig Radio. Ein Nachrichtensprecher meldete, dass Helene Fischer von der Polizei am Vorabend wegen Ruhestörung kurzfristig festgenommen worden war.

    Das hatte ich nicht gewollt, war aber nun nicht mehr zu ändern. Immerhin, so dachte ich mir, hatte sie dadurch wieder ein paar Schlagzeilen.

    In der Nacht hatte es zu schneien begonnen und immer noch rieselten Schneeflocken vom Himmel. Draußen im Garten tobten die Wichtel mit Dorlefee herum, bewarfen sich mit winzigen Schneebällen und lachten um die Wette.

    So verging der Nachmittag ganz stressfrei und endlich saßen sie vor der Wichteltür in bequemen Sesselchen, schlürften heiße Schokolade und ich hatte endlich Gelegenheit, mich wieder mit ihnen zu unterhalten.

    „Also,“ fing ich an, „nun erzählt mal, wie soll das nun weitergehen?“

    Frederic druckste herum. „Ja nun, darüber haben wir auch noch nicht nachgedacht, wir sind ja sehr überstürzt abgereist. Aber der Weihnachtsmann wird bestimmt jemanden schicken, denn wir haben ihm einen Zettel geschrieben, dass wir seine Bestrafung als zu hart und ungerecht empfinden und er uns nicht mal hat erklären lassen, was genau passiert ist. Er hat sich seit einem Jahr so verändert, ist dauernd schlecht gelaunt, schreit alle an und nichts kann man ihm Recht machen. Also haben wir beschlossen, einfach abzuhauen und dabei haben wir Zumbur, dem Obertroll, die Schachtel hier abgenommen, die braucht der Weihnachtsmann nämlich dringend.“

    Frederic zeigte auf die „Oh-oh-Schachtel“ und grinste schelmisch.

    Was ist denn da drin?“ fragte ich neugierig.

    „Die Weihnachtsstimme vom Weihnachtsmann,“ kicherte Dorlefee.

    „Um Himmels Willen, Ihr habt dem Weihnachtsmann seine Stimme gestohlen?“ Ich war entsetzt. „Oh oh, steht da drauf, was bedeutet das?“

    Kasimir mischte sich nun ein. „Nicht oh oh,“ er drehte die Schachtel um, „Ho ho ho hoo steht da, der Ruf des Weihnachtsmannes um die Rentiere anzutreiben, zum Beispiel.“

    „Und wieso hatte der Obertroll die Schachtel?“

    „Du weißt doch, letztes Jahr war der Weihnachtsmann von Zumbur mit dem Baseballschläger auf dem Kopf gehauen worden, da haben die Trolle Fridolar samt Weihnachtsmann nach Bayern gebracht und hier den Zwischenstopp eingelegt. Damit Zumbur die Rentiere lenken konnte, brauchte er die Weihnachtsstimme in der Schachtel. Er hat sie nur leicht geöffnet, das reichte schon und er konnte mit dem Ho Ho Ho Hoo die Rentiere täuschen. So funktioniert Magie.“

    Es klingelte an der Haustür. Neugierig ging ich schnell hin. Ich erwartete heute niemanden und Helene Fischer konnte es diesmal nicht sein.


    Vor der Tür stand der Weihnachtsmann, mit ziemlich finsterer Miene. Neben ihm eine wunderschöne Frau, mit einer winzigen Krone im Haar. Wer mit einem Wichtel zusammen wohnt, wundert sich über nichts mehr.


    „Ich bin der Weihnachtsmann, das hier ist Melina, die Feenkönigin. Wir wollen zu Frederic und Dorlefee.“ Er flüsterte das sehr heiser, drückte mich zur Seite und stapfte schnurstracks ins Wohnzimmer, gefolgt von einer dahin schwebenden Melina, die mich entschuldigend anlächelte. Doch hinter ihr schlüpfte auch noch ein Troll ins Haus. Den erkannte ich sofort wieder, Zumbur, der Obertroll. Seine sehr spitzen Ohren, die Knollennase und dazu die braune Lederkappe. So einen Anblick vergisst man nicht.


    Im Wohnzimmer bot sich ein seltsames Bild. Auf der Terrasse standen drei Trolle als Wachen vor der jetzt geöffneten Tür, damit die beiden Gesuchten nicht fliehen konnten. Die Wichtel und Dorlefee standen vor der Wichteltür, blickten mal nach links, dann nach rechts und dann zu mir.


    Zumbur stand ganz nah bei Frederic und starrte böse auf ihn herab, knurrte bedrohlich und versuchte dann, Frederic mit seinem Fuß zu stupsen. Der ließ sich das nicht gefallen, sprang zur Seite, zog seinen Degen und stach Zumbur kräftig mitten in die Zehenspitze.


    Mit einem Schmerzensschrei sprang Zumbur rückwärts, prallte in den Weihnachtsmann, klammerte sich an dessen Schenkel und beide fielen mit einem Plumps zu Boden.


    Bevor es noch schlimmer wurde, packte ich Zumbur und stellte ihn vor seine drei finster schauenden Gesellen auf die Terrasse.


    „Da bleibst Du stehen, ich habe Dich nicht eingeladen,“ sagte ich. Dann half ich dem Weihnachtsmann wieder auf die Füße und meinte: „Könnten wir uns darauf einigen, dass es hier jetzt etwas friedlicher zugeht!“


    Der nickte nur. „Frederic, Dorlefee, seid so nett und gebt dem Weihnachtsmann seine Stimme wieder.“ Dorlefee nahm die Schachtel und flog mit ihr zum Weihnachtsmann. Der nahm sie, öffnete sie kurz und räusperte sich dann.


    „Danke,“ sagte er, räusperte sich noch einmal und fragte dann, nun wieder mit normaler Stimme: „Wieso habt ihr meine Weihnachtsstimme gestohlen, war das nötig?“


    „Moment, Weihnachtsmann!“ Ich mischte mich wieder ein. „Die beiden haben mir alles erzählt. Zumbur hat die Schachtel gestohlen und sie haben sie ihm wieder weggenommen, bevor sie vor der zu harten Bestrafung, von wegen Rentierställe sauber machen, zu Kasimir geflohen sind.“


    Melina, die Feenkönigin, machte eine Handbewegung in Richtung der Trolle, die wohl beabsichtigt hatten, ins Wohnzihammer zu springen. Nun standen sie stumm und steif vor der Tür. Ihre Augen funkelten böse.

    „Dorlefee, was genau ist geschehen, bitte erzähle es mir.“


    „Ja, Melina, also das war so. Als ich von den Gnomen in die Düsterwelt entführt wurde, hatte ich schon jede Hoffnung aufgegeben, dort jemals wieder wegzukommen. Doch plötzlich kam Frederic von Hicksenstein und hat mich befreit und wir sind wochenlang durch die Düsterwelt geirrt, immer auf der Flucht vor den düsteren Wesen, bis wir endlich den Ausgang in die Freiheit fanden.

    Du hast mir Erholungsurlaub im Weihnachtsland verordnet und als wir dort ankamen, meinte Frederic, das wäre doch nun ein guter Anlass für eine schöne Feier. Also haben wir eine Freudenparty veranstaltet, die dann leider etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Aber die Trolle haben heimlich viel Schnaps in die Fruchtbowle gegossen und als wir das merkten, war es schon zu spät. Der Weihnachtsmann hat getobt vor Wut und so kam es zu der Bestrafung, er hat uns keine Gelegenheit gegeben, uns zu verteidigen.“

    „Genau,“ rief Frederic, „seit einem Jahr kann man mit dem Weihnachtsmann nicht mehr reden, er brüllt und schimpft und behandelt uns wie Sklaven!“

    „Vielleicht ist daran ja auch Zumbur schuld,“ sagte ich, „schließlich hat er dem Weihnachtsmann voriges Jahr ein paar Mal mit einem Baseballschläger auf den Kopf gehauen.“

    „Zumbur rief laut: „Das ist überhaupt nicht wahr!“ „Ist es doch,“ widersprach ich, „ich habe es selber gesehen und ich kann es sogar beweisen, denn die Außenkamera hat es aufgezeichnet. Weihnachtsmann, wollen Sie es sehen?“ Natürlich wollte er das


    „Armer Weihnachtsmann,“ bemitleidete Melina ihn danach, „das war ja schrecklich brutal, was Zumbur Dir angetan hat. Warte mal.“ Sie legte ihre beiden Hände an die Schläfen des Weihnachtsmannes und sang eine leise Melodie. „So, ich denke, jetzt wird es Dir besser gehen.“

    Der Weihnachtsmann setzte sich in einen Sessel, dachte kurz nach, nickte ein paar mal und stand wieder auf. „Danke, Melina. Ich hätte wohl schon früher auf Deine Heilkraft vertrauen sollen. Ich sehe jetzt ein, dass ich wohl ganz schlimm traumatisiert und deshalb sehr ungerecht in den letzten Monaten war. Das tut mir wirklich leid und ich werde das wieder gutmachen. Zumbur, Du und Deine Begleiter, Ihr werdet jetzt zu Fuß ins Weihnachtsland zurückkehren. Wenn ihr dort ankommt, werde ich Euch mitteilen, wie ich Euch für Eure Untaten bestrafen werde. Verschwindet jetzt, ich will Euch eine Weile lang nicht mehr sehen.“


    Die Trolle sprangen von der Terrasse und verschwanden in die Dunkelheit. „Wie ich schon sagte,“ fuhr er dann fort, „ich bedaure das alles sehr, wir würden gerne jetzt länger bleiben und uns aussprechen, nicht wahr Melina, aber die Pflicht ruft, die Kinder und Erwachsenen überall warten auf mich. Kommt am zweiten Weihnachtstag ins Weihnachtsland, dann haben wir Ruhe und feiern ein richtiges Weihnachtslandfest. Ich nehme an, die beiden können solange als Ihre Gäste hierbleiben, Herr Marlowe?“


    „Selbstverständlich,“ sagte ich, „ich freue mich sogar darüber.“ Melina kam zu mir, drückte mir eine kleine goldene Schachtel in die Hand und sagte: „Danke, in der Schachtel ist ein Wunsch, den Sie jederzeit nutzen dürfen. Aber bitte nicht mehr Helene Fischer ärgern.“

    Sie umarmte mich, dann winkte sie den Wichteln und Dorlefee zu, packte den Weihnachtsmann am Arm und schwups, waren sie weg.


    „Das war aufregend,“ meinte ich, „aber ist ja alles gut gegangen. Wisst Ihr was, jetzt machen wir es uns gemütlich und dann erzählt ihr mir von Euren Abenteuern im Düsterland.“


    Und sie erzählten und erzählten, ich hörte gebannt zu und staunte, was in der magischen Zauberwelt alles möglich war. Irgendwann werde ich es Euch vielleicht auch erzählen.



  • Der 6. Dezember von Sinela



    Nomen est omen


    Es war einmal vor langer langer Zeit – wobei, so lange ist es eigentlich noch gar nicht her. Und ein Märchen ist es eigentlich auch nicht, obwohl – irgendwie schon, aber urteilt selbst.


    Der Nikolaustag im Jahre des Herrn 1995 war ein grauer und kalter Tag. Nicht so kalt, als dass es schneien würde, aber doch nahe dran. Vielleicht in der Nacht, wer weiß, aber jetzt, am Nachmittag, nieselte es leicht. Die Menschen in der Stadt eilten von Geschäft zu Geschäft, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen; viele waren es allerdings nicht, die meisten blieben lieber zuhause in der warmen Stube und tranken einen Tee. Oder war es vielleicht doch eher etwas Alkoholisches? Herr Laus war es ebenfalls nach einem hochprozentigen Drink, aber im Krankenhaus, in dem er den Flur auf und ab tigerte, gab es leider nichts dergleichen. Eigentlich hatte er ja seiner Frau beistehen wollen, aber das viele Blut, ihre Schreie, nein, das war nichts für seines Vaters Sohn. Ihm war schlecht geworden, dazu schwindelig, die Krankenschwester hatte ihn schnell am Arm genommen und nach draußen zu einem Stuhl geführt, auf den er sich setzen sollte. Was er auch gemacht hatte, seine wackeligen Knie hätten ihn keinen Schritt weiter tragen können. Das war jetzt allerdings schon zwei Stunden her, es ging ihm wieder gut. Zumindest vom Kreislauf und dem Magen her, aber seine Nervosität konnte ihm keiner nehmen. Er hörte die Schreie seiner Frau, immer lauter und öfter drangen sie aus dem Raum am Ende des Flurs. Er müsste jetzt da drin sein, aber er konnte nicht! Er hatte es versucht, aber ihm war der Schweiß ausgebrochen, kaum dass er die Hand auf die Klinke gelegt hatte. Was war er doch für ein Weichei! Seine Frau musste starke Schmerzen erdulden und er war nicht einmal fähig, in diesen Raum zu gehen!

    »Herr Laus!«, rief da jemand seinen Namen. Der Mann drehte ich um und sah die Krankenschwester, die ihn vorher nach draußen geführt hatte, auf dem Flur stehen.

    »Ich gratuliere, Sie sind Vater eines gesunden Jungen geworden!«

    Herr Laus wuchs um einige Zentimeter; er fing an zu strahlen und lief mit schnellen Schritten zu der Schwester. Diese trat beiseite und der frisch gebackene Vater konnte eine Blick auf seine Frau werfen, die völlig erledigt, aber mit einem glücklichen Lächeln, in dem Bett lag. Sie schaute zärtlich auf das kleine Bündel hinab, das sie im Arm hielt.

    »Ist er das? Mein Sohn?«, stammelte Herr Laus, der sich nicht hinein traute und deshalb immer noch im Türrahmen stand. Frau Laus blickte auf.

    »Nun komm schon rein und schau ihn dir an.«

    Mit langsamen Schritten näherte sich Herr Laus dem Bett und schaute auf das Baby hinunter. Vorsichtig schob er die Decke, in der das Kleine eingewickelt war, zur Seite. In dem Moment schlug das Baby die Augen auf und um Herr Laus war es geschehen. Seine Liebe strömte in einem breiten Strom zu seinem Sohn und er wusste, daran würde sich Zeit seines Lebens nie etwas ändern.

    »Er ist wunderschön«, hauchte er ergriffen. »Wie sollen wir ihn nennen?«

    »Ich möchte ihn Niko nennen, nach meinem Großvater.«

    Herr Laus erstarrte.

    »Das ist keine gute Idee, Lieselotte«, sagte er vorsichtig. »Sollen wir ihn nicht Hartmut nennen?«

    Seine Frau schaute ihn erbost an.

    »Warum? Ist der Name meines Großvaters nicht gut genug für dich?«

    »Nein, nein, das ist es nicht, dein Großvater war ein toller Mann, aber der Name ...«

    »Ich finde Niko schön und mein Sohn wird so heißen!«, sagte Frau Laus mit energischer Stimme. „Ende der Diskussion! Und es wäre mir recht, wenn du jetzt gehen würdest, Niko und ich sind müde.«

    Herr Laus schaute auf seine Frau hinunter, die die Augen geschlossen hatte und ihn ignorierte. Er seufzte. Wenn sie diesen Ton drauf hatte, war alles Reden vergebene Liebesmüh.


    Die Jahre zogen ins Land; Niko war von Anfang an ein liebes Kind: Er hatte keine Koliken, schlief nachts immer durch. Als er in den Kindergarten kam, verstand er sich gut mit den anderen Kindern, nie gab es Streit. Doch dann kam er in die Schule und alles wurde anders ...


    Einsam stand der neun Jahre alte Junge in der Ecke des Pausenhofs, während die anderen Kinder spielten. Sehnsuchtsvoll schaute er ihnen zu, aber er wagte es nicht zu ihnen zu gehen, Er hatte zu viel Angst vor den Hänseleien, mit denen sie ihn immer piesackten. In seinen Gedanken versunken sah er nicht, dass sich ihm einige der älteren Schüler näherten.

    »Und, wo sind meine Geschenke?«,

    Niko erschrak, als er die Stimme hörte. Panisch sah er sich um, aber es war kein Lehrer in der Nähe, der ihn vor Dieter und seinem Gefolge schützen würde.

    »Ich h-h-habe kei-i-ine Gesch-e-e-en-n-nke.«

    »Jetzt schaut euch den Stottermichel an! Wie er mit den Zähnen klappert. Du bist doch eine Memme, wie sie im Buche steht!«

    Dieter schaute seine Kumpels beifallheischend an und schubste Niko anschließend so stark, dass dieser gegen den dort stehenden Zaun fiel.

    »Hör auf!«, flehte dieser.

    »Hör auf«, äffte Dieter ihn nach. »Von wegen, jetzt fängt der Spaß erst an!«

    Er griff Niko am Arm, zog ihn zu sich her, um ihn dann mit noch größerer Wucht von sich zu stoßen. Niko geriet dabei ins Stolpern und fiel hin. Dieter beugte sich zu dem auf dem Boden liegenden hinunter.

    »Jetzt hör mal gut zu: Du bist der Nikolaus und dieser bringt die Geschenke! Also erwarte ich von dir, dass du mir morgen etwas mitbringst, hast du verstanden?«

    Niko, dem die Tränen über die Wangen liefen, nickte.

    »Wie, ich kann dich nicht hören!«

    »Ja, ist gut, morgen bringe ich etwas mit.«

    Dieter stand auf und schaute auf Niko hinab.

    »Na also, warum nicht gleich so. Ach, und bevor ich es vergesse – vergiss nicht, meinen Freunden auch etwas mitzubringen. Klar?«

    »Mache ich«, sagte Niko mit leiser Stimme, worauf sich Dieter und seine Kumpels abklatschten und gingen.


    Leise schloss Frau Laus die Tür des Kinderzimmers und ging ins Wohnzimmer zu ihrem Mann.

    »Und?«

    »Er ist endlich eingeschlafen. Warum nur müssen Kinder zu anderen Kindern so grausam sein?«

    Herr Laus seufzte. Hätte er sich damals doch nur durchgesetzt und nicht zugelassen, dass sein Sohn auf diesen Namen getauft wurde.

    »Niko kann nicht mehr auf diese Schule gehen, das ist ja wohl klar, oder?«

    Herr Laus schaute seine Frau ungläubig an.

    »Du kannst doch nicht ernsthaft in Betracht ziehen, dass er schon wieder die Schule wechselt? Das wäre die dritte Schule in zwei Jahren! Und glaubst du wirklich, in der nächsten Schule würde es anders laufen? Wie konntest du ihm das mit dem Namen nur antun? Du hättest ...«

    »Blödsinn! Es liegt nicht an dem Namen, sondern an den Eltern der anderen Kinder. Würden die ihre Sprösslinge gescheit erziehen, würde unser Sohn nicht so behandelt werden! Niko geht auf jeden Fall nicht mehr in diese Schule! Basta!«

    Herr Laus schrumpfte ob des energischen Tones seiner Frau etwas und wünschte sich in diesem Moment, sein Sohn hätte etwas von ihrer Stärke. Dann würde er sich die Hänseleien nicht gefallen lassen, sondern würde als erster zuschlagen. Mmhh, das wäre doch eine Idee, er würde …

    »Hörst du mir überhaupt noch zu?«

    Herr Laus schreckte auf und nickte.

    »Gut, damit ist es beschlossene Sache.«

    Frau Laus drehte sich um und verließ das Wohnzimmer; während sich ihr auf der Couch sitzender Mann fragte, zu was er eigentlich gerade seine Zustimmung gegeben hatte.


    Und wieder vergingen einige Jahre. Niko brachte seine Schulzeit mehr schlecht als recht hinter sich. Eine Lehrstelle in seinem Traumjob bekam er nicht, weil die Personalchefs aller Firmen, in denen er sich bewarb, der Meinung waren, dass die Kunden ihn mit diesem Namen nicht ernst nehmen würden. Er arbeitete jetzt als Lagerarbeiter in einem Transportunternehmen. Auch eine Freundin hatte er noch nie gehabt; sobald die Frauen seinen Namen hörten, lachten sie ihn aus. Niko war einsam und unglücklich ...


    An einem kalten Winterabend ging Niko nach der Arbeit in eine Kneipe, die auf seinem Heimweg lag. Er wollte nicht nach Hause in die leere Wohnung, ihm war nach menschlicher Gesellschaft. Er ging an die Theke und bestellte sich ein Bier. Neben ihm saß ein Mann in seinem Alter, der ihm zuprostete, als der Barkeeper sein Getränk vor ihn hinstellte.

    »Hallo, ich bin Ralf.«

    »Ich heiße Niko.«

    Die beiden Männer kamen ins Gespräch, welches sich schnell dem Fußball und dann den Frauen zuwandte. Niko hatte inzwischen zwei Gläser Bier geleert und hielt sich am dritten fest.

    »Weißt du Ralf, alle lachen, wenn ich ihnen meinen Namen nenne. Es ist zum Verzweifeln.«

    »Verstehe ich nicht, Niko ist doch kein schlechter Name.«

    »Das nicht, aber ich heiße mit Nachnamen Laus.«

    »Ach du meine Fresse, das ist echt übel.«

    Ralf starrte in sein leeres Glas und fragte sich, wo der Inhalt schon wieder abgeblieben war. Dann dämmerte ihm etwas.

    »Sag mal, willst du mich verarschen?«, pampte er den jungen Mann neben sich an. »Du bist doch nicht der Nikolaus!«

    »Doch, wenn ich es dir sage, so heiße ich.«

    Ralf erhob sich, stand allerdings nicht auf sicheren Beinen, weshalb der Schlag, den er Niko verpasste, nicht gar so stark ausfiel. Doch es reichte aus, um diesen das Blut aus der Nase schießen zu lassen.

    »Verschwinde, sonst kann ich für nichts garantieren!«

    Niko presste sich ein Taschentuch ins Gesicht, angelte ein paar Münzen aus seiner Tasche und legte sie auf die Theke. Danach drehte er sich um und verließ die Kneipe mit schlurfenden Schritten.


    Wir verlassen Niko jetzt kurz und gehen eine Etage höher. Ach, was sage ich, viele Etagen …


    »Ich schaffe die Arbeit einfach nicht mehr! Jedes Jahr werden es mehr Geschenke, die ich verteilen soll, jeder will etwas haben, und dann ist es mit den normalen Sachen nicht mehr getan, nein, es muss immer etwas Besonderes sein! Ich bin jetzt einfach in einem Alter, in dem es Zeit wird, in Rente zu gehen.«

    Der wohl beleibte Mann schaute seine Mitarbeiter an, welche widerrum ihn anschauten. Entsetzt, fassungslos, sprachlos. Das konnte der Nikolaus doch nicht ernst meinen! Es waren nur noch ein paar Tage bis zum sechsten Dezember, woher sollten sie denn so schnell einen Ersatz für ihn finden?

    »Das kannst du nicht machen«, sprach einer von ihnen das aus, was alle dachten. »Wir brauchen dich«.

    »Nein, ich bleibe dabei, mit sofortiger Wirkung bin ich Rentner.«

    Jetzt gab es ein buntes Sprachengemisch, jeder der Anwesenden gab seine Meinung zu der Angelegenheit kund.

    »Könntet ihr alle mal ruhig sein? Ruuuuheeee!«

    Schlagartig verstummten die Männer und alle, einschließlich des Nikolaus, schauten den Kobold, der unbemerkt zur Tür hereingekommen war, erwartungsvoll an.

    »Ich wüsste schon jemanden, der für den Nikolaus einspringen könnte.«

    »Wer?« - »Sag schon!« - »Wen meinst du?«

    »Es gibt auf der Erde einen jungen Mann, der passenderweise Niko Laus heißt.«

    »Das ist ja ein Ding!Das würde ja passen wie die Faust aufs Auge!«

    »Finde ich auch, damit wäre unser Problem gelöst!«

    Wieder redeten alle durcheinander. Der Kobold schrie deshalb:

    »Ihr müsst euch aber beeilen – Niko ist wegen seines Namens am Boden zerstört und möchte nicht mehr leben.«

    »Das gibt es doch nicht, los, kommt, auf was warten wir noch?«

    Und schon rannten die Männer zur Türe, quetschten sich mehr schlecht als recht hindurch, weil jeder der Erste sein wollte und dann kehrte schlagartig Ruhe ein. Der Kobold schaute zum Nikolaus, der ihm zunickte und ein Lächeln schenkte. Das hatte ja genauso funktioniert, wie er es sich erhofft hatte.


    Und damit steigen wir die vielen Treppen wieder hinunter auf die Erde.


    Niko stand auf der Brücke, die sich über den Fluten des Neckars erhob und schaute hinunter auf das schnell fließende Wasser. Er war schon fast eine Stunde da, er konnte sich einfach nicht entscheiden, ob er es wirklich tun sollte oder nicht. Gerade als er sich dann aber doch dazu entschlossen hatte, seinem Elend ein Ende zu machen, gab es neben ihm einen lauten Knall und er fuhr herum. Sprachlos schaute Niko die Gestalten an, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und ihn jetzt umringten.

    »Was wollen Sie?«, fragte er ängstlich.

    »Wir kommen vom Nikolaus und wollen ihnen einen Job anbieten.«

    »Einen Job? Vom Nikolaus? Wollen Sie mich verarschen?«

    Niko versuchte eine Lücke zwischen ihnen zu finden, um zu fliehen, aber sie standen dicht gedrängt, es gab kein Entkommen für ihn. Mit einem Seufzen ergab er sich in sein Schicksal. Einer der Männer erzählte Niko, um was für eine Arbeit es sich handeln würde, schmückte die Sache aus, kam ins Schwärmen – und Niko dachte sich, dass das guter Stoff gewesen sein musste, den dieser Typ genommen hatte.

    »Ich sehe schon, du glaubst mir nicht, dann komm mal mit.«

    Und bevor Niko nein sagen konnte, gab es wieder einen Knall und er befand sich im Wohnzimmer des Nikolaus. Er sah sich um, traute seinen Augen nicht, als er den Mann mit dem dicken Bauch in einem Sessel sitzen sah.

    »Nikolaus, das ist der Mann, von dem der Kobold uns erzählt hat.«

    Der Nikolaus erhob sich, ging um Niko herum, schaute ihn sich genau an und meinte dann:

    »Viel zu schlank, den müssen wir erst mästen, bevor er mich ersetzen kann.«

    »Mästen? Ersetzen? Das muss ein Irrtum sein, ich ...«

    »Kein Irrtum«, unterbrach ihn der Nikolaus. »Du wirst mein Nachfolger. Komm her und setz dich, dann erkläre ich dir alles.«


    Und so saßen sich die beiden ungleichen Männer gegenüber. Niko verfolgte sprachlos die Ausführungen des Nikolaus, erwärmte sich immer mehr für den Gedanken, mit einem Rentier-Schlitten über den Himmel zu sausen und Kinder glücklich zu machen.

    »Gut, ich bin einverstanden. Aber nur unter einer Bedingung – ich werde nicht zunehmen!«

    Der Nikolaus rieb sich den Bart.

    »Na gut, daran soll es nicht scheitern, dann stopfen wir den Mantel halt aus.«


    Das kleine Kind schaute den dicken Mann im roten Mantel mit großen Augen an. Dessen weißer Bart fiel ihm bis auf die Brust und als er sich zu dem Kind hinunterbeugte, konnte es einen schwachen Geruch nach Tannennadeln wahrnehmen. Brav sagte es sein für diesen Tag gelernte Gedicht auf und nahm freudestrahlend sein Geschenk entgegen. Der Nikolaus strich ihm sanft über den Kopf, drehte sich um und stieg wieder auf seinen Schlitten. Er schnalzte mit der Zunge und schon zogen die Rentiere an. Kurz darauf waren sie nur noch ein kleiner Punkt am wolkenlosen Himmel.


    Wie, ihr glaubt mir die Geschichte nicht? Dann schaut doch am 6. Dezember einmal zum Fenster hinaus, vielleicht habt ihr ja Glück und könnt den Schlitten mit Niko Laus, entschuldigung, natürlich mit dem Nikolaus, über den Himmel fahren sehen.


    Ho-Ho-Ho

  • Der 7. Dezember von R. Bote


    Wie man Frohe Weihnachten verkauft


    Skeptisch betrachtete Holly die von Autoabgasen nachgedunkelte Fassade des Hauses vor ihr. Die Bude sah ziemlich schäbig aus, fand sie, so gar nicht wie der Sitz eines seriösen Unternehmens. Eine vierspurige Hauptverkehrsstraße, viel Lärm, neben der Haustür stapelten sich Säcke mit Verpackungsmüll, der auf die Abfuhr wartete. Aber es war kein Irrtum, Holly warf noch mal einen Blick auf die Unterlagen, sie war richtig.

    Letzte Zweifel räumte das kleine Schild aus, das zwischen anderen von innen an die Glasscheibe der Eingangstür geklebt worden war: Schmitz & Kolke Make you(r) call GmbH. Ein einfacher Computer-Ausdruck auf einem weißen DIN-A4-Zettel in einer Klarsichthülle.

    Holly gab sich einen Ruck und drückte die Klingel. Ihre Geduld wurde auf die Probe gestellt, es dauerte fast eine Minute, bis ein Knacken zu hören war in der Gegensprechanlage, die auch schon etliche Jahre auf dem Buckel haben musste. „Ja?“ Besonders freundlich klang das nicht, nicht mal nach eingeübter Freundlichkeit eines Empfangsmenschen, der dafür bezahlt wurde, wenigstens halbwegs höflich zu sein.

    „Holly Winkler“, sagte Holly. „Ich soll ab heute hier arbeiten.“ „Okay“, kam es zurück, und gleich darauf ertönte der Summer. Holly drückte die Tür auf und betrat den Hausflur, der irgendwie düster wirkte. Auf der rechten Seite an der Wand sah sie ein Firmenverzeichnis, eine Plexiglasscheibe mit den Namen der Firmen, die hier residierten. Das Callcenter, ein Übersetzungsbüro, eine Agentur, die sich nicht darüber ausließ, wen oder was sie vermittelte, irgendwelche Handelsgesellschaften, die Holly nichts sagten. Viel Wert auf einen repräsentativen Empfang schienen sie alle nicht zu legen, die meisten Namen waren nur auf Papier gedruckt und aufgeklebt, genau wie an der Tür.

    Auf einer schmalen Treppe stieg Holly hoch in den zweiten Stock, in dem Schmitz & Kolke ihre Büros hatten. Vor der Tür, die nur angelehnt war, atmete sie noch einmal tief durch, dann trat sie ein.

    In einem schmucklosen Vorraum saß ein junger Mann in einem schlabbrigen T-Shirt an einem Schreibtisch. „Frau Winkler?“, vergewisserte er sich, ohne wirklich aufzusehen. Holly nickte. „Haben Sie den Vertrag dabei?“, fragte der Mann. Holly reichte ihm das Papier, er überflog es und nickte. Mit einem unleserlichen Krakel unterschrieb er beide Exemplare, reichte eins an Holly zurück und legte das andere auf einen Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch.

    Es war der erste Arbeitsvertrag, den Holly je unterschrieben hatte. Sie war sechzehn und wollte sich etwas Geld dazuverdienen. Den Entschluss hatte sie kurzfristig gefasst, sie hatte zufällig die kleine Notiz gesehen, als sie das kostenlose Werbeblättchen aus dem Briefkasten geholt hatte, das wöchentlich in der Stadt verteilt wurde. Es war ihr gerade recht gekommen, denn in der Kasse herrschte Ebbe, nachdem sie die Weihnachtsgeschenke für ihre Eltern und die beiden jüngeren Geschwister gekauft hatte. Jede Woche drei oder vier Stunden, hatte sie sich ausgerechnet, würden ja schon reichen, um bis zum nächsten Taschengeld über die Runden zu kommen. Vielleicht würde sogar etwas mehr rausspringen, als sie für die Geschenke ausgegeben hatte. Besondere Qualifikationen waren auch nicht gefordert, nur fließend Deutsch mussten die Bewerber sprechen.

    Ihre Eltern hatten auch nichts dagegen einzuwenden gehabt, und so hatte sie die angegebene Telefonnummer angerufen. Es war erstaunlich schnell und einfach gegangen, nach nicht einmal zehn Minuten hatte es geheißen, dass sie gleich am nächsten Tag anfangen könnte. Den Vertrag hatte sie per E-Mail zugeschickt bekommen, mit der Aufforderung, zwei Exemplare auszudrucken und zu unterschreiben.

    Nun stand also ihr erster Arbeitstag an, am Donnerstag vor dem zweiten Advent. „Kundenberatung“ war ihr Job überschrieben, ganz genau wusste sie selbst noch nicht, worum es dabei gehen sollte. Schmitz & Kolke warben damit, für verschiedene Auftraggeber zu arbeiten und so den Callcenteragenten immer wieder neue, spannende Aufgaben zu bieten.

    Der Mann hinter dem Schreibtisch gab irgendwas in seinen Computer ein, dann stand er auf und bedeutete Holly mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. Freundlich war irgendwie anders, so wirklich willkommen fühlte Holly sich bis jetzt nicht. Sie hatte nicht vor, bei Schmitz & Kolke alt zu werden, es war ein Nebenjob, den sie vielleicht nur ein paar Wochen oder Monate machen würde, aber trotzdem. Der Mann hatte sich ja noch nicht mal vorgestellt!

    Er führte sie in einen Raum, in dem mindestens zwanzig Agenten und Agentinnen saßen. Die Mehrheit waren Frauen, junge und ältere; die wenigen Männer dagegen waren durchweg jung, sicherlich keiner über Mitte zwanzig. Alle telefonierten, aber Holly verstand kein Wort, weil die Stimmen sich gegenseitig überlagerten.

    Sie wurde nach rechts geführt, zu einem Tisch in der Ecke. Dort saß eine Frau, die Holly auf Mitte vierzig schätzte, sie war schmal und etwas blass im Gesicht. Sie hatte ein Headset auf und war gerade im Gespräch, von dem Holly aber nur ein paar Wortfetzen aufschnappen konnte. Den wichtigsten Teil schien sie verpasst zu haben, die Frau leitete die Verabschiedung ein. Es hörte sich so an, als hätte ihr Gesprächspartner sich dagegen entschieden, ihrem Rat zu folgen, aber um das ernsthaft zu beurteilen, fehlte Holly das Hintergrundwissen.

    Der Mann, der sie in Empfang genommen hatte, wartete, bis die Frau das Gespräch beendet hatte und aufschaute. „Sie ist neu“, stellte er Holly dann äußerst knapp vor. „Kümmere dich um sie!“ Die Frau nickte nur.

    „Hol dir mal den Stuhl da rüber!“, sagte sie, als der Mann weg war, und deutete auf die Reihe mit Telefonarbeitsplätzen vor ihr. Dort waren am Ende der Reihe zwei Plätze frei, und Holly zog sich wie geheißen einen der beiden Stühle heran. „Okay“, sagte die Frau zufrieden. „Ich bin übrigens Magda. Und wie heißt du?“ Holly nannte ebenfalls ihren Namen. „Hast du so was schon mal gemacht?“, wollte Magda wissen. Holly schüttelte den Kopf. „Ist mein erster Job“, gab sie ehrlich zu. Halb und halb richtete sich darauf ein, dass Magda im Geiste die Augen verdrehen würde, weil man ihr eine völlige Anfängerin geschickt hatte. Aber einmal musste man schließlich anfangen, und der, mit dem sie am Vortag telefoniert hatte, meinte ja offenbar, dass sie den Job konnte.

    Zum Glück wirkte Magda nicht genervt. „Macht nichts“, sagte sie und lächelte. „Was du hier brauchst, lernst du schnell. Hier, schau!“ Sie deutete auf den Bildschirm, auf dem eine Liste mit Namen und Telefonnummern angezeigt wurde. Das waren die Leute, die angerufen werden sollten. „Die gehst du einfach der Reihe nach durch“, erklärte Magda. Sie zeigte Holly die Schaltfläche, die das Programm direkt mit der Telefonsoftware verband. „Wir haben eine Liste mit Fragen und Antworten, ich hab sie immer in einem zweiten Tab offen“, fuhr sie fort. „Du kannst aber auch zu Frank gehen und ihm sagen, er soll sie dir ausdrucken, dann brauchst du nicht hin und her zu klicken.“ „Ist das der, der…?“ Etwas unsicher schaute Holly zur Tür, die zum Vorraum führte. Magda nickte. „Er ist der Geschäftsführer hier. Dass er nicht viel redet, hast du wahrscheinlich schon gemerkt. Nimm’s dir nicht zu Herzen, das ist nichts Persönliches.“

    Das machte ihn Holly nicht unbedingt sympathischer, nahm ihr aber wenigstens die Sorge, sie könnte schon beim Reinkommen etwas falsch gemacht haben. Sie nickte, zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, und hörte weiter zu. Magda zeigte ihr, wie sie die detaillierten Daten zu den Leuten in der Liste aufrufen konnte, und was sie aufnehmen musste, wenn sie einen Verkauf abschloss.

    „Na ja, am besten hörst du einfach erst mal zu“, schloss Magda. „Hier.“ Sie reichte Holly ein Headset, das neben ihrem an den PC angeschlossen war. Offenbar war sie nicht zufällig dafür ausgewählt worden, Holly einzuarbeiten, und ihr Arbeitsplatz war dafür eingerichtet.

    Sie wählte den obersten Eintrag in der Liste aus und klickte auf den Button mit dem Telefonhörer. Dreimal war das Rufzeichen zu hören, dann wurde am anderen Ende abgenommen, und eine Frauenstimme meldete sich. „Guten Tag, Frau Wiedener“, begrüßte Magda sie freundlich. „Hier spricht Magda Schneider vom Schutzverband Versicherung und Vorsorge. Wir befassen uns derzeit verstärkt mit Haftpflichtversicherungen und prüfen, ob Beiträge und Deckungssumme in einem gesunden Verhältnis stehen. Darf ich fragen, bei wem Sie haftpflichtversichert sind?“

    Die Frau am anderen Ende der Leitung, anscheinend einigermaßen überrumpelt, nannte den Namen des Versicherungsunternehmens und anschließend auch die Höhe der Beiträge, die sie und ihr Mann bezahlten. „Die Deckungssumme wissen Sie nicht?“, hakte Magda nach, doch dafür hätte Frau Wiedener den Vertrag raussuchen müssen. Sie schätzte aber, dass es drei oder vier Millionen Euro waren. „Bei Beiträgen in der Höhe sollten mindestens 10 bis 12 Millionen abgedeckt sein“, behauptete Magda. Gleichzeitig zeigte sie als Hinweis für Holly auf den Fragenkatalog, der in einer Baumansicht angeordnet war. „Das passt so nicht. Wenn Ihnen die Deckungssumme reicht, dann suche ich Ihnen einen anderen Tarif bei einem unserer Partner raus. Oder Sie bleiben mit den Beiträgen in dem Bereich, dann finde ich eine höhere Deckung, das wäre auch eine Alternative.“

    Holly begriff, wie blauäugig, sie an die Sache herangegangen war. Von wegen und Kundenberatung! Hier ging es einzig und allein darum, den Leuten Versicherungen zu verkaufen, und ob das immer die günstigsten waren, wagte sie zu bezweifeln. Es waren die des Auftraggebers, Punkt.

    Frau Wiedener erklärte, dass sie so eine Entscheidung nur zusammen mit ihrem Mann treffen wollte, der allerdings nicht zu Hause war. Holly war sich nicht sicher, ob das nur eine Ausrede war, Magda ließ sich nicht anmerken, was sie davon hielt. Sie verabschiedete sich freundlich, nachdem sie immerhin die Zusage bekommen hatte, dass sie am nächsten Tag noch mal anrufen durfte.

    „Ich lege sie auf Wiedervorlage“, erklärte sie Holly, während sie den Eintrag im Computer vornahm. „Aber wahrscheinlich wird es nichts. Im Lauf der Zeit lernt man, das einzuschätzen.“

    Noch ehe Holly eine Frage stellen konnte, wählte sie die nächste Nummer aus der Liste. Diesmal dauerte das Gespräch nicht lange, die Angerufene, eine Frau Hegge, sagte, sie würde sich nichts aufquatschen lassen, und legte auf. Magda nahm es achselzuckend zur Kenntnis und setzte einen Haken im Programm, der besagte, dass die Nummer nicht mehr angerufen zu werden brauchte. „Okay, nächster“, sagte sie. „Und danach bist du dran.“

    Holly wusste nicht, ob sie dafür schon bereit war, aber Magda schob ihr zwei Minuten später einfach die Maus hin. Mit klopfendem Herzen schob Holly den Cursor über den Anruf-Button hinter der nächsten Nummer, eine Frau Bäcker diesmal. Ihr fiel auf, dass überhaupt deutlich überproportional viele Frauen in der Liste standen – glaubten die Chefs, dass Frauen leichter zu überreden waren, eine Versicherung abzuschließen?

    Fast hoffte sie, Frau Bäcker würde nicht abnehmen, aber nach dem zweiten Klingeln knackte es in der Leitung. „Marie Bäcker“, meldete sich eine Stimme, die sehr jung klang. „Guten Tag, Frau Bäcker“, grüßte Holly. „Ich bin…“ Sie wiederholte das Sprüchlein vom Schutzverband und kam sich bescheuert vor dabei. „Ach, Sie wollen bestimmt mit meiner Mama sprechen“, kam die Antwort. „Mama!“ Holly zuckte unwillkürlich zusammen, weil das Mädchen am anderen Ende plötzlich die Stimme hob. Entweder war die Mutter schwerhörig oder am anderen Ende eines riesigen Gartens, sonst hätte es diese Lautstärke nicht gebraucht. „Sie kommt“, erklärte Marie, dann polterte der Hörer auf eine harte Unterlage.

    Es dauerte ein paar Sekunden, und die Mutter war ziemlich außer Atem, als sie den Hörer aufnahm. Offenbar war sie tatsächlich ein Stück vom Telefon entfernt gewesen. Holly wiederholte die vorgegebene Einleitung und wurde direkt unterbrochen. „Und dafür renne ich ans Telefon?“, schimpfte Frau Bäcker. „Danke, den Anruf hätten Sie sich sparen können.“ „Okay“, sagte Holly spontan. „Aber schimpfen Sie nicht mit Marie, sie konnte nicht wissen…“

    Zu ihrer Überraschung wurde Frau Bäcker gleich eine ganze Ecke ruhiger. „Bestimmt nicht“, versicherte sie. „Tut mir leid, Sie machen ja auch nur ihren Job.“

    Holly bedankte sich für das Verständnis und legte auf. Irgendwie war sie enttäuscht, das war mal überhaupt nicht so gelaufen wie geplant. Auf der anderen Seite fand sie, dass sie die Situation am Ende gut gelöst hatte, und Frau Bäcker war ja auch gleich freundlicher geworden. Aber was würde Magda dazu sagen?

    „Pech“, sagte sie schlicht. „Aber mach dir nichts draus. Es heißt immer, wenn du gut bist, dann kannst du mit den Provisionen richtig viel Geld verdienen, aber ich kenne keinen, der dabei reich geworden ist. Manche schaffen es, dass sie regelmäßig drei oder vier Abschlüsse in einer Stunde machen, andere nur einen oder zwei. So ist das Geschäft. Und du fängst ja gerade erst an, also Kopf hoch!“

    Zu ihrer eigenen Überraschung war Holly damit in die „freie Wildbahn“ entlassen. Magda, die offenbar das volle Vertrauen genoss, wenn es darum ging, die Neuen einzuarbeiten, wies ihr einen Platz am Fenster zu. „Da bist du nicht ganz so im Trubel“, sagte sie. „Irgendwann ist man so drin, dass man die anderen gar nicht mehr hört, aber für den Anfang kann’s nicht schaden, wenn dir keiner direkt auf der Pelle hockt.“

    Holly bedankte sich, stellte den Stuhl zurück und schlängelte sich an den anderen Arbeitsplätzen vorbei zum Fenster. Der Computer war bereits eingeschaltet, verlangte aber einen Benutzernamen und ein Passwort. Hilfesuchend schaute sie zu Magda, aber die telefonierte schon wieder. Notgedrungen fragte sie den jungen Mann zwei Tische weiter, der entweder einen Schwerhörigen am anderen Ende der Leitung oder nicht verstanden hatte, dass seine Stimme über das Telefon auch bei normaler Lautstärke ankam. Immerhin konnte er ihr helfen, die Anmeldedaten folgten einem festgelegten Schema. Besonders sicher war das dann natürlich nicht, weil sich so jeder ziemlich mühelos mit einem fremden Account einloggen konnte. Überrascht war Holly nicht, ihr war längst klar, dass sie in einem alles andere als seriösen Laden gelandet war.

    Sie loggte sich ein, startete den Browser und rief die Kundenliste auf, die als Lesezeichen hinterlegt war. Alma Schrader war der erste Eintrag in der Liste, ein Blick in die Details verriet Holly, dass die Dame schon auf die Achtzig zuging. Der Ortsname sagte ihr nichts, der hohen Postleitzahl nach musste der Ort aber irgendwo in Süddeutschland liegen.

    Es klingelte und klingelte, in Gedanken zählte Holly mit. Mehr als fünf-, sechsmal sollte sie es nicht klingeln lassen, hatte Magda ihr mit auf den Weg gegeben. Es lohnte sich nicht, meinte sie, wenn die Leute so lange brauchten, um ans Telefon zu gehen, dann waren sie meist nicht in der Stimmung, sich um ihre Versicherungen zu kümmern.

    Zögernd schob sie den Cursor über den Button zum Beenden des Anrufs. Das siebte Klingeln, sie wollte gerade klicken, als das Leitungsgeräusch sich veränderte. „Ja?“, fragte eine dünne Stimme. Sie klang außer Atem, und irgendwie spürte Holly, dass der Weg ans Telefon der alten Dame schwergefallen war.

    Fast schämte sie sich dafür, und sie musste sich zusammenreißen, um die vorgegebene Begrüßung zu erzählen. „Oh, das tut mir leid“, antwortete Frau Schrader. „Aber um die Versicherungen kümmert sich meine Tochter. Wissen Sie, sie macht das alles am Computer, mit Internet, das geht so schnell bei ihr, da komme ich gar nicht mehr mit. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen die Nummer, aber ich weiß nicht, ob Sie sie jetzt erreichen. Sie arbeitet, wissen Sie, und vor halb fünf ist sie fast nie zu Hause. Manchmal holt sie auf dem Rückweg auch die Kinder vom Hort ab, vor allem, wenn das Wetter schlecht ist, dann wird’s auch oft fünf. Die beiden“, damit waren offenbar ihre Enkel gemeint, „wollen oft gar nicht mit, sie haben so viele Freunde im Hort, und wenn sie dann spielen…“ „Das kann ich verstehen“, antwortete Holly spontan. „Ich war genauso. Ich war zwar nicht im Hort, aber wenn ich mit meiner Freundin gespielt hab, hab ich auch immer die Zeit vergessen.“ Verflixt, warum erzählte sie das einer Frau, die ihr völlig fremd war? Das Gespräch war ihr komplett aus der Hand geglitten, aber sie wusste nicht, wie sie wieder zum Thema kommen sollte, und irgendwie wollte sie es auch gar nicht. „Wissen Sie, es ist ja gut, wenn Kinder jemanden zum Spielen haben“, erzählte Frau Schrader weiter. „Die Enkelin von meiner Nachbarin zum Beispiel, die sitzt immer nur zu Hause.“ „Na ja, vielleicht liest sie lieber, oder bastelt“, wandte Holly ein. „Ja, das glaube ich auch“, pflichtete die alte Dame ihr bei. „Aber sie muss doch auch mal unter Leute kommen!“ „Ja, schon“; gab Holly zu. „Gehen Ihre Enkel viel raus?“

    „Was machst’n da?“, wurde sie im selben Moment von der Seite angeraunzt. Es war der Typ, der ihr schon aufgefallen war, weil er so brüllte. „Wenn sie nicht kauft, dann schieß sie ab! In der Zeit hättest du schon zwei andere klarmachen können!“

    Hastig hielt Holly das Mikrofon an ihrem Headset zu. Am liebsten hätte sie zurückgebrüllt, aber sie hatte keine Lust, dass alle sie angafften. „Lassen Sie das meine Sorge sein“, gab sie stattdessen kühl zurück. Ganz bewusst blieb sie beim Sie. „Schnappen Sie sich ruhig die zwei oder drei“, sie betonte die Worte sarkastisch, „und machen Sie sie klar. Da müssten Sie sich doch freuen, dass Sie dran verdienen, dass ich nicht so abgebrüht bin wie Sie.“

    Der Typ verzog das Gesicht. „Du musst’s wissen!“, gab er trotzig zurück. Dann wandte er sich wieder seinem Computer zu und startete den nächsten Anruf. „Armleuchter!“, dachte Holly noch, dann kümmerte sie sich wieder um ihre betagte Gesprächspartnerin. „Entschuldigen Sie“, sagte sie, „ein Kollege brauchte schnell was.“ Das war nicht mal gelogen, ging es ihr durch den Kopf, der Typ hatte tatsächlich etwas gebraucht und bekommen, nämlich eine deutliche Ansage. „Jetzt bin ich wieder bei Ihnen.“ „Haben Sie sehr viel zu tun?“, wollte Frau Schrader wissen. „Ich will Sie nicht zu lange aufhalten.“ „Tun Sie nicht“, versicherte Holly. Ihr Chef sah das sicherlich anders, aber das ging ihr sonst wo vorbei. Lange bleiben würde sie in diesem Laden nicht, das stand fest, für den Job war sie anscheinend zu zart besaitet; als Makel empfand sie das nicht. „Wir hatten gerade von Ihren Enkeln gesprochen“, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf.

    „Ja, Sascha und Sarah“, ging Frau Schrader direkt darauf ein. Holly erfuhr, dass die beiden mit ihren Eltern in der Nähe von Koblenz lebten und noch zur Grundschule gingen. Man hörte, dass die alte Dame die Kinder liebte, auch wenn sie sie viel zu selten sah. Es waren über 300 Kilometer zu fahren, doch Frau Schrader fuhr seit fünf Jahren kein Auto mehr, weil die Augen nicht mehr so gut waren. Auch mit dem Zug traute sie sich die Reise nicht zu, und leider hatte ihre Tochter nicht oft Zeit, mit ihrer Familie zu Besuch zu kommen.

    Auf Hollys Bildschirm blinkte ein Signal auf, der Computer war der Meinung, sie hätte sich zu lange mit einem potenziellen Kunden befasst. Sie sollte entweder innerhalb der nächsten zwei Minuten zum Abschluss kommen oder das Gespräch abbrechen, wurde ihr nahegelegt. Holly klickte die Meldung weg, kopierte sich aber sicherheitshalber Frau Schraders Telefonnummer, für den Fall, dass das System ungefragt die Verbindung unterbrach und den Eintrag aus der Liste tilgte.

    Dabei hörte sie weiter zu, und sie wusste selbst nicht recht, warum sie sich darauf einließ. War es Mitleid? So fühlte es sich nicht an, obwohl sie natürlich begriffen hatte, dass Frau Schrader einsam war und vielleicht lange niemanden mehr zum Reden gehabt hatte. Die betagte Dame hatte einfach eine warmherzige Art, die es leicht machte, ihr gern zuzuhören, und Holly erzählten im Gegenzug auch von sich. Sie wusste, dass das so ziemlich das Letzte war, was man als Callcenteragentin tun sollte, aber diese Rolle hatte sie längst abgelegt. Sollte der Typ neben ihr den Kopf schütteln, und dass sie nun keine Provisionen einstrich – geschenkt! Wahrscheinlich hätte sie es ohnehin nicht geschafft, irgendjemandem eine Versicherung aufzuschwatzen, und wenn doch, dann hätte sie sich in Grund und Boden geschämt.

    Als sie schließlich auflegte, weil Frau Schrader dringend etwas trinken musste, zeigte ihre Software eine Gesprächsdauer von etwas mehr als zwei Stunden an. Egal, sie trauerte weder der Zeit nach, noch dem Geld, was ihr vielleicht entgangen war. Zwar hatte sie sich um den Job beworben, um ihr Taschengeld aufzubessern, aber das war über das Gespräch mit der alten Dame in den Hintergrund gerückt.

    Das entging wohl auch dem Nachbarn mit der zu lauten Stimme nicht, und er schien zu den Menschen zu gehören, die es anderen nicht gönnten, glücklich zu sein. „Du sollst zum Chef“, verkündete er, kaum dass Holly sich verabschiedet hatte. „Er ist ziemlich sauer. So frech wie du war hier noch keine.“

    Holly zuckte mit den Schultern und kümmerte sich nicht weiter um ihn. Stattdessen schlängelte sie sich zu Magda durch, von ihr wollte sie sich auf jeden Fall verabschieden. Magda schien Bescheid zu wissen, denn in ihrem Blick lag Mitleid, als sie aufschaute. „Danke fürs Einarbeiten“, sagte Holly. „War aber leider umsonst. Der Job ist nichts für mich, und ich schätze, ich brauche nicht mal zu kündigen.“ „Frank ist ultrasauer“, bestätigte Magda. „Am besten schaltest du auf Durchzug. Und nimm’s dir nicht zu Herzen, dass es hier nicht geklappt hat, den Job kann wirklich nicht jeder.“ „Machst du ihn gerne?“, wollte Holly wissen. „Na ja, geht so“, antwortete Magda vorsichtig. „Manchmal hat man schon nette Leute am Telefon. Aber wenn ich wählen könnte… Eigentlich hab ich Drogistin gelernt, aber da ist im Moment nichts zu kriegen. Nicht, wenn du allein bist und zwei Kinder hast. Egal, das soll dich nicht belasten. Du hast die ganze Zeit mit einer alten Frau telefoniert, oder? Einer, die sonst keinen zum Reden hat?“ Holly nickte und wurde leicht rot. „Finde ich toll“, lobte Magda. „Beim manchen denke ich mir auch, ich müsste etwas mehr Zeit für sie haben. Du machst es einfach, das ist toll. Versprich mir, dass du so bleibst!“ „Ich versuch’s.“ Holly lächelte verlegen. „Aber ich hab gar nicht drüber nachgedacht.“

    Es war gut, dass sie noch mit Magda gesprochen hatte, denn es gab ihr irgendwie das Gefühl, dem Geschäftsführer nicht allein gegenüberzustehen, obwohl er sogar die Zwischentür zumachte. Mit unbewegter Miene hörte sie sich seine Tirade an, allerdings nicht für lange. „Machen wir’s kurz!“, unterbrach sie ihn nach drei Sätzen, die wenig Substanz und viele Kraftausdrücke enthielten. „Der Job ist nichts für mich, das hab ich gleich gemerkt. Muss ich noch was unterschreiben? Sonst gehe ich jetzt.“

    Frank schnaubte, klaubte einen Zettel vom Schreibtisch und schleuderte ihn ihr entgegen: die fristlose Kündigung, die er natürlich längst geschrieben hatte. Holly stopfte sie in die Tasche, ohne darauf zu achten, dass sie nicht verknitterte. „Dann verschwinde!“, knurrte Frank. „Ich werde dir den Lohn für die zwei Stunden überweisen. Ist billiger als die Zeit, die draufgeht, wenn ich begründen muss, warum ich’s nicht tue.“

    Damit war Holly entlassen, in des Wortes doppelter Bedeutung. Frank ließ sich auf seinen Stuhl fallen und würdigte sie keines Blickes mehr. Deshalb entging ihm auch, dass Holly sein Büro nicht etwa geknickt, sondern erhobenen Hauptes verließ. Okay, ihr erster Job war eine Niete gewesen, das konnte passieren. Trotzdem nahm sie etwas mit: die Erfahrung, die sicherlich irgendwann noch mal nützlich sein würde – und die Adresse von Frau Schrader, die sich bestimmt über einen langen, ehrlich gern geschriebenen Brief zu Weihnachten freuen würde.

  • Der 8. Dezember von Gummibärchen


    Eine Weihnachtsgeschichte der etwas anderen Art


    Der Wecker klingelte und der Weihnachtsmann wachte auf. Er musste sich erst ein wenig sammeln, weil er mal wieder etwas Seltsames geträumt hatte. Das war nichts Ungewöhnliches, so ging es ihm in stressigen Phasen öfter. Er hatte ja im Dezember in seiner Position nun mal eine ganze Menge zu tun - jeden Tag Geschenke ausliefern, jeden Tag seine Rentiere checken, Anweisungen an seine Gehilfen geben und was sonst noch so anfiel.

    Und dann war da noch seine Beziehung. Ja, der Weihnachtsmann war in einer Beziehung - und zwar mit dem Christkind. "Christkind" - er lachte immer bei dieser Bezeichnung, denn Chrissie, wie er sie nannte, war schon lange kein Kind mehr. Der Altersunterschied zwischen den beiden betrug gerade mal 5 Jahre und sie waren seit dem vergangenen Weihnachten ein Paar.

    Wie dem auch sei - der Weihnachtsmann hatte aktuell einen recht vollen Terminkalender. Dennoch streckte er sich nochmal, genoss die Wärme des Bettes und sah noch im Liegen nach draußen. Er erblickte die schneebedeckte Wiese, sah die weißen Bäume und erfreute sich an den dicken Schneeflocken, die vom Himmel fielen.


    -- Hier kannst Du entscheiden, ob der Weihnachtsmann allein ist oder ob er Gesellschaft hat. Wenn Du möchtest, dass er allein ist, lies bei "A) Weihnachtsmann allein" weiter. Ansonsten springe direkt zu "B) Weihnachtsmann in Gesellschaft". --



    A) Weihnachtsmann allein

    Der Weihnachtsmann drehte sich noch ein letztes Mal um, quälte sich dann aber aus dem Bett. Er hatte einen langen und sehr wahrscheinlich anstrengenden Tag vor sich und er wollte möglichst früh mit all seinen Aufgaben fertig werden, denn am Abend konnte er sich dann mit Chrissie treffen. Er sprang aus dem Bett, ging duschen und machte sich dann daran, in der Küche die Reste vom gestrigen Tag zusammenzusuchen und diese für sein heutiges Frühstück zu nutzen. Er konnte dabei aus dem Fenster sehen, wie die Nachbarsjungen draußen Schneeballschlacht spielten. Dies erfüllte ihn ohne einen näheren Grund mit viel Freude. Der Weihnachtsmann lächelte. Er spürte, dass heute ein guter Tag werden könnte. Er ließ sich seine heutigen Pläne noch einmal in der Stille durch den Kopf gehen und schaltete dann das Radio an.


    -- Hier kannst Du entscheiden, ob im weiteren Verlauf das Lied "Driving Home for Christmas" oder das Lied "Last Christmas" eine Rolle spielt. Lies einfach weiter bei dem von Dir ausgesuchten Lied. Vorsicht! Achte bei "Last Christmas", dass du bei "Last Christmas (Eins)" weiterliest (und nicht bei "Last Christmas (Zwei)") --



    Driving Home for Christmas

    Der Weihnachtsmann trank einen Schluck von seinem pechschwarzen Kaffee, als der Moderator im Radio gerade über das Wetter sprach. Es war offensichtlich ziemlich ungemütlich draußen, es hatte sehr stark geschneit und der Wettermann warnte davor, ohne Winterreifen zu fahren, am besten sollte man auch Schneeketten dabei haben. Der Weihnachtsmann schüttelte den Kopf. Ja, es gab sie, die unverbesserlichen Gestalten, für die der Winter immer so plötzlich kam und die auch in dieser Gegend im Dezember auf Sommerreifen unterwegs waren. Er konnte das nicht verstehen, aber ihm sollte das Wetter egal sein, seine Rentiere waren jedes Wetter und alle möglichen Straßenverhältnisse gewohnt und in der Regel flog er ohnehin mit ihnen durch die Lüfte.


    Nach dem Frühstück stellte er das Geschirr auf die Spülmaschine und griff nach seinen Schuhen. Gerade, als er sich bückte und seine Schnürsenkel binden wollte, bekam er von hinten einen Schlag auf den Kopf. Als er zu sich kam, saß er zwar immer noch in seiner Wohnung, aber er war gefesellt, konnte weder seine Arme noch seine Beine bewegen und sein Mund war zugeklebt. Ihm gegenüber sah er zwei Männer sitzen. Sie beobachteten ihn und machten eigentlich einen recht harmlosen Eindruck aus. Was sollte das Ganze hier?


    "Hey, Weihnachtsmann, alles gut?", fragte der eine von ihnen. "Wir Dir eigentlich nichts wollen tun. Brauchen wir Hilfe. Mach ich Tesa ab, bleibst Du leise." Der Weihnachtsmann hustete kurz, als das Band ab war und sah sie erwartungsvoll an. Der andere, etwas jüngere, Typ sprach zu ihm: "Ich bin Marek. Das ist Josef. Er etwas fest hat gehauen, nicht böse sein bitte." Weihnachtsmann lachte, weil die Situation zwar noch irgendwie bedrohlich, aber auf ihre Art doch sehr absurd war. Josef hatte ihn umgehauen! Josef! Eigentlich wartete er, dass Maria gleich um die Ecke kam. "Was ist denn los, Jungs, was kann ich für euch tun?"

    Die beiden sahen aneinander an. Es war offensichtlich, dass sie vor dem noch gefesselten Weihnachtsmann mehr Angst hatten als er vor ihnen.

    "Ähm...ja...ähm...", stotterten sie fast gleichzeitig, "wir brauchen...du müssen...du können..." Marek atmete tief durch. "Unser Lastwagen kaputt. Unfall wegen Wetter, weil wir haben Reifen falsch...Ja, ist dumm, ich das weiß, Josef das weiß, Firma kein Geld. Aber müssen wir nach Hause, zu Familie. Frauen, Kinder, Eltern. Ist Weihnachten, du kannst helfen." Josef sah ihn ebenso flehend an: "Bitte".


    Zwei fast bettelnde Augenpaare blickten ihm entgegen. "Ich kann euch nicht helfen.", sagte der Weihnachtsmann. "Warum?" Der Weihnachtsmann schüttelte den Kopf ob deren Begriffstützigkeit. "Na, weil ich gefesselt bin!"

    "Ach sooo!" Die Männer sprangen auf, befreiten ihn und warteten. Der Weihnachtsmann lächelte milde. Er fragte sie, wo sie hin müssen und gemeinsam gingen sie zu seinen Rentieren. Sie holten unterwegs noch Chrissie ab. Josef und Marek waren begeistert, dass sie sowohl den Weihnachtsmann als auch das Christkind kennenlernten. Während des Fluges entschuldigten und bedankten sich unzählige Male und versprachen dem Weihnachtsmann, künftig mit Winterreifen und bei Bedarf auch mit Schneeketten unterwegs zu sein.

    Ende.



    Last Christmas (Eins)

    Der Weihnachtsmann trank einen Schluck von seinem pechschwarzen Kaffee, im gleichen Momenten ertönte im Radio "Last Christmas". Himmel, wie er dieses Lied hasste! Es wäre vielleicht ganz nett gewesen, wenn man es nur einmal hört, aber ab dem 15. Oktober oder so lief es gefühlt alle 10 Minuten im Radio, wobei die Frequenz stieg, je näher Weihnachten kam. Es war zum Verrücktwerden!


    Er konnte das nicht verstehen, aber ihm sollte das egal sein, denn während er mit seinen Rentieren unterwegs war, genoss er ohnehin die Stille um sich herum. Die Stille und den schönen Schnee. Weit und breit einfach nur weiß, kein Blink-Blink von viel zu vielen Lichterketten in allen möglichen Farben. Auch etwas, was er nicht verstand. Warum mussten die Menschen an Weihnachten ihre Fenster oder auch Gärten quasi zu einer Disco umfunktionieren? Plätzchen dagegen, die mochte er sehr. Er dachte an Chrissie und hoffte, dass sie wieder einige leckere Plätzchen backen würde. Er freute sichauf den Abend mit ihr, musste sich jetzt aber schleunigst in Bewegung setzen, um rechtzeitig heute Feierabend machen zu können. Gerade, als er sich bückte und seine Schnürsenkel binden wollte, bekam er von hinten einen Schlag auf den Kopf.


    "Na, alter Sack, gut geschlafen?", hörte der Weihnachsmann eine Stimme, als er zu sich kam. Er sah zwei Männer, einen größeren und einen kleineren. Er wollte was sagen, merkte aber, dass sein Mund zugeklebt war. Außerdem war er gefesellt und an ein Rohr angebunden. Keine Ahnung, wo er war, aber die beiden sahen nicht aus, als hätten sie was Schönes mit ihm vor.


    Er sah sich schnell im Raum um - er sah Unmengen an Lichterketten und bunten Sternen. Die Luft roch extrem stark nach Vanille und Zimtstangen, außerdem gab es Kerzen mit Weihnachtsduft. Der Weihnachtsmann fing an zu husten. "Bitte, macht das mal weg, das ist ja widerlich. Der Gestank von dem ganzen Zeug ist kaum zu ertragen", bat er die beiden, aber sie ignorierten seine Bitte, als hätten sie ihn nicht gehört. Während der größere Typ unglaublich viel Lametta überall anbrachte, schloss der kleinere Typ mehrere Lautsprecher an ein anderes Gerät an. Sie grinsten ihn böse an: "Wir müssen diesen Mist jedes Jahr in unseren Wohnungen ertragen, du kriegst es jetzt einfach zurück." Dass der Weihnachtsmann weiter hustete und ab und zu rot anlief, bereitete den beiden offenbar sehr große Freude. Sie schalteten die Lichtdeko an und der Raum wurde quasi geflutet von Lichterketten in allen möglichen Farben - manche leuchteten einfach nur, andere blinkten wild oder wechselten schnell ihre Farben.


    Bevor sie diese "Weihnachtshölle" verließen, drückten sie auf einen Knopf, "Last Christmas" erklang. "Das ist der Bonus", lachte der Große höhnisch, "Last Christmas in Dauerschleife, genieß es. In ein paar Stunden sind wir wieder da."

    Sie wollten ihn eigentlich nur ein bisschen quälen. Was sie nicht wussten, war, dass der Weihnachtsmann bereits länger an Epilepsie litt. Die Umgebung löste einen derart starken epileptischen Anfall aus, dass er diesen nicht überlebte. Sein letzter Gedanke galt dem Christkind. Und der Tatsache, dass das vergangenene Weihnachtsfest, ihr "Last Christmas", auch das letzte gemeinsame Weihnachtsfest war.

    Ende.





    B) Weihnachtsmann in Gesellschaft

    Als der Weihnachtsmann im Bett eine Bewegung hinter sich spürte, drehte er sich um. "Na, auch schon wach, du Schlafmütze?", lächelte Chrissie, die neben ihm lag. Vermutlich war sie mal wieder schon seit einer Ewigkeit wach und schrecklich munter. Er gähnte demonstrativ. Chrissie gab ihm ein Küsschen und sprang aus dem Bett. "Willst Du schon aufstehen?", sah Weihnachtsmann sie leicht enttäuscht an. "Wollen würde ich es nicht nennen", entgegnete sie, "aber du hast heute eine Menge vor." Sie schmiss ihm seine Klamotten zu, während sie sich selbst einen Bademantel umband und öffnete dann das Fenster zum Lüften. Mit einem Zwinkern verließ sie das Zimmer Richtung Küche.


    -- Hier kannst Du entscheiden, ob im weiteren Verlauf das Lied "All I want for Christmas" oder das Lied "Last Christmas" eine Rolle spielt. Lies einfach weiter bei dem von Dir ausgesuchten Lied. Achte bei "Last Christmas", dass Du bei "Last Christmas (Zwei)" weiterliest (und nicht bei "Last Christmas (Eins)", welches sich ohnehin weiter oben im Text befindet.) --



    All I want for Christmas

    Chrissie schaltete das Radio an, "All I want for Christmas" ertönte. Sie lachte. Sie konnte das Lied nicht ausstehen, wohingegen der Weihnachtsmann es sehr mochte. Und sie mochte den Weihnachtsmann, also ließ sie das Lied laufen. Er kam in die Küche, nahm seine Kaffeetasse und setzte sich an den Tisch. Chrissie ließ sich auf sein Schoß nieder. "So, meine Liebste, wie ist der Plan heute?" Sie sagte, sie werde heute noch ein paar Plätzchen backen, sonst habe sie nichts geplant. Neidisch guckte er zu ihr rüber, denn sein Terminplan war heute voll. Zuerst würde er in die Werkstatt zu den Gehilfen gehen und ein paar Anweisungen erteilen. Anschließend wollte er die Rentiere mal füttern, seinen Schlitten mit Geschenken bepacken lassen und diese mit Ausnahme einer kleinen Mittagspause bis in die Abendstunden ausliefern.


    Gesagt, getan. Sie trennten sich vorerst und jeder ging seiner eigenen Tätigkeit nach. Der Tag war lang und zog sich vor allem für Chrissie, die sehr schnell mit den Plätzchen fertig war und dann irgendwann doch Langeweile empfand. Sie sah sich ein paar Weihnachtsfilme an, dekorierte Weihnachtsmanns Wohnung ein wenig und wartete dann gemütlich vor dem Kamin auf ihn. Am späten Abend kam der Weihnachtsmann nach Hause. Er war sehr müde, aber hoch erfreut, denn auf ihn wartete nicht nur eine hübsch dekorierte Wohnung, sondern auch ein opulentes Abendessen mit Glühwein, Plätzchen, deren Duft durch die ganzen Räume strömte und - sein ganz persönliches Highligt - ein leicht bekleidetes Christkind. Und in seinem Kopf sang er für sich leise "All I want for Christmas"...

    Ende.



    Last Christmas (Zwei)

    Chrissie schaltete das Radio an, "Last Christmas" ertönte. Chrissie lachte. Sie mochte das Lied sehr, wohingegen der Weihnachtsmann es nicht ausstehen konnte. "Kannst Du den grauenhaften Mist nicht ausmachen?", rief er lachend aus dem Schlafzimmer. "'Letztes Weihnachten hab ich dir mein Herz gegeben'...wer denkt sich so einen Schrott aus?" Chrissie ließ die Musik dennoch laufen. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein, deckte den Frühstückstisch und sang währenddessen laut mit. Sie griff sich die zwei Plätzchendosen, sah sich diese einige Sekunden lang genau an und nahm dann ein Plätzchen aus der einen Dose raus sowie ein paar weitere Plätzchen aus der anderen Dose. Das eine Plätzchen behielt sie in ihrer Hand, während sie die anderen auf den Teller legte und diesen auf dem Tisch platzierte. Außerdem stellte sie dem Weihnachtsmann direkt eine Tasse Kaffee hin.


    "Oh, Du hast ja schon alles vorbereitet!", stellte er erstaunt fest, als er in die Küche kam. "Na da höre ich ja mal über 'Last Christmas' hinweg." Er lächelte sie an und sie lächelte zuckersüß zurück. "Ein paar Plätzchen sind auch noch da", sagte sie und schob den Teller zu ihm, während sie von ihrem Plätzchen abbiss. "Du bist einfach die Beste!" Er trank von seinem Kaffee und streichelte sanft über ihre Hand. Chrissie lächelte ihn weiter an, kochte jedoch innerlich und empfand tiefen Hass. "Du abartiger Widerling!" dachte sie im Stillen. Vor drei Tagen fand sie heraus, dass er sie betrügt. Erst zweifelte sie, aber die Beweise waren eindeutig. Der Weihnachtsmann ging ihr fremd. Ein Engel hatte ihn verführt, die Affäre ging seit ca. 3 Monaten.


    Ein Schmatzen riss sie aus ihren trüben Gedanken. "Mhm, die sind köstllich", sagte der Weihnachtsmann und nahm sich sein drittes Plätzchen. Chrissie lächelte und trank einen Schluck Kaffee, doch innerlich war sie wütend, traurig, verletzt. Vergangenes Weihnachten kamen sie erst zusammen. Wie aus dem Nichts hatte sie sich ihn verliebt, ihm am 25.12. von ihren Gefühlen erzählt und er sagte, er würde bereits länger genauso empfinden. "Last Christmas" ertönte in ihrem Kopf und sie zuckte innerlich. "Letztes Jahr hab ich Dir mein Herz gegeben, Du Widerling!", dachte sie. Aber nein, nicht so! Nicht mit ihr! Niemand hintergeht das Christkind! Niemand, nicht mal der Weihnachtsmann!


    Erneut riss sie ein Geräusch aus ihren Gedanken. Diesmal war es ein Würgen und Röcheln. Der Weihnachtsmann sah sie hilfesuchend an. Sein Mund schäumte, seine Augen drehten sich. "Ich habe dich vergiftet, du miese Ratte" lächelte das Christkind, nun aber eher schadenfroh als süß. Ich würde mal sagen", schmunzelte sie, " 'Last Christmas" war Dein letztes Weihnachten.

    Ende.

  • Der 9. Dezember von Booklooker



    Neues von Keijo


    Hallo ihr Lieben,

    ich bin es wieder, Keijo. Kennt ihr mich noch vom letzten Jahr? Letztes Jahr war ich noch Rentier-Azubi und habe meine ersten Geschenke ausgetragen. Das war so eine tolle Erfahrung und ich denke immer noch voller Glück daran.


    Mittlerweile ist sehr viel passiert. Joulupikki hat mich auserwählt um Ausbilder aller neuen Rentier-Azubis zu werden. Ihr glaubt ja gar nicht, was das für eine große Ehre für mich ist. Nachdem Joulupikki mir gesagt hat, dass es meine Berufung ist, Geschenke auszutragen, habe ich darüber nachgedacht, wie glücklich es mich macht andere zu beschenken. Kennt ihr das auch? Leider kann ich all die glücklichen Gesichter derer, denen ich Geschenke gemacht habe, nicht sehen, aber ich spüre dieses Knistern in der Luft, das mir zeigt, dass gerade überall auf der Welt Glück frei gesetzt wird.


    Ein Rentier-Azubi-Mädchen, das mir besonders am Herzen liegt, ist Heta. Heta bedeutet die Schnelle und genau das ist sie auch. Heta ist immer vorne dabei, wenn es darum geht etwas zu lernen oder auszuprobieren. Letzte Woche haben wir einen Probeflug gemacht um den Azubis zu zeigen, wie man synchron fliegt. Heta hatte die grandiose Idee, einfach mal ein paar Geschenke mitzunehmen und wahllos irgendwem vor die Tür zu legen. Ich glaube, sie wollte einfach mal spüren, wie es ist, wenn man Glück verbreitet. Wir haben also ein paar von den Tonttus aus Holz geschnitzte Spiele, die Menschen nennen es Scrabble, eingepackt und los ging es. Anfangs hat es ziemlich geruckelt, weil sich alle erst mal synchronisieren mussten, aber dann ging es immer besser. Was dann geschah, könnt ihr euch kaum vorstellen: Wir hatten alle Päckchen bis auf eins verteilt als Heta zur Bedingung machte, dass sie unbedingt dabei sein wollte, wenn das Empfängerchen vom letzten Geschenk dies öffnet. Könnt ihr mir mal sagen wie das möglich sein soll ohne uns zu entlarven? Heta hatte die zündende Idee: Sie hat sich einfach als verirrtes Rentier ausgegeben und gewartet, bis die Familie das Haus verlassen hat. Erst war im Haus total Radau, weil das beschenkte Kind nicht in die Schule wollte, sondern lieber weiter im Adventskalenderbuch lesen wollte. Die Mutter hat es aber dann doch mit viel Überredungskunst geschafft, Erkki (so hieß der Junge) zu überreden. Als er das eingepackte Geschenk vor der Tür sah, sind ihm fast die Augen aus dem Kopf gefallen und dann ging schon das nächste Geschrei los, diesmal Jubelgeschrei. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was in diesem Moment mit meiner kleinen Heta passierte: Sie begann von innen zu leuchten, nicht so, wie man sich das vorstellt mit Licht und Helligkeit, man hat es einfach nur in ihrem total liebevollen und sehr sehr glücklichen Blick gesehen. In diesem Moment habe ich mich unsterblich in dieses Wesen, das mir so ähnlich ist, verliebt. Hetas und meine Berufung scheint tatsächlich das Schenken zu sein. Dann, kaum wahrnehmbar und für die Menschen unsichtbar, begannen winzig kleine flitternde und golden schimmernde Sterne in den Himmel aufzusteigen. Das war das Glück, das von Erkki und auch von seiner Mutter, die gar nicht wusste wie ihr geschah, aufstieg. Ich finde es sehr schade, dass Menschen Stimmungen nicht sehen können, so wie wir es tun. Es würde sehr viel in deren Leben erleichtern. Ihr müsst wissen, Wut sind kleine rote Kreise, Liebe sind natürlich pinke Herzchen, Angst sind fiese gelbe Quadrate. Es gibt natürlich noch mehr Farben, Formen und Empfindungen, aber die kann ich alle gar nicht aufzählen und irgendwann würde das sicher langweilig werden.


    Die Empfindungen der Rentiere sind nicht so einfach zu sehen, um genau zu sein eigentlich gar nicht, daher fällt es mir schwer, Hetas Herz zu gewinnen. Ich bin ein wenig orientierungslos so ganz ohne bunte Farben und Formen. Aber vielleicht ist es ja so, dass man die Empfindungen der gleichen Spezies nicht sehen kann, sozusagen als Superchallenge um sich auf das Gegenüber einzustellen und genau auf alles zu achten, was denjenigen bewegt. Ich versuche seit besagtem Ausflug immer noch Hetas Herz zu gewinnen. Da ich sehr schüchtern bin, gestaltet sich das ziemlich schwierig. Wenn es um meinen Beruf geht, bin ich sehr selbstbewusst, weiß genau was ich den Azubis sagen muss, damit sie verstehen wie wichtig ihre Aufgabe ist und was sie wie machen sollen, aber sobald ich Heta gegenüberstehe, bekomme ich eine rote Nase und fange an zu stottern. Wenn ihr also wisst, wie ich es schaffe, sie darauf aufmerksam zu machen, dass ich ihr Seelenverwandter bin, dann schickt mir eine Nachricht. Ich bin zu erreichen über Jouupukkis Postadresse. Ihr müsst nur als Empfänger meinen Namen angeben und schon kommt die Post bei mir an. Über Fanpost freue ich mich übrigens auch immer sehr.


    Ich wünsche mir auch für dieses Jahr, dass ihr an diejenigen denkt, die euch die Geschenke bringen und die ihre gesamte Lebensenergie in euer Glück stecken. Ich freue mich, wenn ich winzig kleine hellblaue Gedankenfetzen durch die Lüfte fliegen sehe. Denn dann weiß ich, dass ihr nicht nur mit euch selber beschäftigt seid und dass Weihnachten, zumindest das, was ich darunter verstehe, nicht zum totalen Konsumfest geworden ist, sondern auch etwas Nähe untereinander geschaffen hat.


    Ich wünsche euch allen eine wunderschöne Vorweihnachtszeit und entspannte und ein liebevolles Weihnachtsfest mit den Menschen, die euch wichtig sind.


    Eurer Keijo

  • Der 10. Dezember von Tante Li


    Eisstärke


    „Micki!“ schallte es durch das Treppenhaus. „Mach dich fertig!“ Mama machte den Wecker. Micki antwortete: „Ja, gleich!“ aber dachte ‚Nur noch das Kapitel zu Ende lesen.‘ Gerade jetzt war sein Buch so spannend. Doch seine Konzentration war gestört. Er wusste, wenn er jetzt nicht loskam, würde er seinen Aufbruch ins Ungewisse verzögern. Also legte er das Buch lieber gleich aufgeschlagen auf sein Kopfkissen und freute sich auf den Abend, wenn er wieder Ruhe für die Abenteuergeschichte hätte.


    „Zieh dich warm an!“ erinnerte Mama. „Ja!“ schrie Micki zurück. Das wusste er auch von allein. Schließlich probte er nicht erst seit gestern in der kalten Kirche. Er zog die lange Unterhose über seinen Slip und darüber die dickste Jeans, die er hatte. Langärmeliges T-Shirt über warmes Unterhemd und noch einen Rollkragenpulli, damit die Kehle schön warm blieb.


    Als er die Treppe hinunterging kam ihm ein Schwall Plätzchenduft aus der Küche entgegen. Wie gern hätte er sich jetzt mit einem vollen Plätzchenteller auf das Sofa gekuschelt und sein Buch weitergelesen. Aber Disziplin ist wichtig, wenn du etwas erreichen willst blitzten die Worte seines Vaters durch seine Trägheit. Und Micki wusste, was er wollte. Viele Rockstars hatten im Kirchenchor angefangen.


    Mama kontrollierte seine Erscheinung mit ernstem Blick. „Hast du die Wollsocken an?“ Micki zuckte zurück und lief die Treppe wieder hoch. Einen Socken fand er gleich, der zweite hatte sich versteckt. Fluchend durchkämmte er den Kleiderhaufen auf dem Boden seines Zimmers. Wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum Suchen kam ihm der Spruch seiner Schwester in den Sinn. Klang zwar cool, aber half ihm jetzt nicht weiter.


    Nach dreimal wenden erschien endlich der Vermisste. Schnell zog er die warmen Socken an, lief die Treppe runter und schlüpfte in Winterstiefel und Daunenjacke. „Hast du deine Noten?“ fragte Mama aus der Küche. Also wieder hoch und die Notenmappe unter seinen Schulbüchern und -heften hervorgekramt. „Du bist spät dran!“ rief ihm Mama entgegen als er wieder im Flur war. Die Küchenuhr bestätigte das.


    „Mütze und Handschuhe!“ befahl Mama. Keine Zeit deswegen zu streiten, also zog er sich beides an und ließ sich auch noch von ihr seinen Fußball-Schal um den Hals wickeln. „Bleib auf dem Uferweg! Das Eis ist noch nicht dick genug“, mahnte sie ihm noch als er aus der Haustür schlüpfte.


    Schnell rannte er die Auffahrt hinauf und die anschließende Straße hinunter. Da lag der See schön flach und weiß beschneit. Die Uferpromenade führte in weitem Bogen bis zum anderen Ende des Ortes, wo die Kirche auf dem Friedhofshügel stand. Micki blieb brav auf dem Weg obwohl ihn das gefrorene Wasser lockte. Er dachte an seine Chorprobe. Hatte er das schwierige Stück nicht noch üben sollen. Er versuchte sich an die Tonfolge zu erinnern. Wie war die noch?


    An einer Straßenlaterne öffnete er die Mappe und suchte sich das entsprechende Notenblatt heraus. Ah ja so! Er summte die Notenfolge leise mit. Schnell ordnete er das Blatt wieder an die richtige Stelle im Stapel. Dabei fiel das erste Lied heraus und schwebte zu Boden. Ein kalter Windhauch erfasste es und entzog es Mickis greifender Hand.

    Er setzte dem flüchtendem Blatt nach. Beim zweiten Versuch es aufzuheben kam noch ein kräftigerer Windstoß und wirbelte das Blatt auf den See. Micki durchfuhr es heiß. Der Chorleiter würde ihn rügen, wenn er mit unvollständiger Mappe zur Probe erschien. Vorsichtig tastete sich Micki mit seinen Füßen auf die weiße Fläche am Uferrand. Das Eis schien stabil genug. Noch ein vorsichtiger Schritt, nur noch einen Meter bis zu dem harmlos daliegenden Blatt. Das Eis hielt! Noch zwei rasche Schritte und Micki bückte sich zu dem Notenblatt. Diesmal entkam es ihm nicht. Er legte es in seine Mappe.


    Die erleuchteten Kirchenfenster winkten über den See. Das Eis war doch fester als Mama gesagt hatte und die direkte Strecke deutlich kürzer als der Uferweg. Also wagte sich Micki langsam weiter auf den See hinaus. Die dünne Schneeschicht verlieh seinem Schritt Rutschfestigkeit. Micki hätte auch nichts dagegen gehabt, den Weg schlittern zu können. Aber Hauptsache sein Lauf ging schneller voran.


    Seit einer Woche waren die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Sicher, mittags, wenn die Sonne schien, taute es die Schneeschicht an und ließ an den Hausdächern Eiszapfen wachsen. Micki dachte an die Schneeballschlacht im Pausenhof und an Peter, der ihn gemein getroffen hatte. Der würde seine Abreibung noch bekommen. Spätestens, wenn sie auf dem Eis Hockey spielen konnten, war Micki klar im Vorteil. Noch hatten es die Lehrer untersagt aufs Eis zu gehen, aber das konnte ja nicht mehr lange dauern.


    Plötzlich krachte es laut. Micki erstarrte. Er hatte gut dreiviertel des Sees überquert. Hier einzubrechen wäre verhängnisvoll. Weit und breit keine Hilfe in Sicht. Wär‘ nicht ein Mann gekommen, der sich ein Herz genommen fiel ihm die Zeile aus Gülls Büblein auf dem Eis ein, das seine Oma gern jedes Jahr wieder aufsagte. Aber da war jetzt nirgends ein Mann, der sich so ein Herz hätte nehmen können.


    ‚Oh Gott!‘ betete Micki. ‚Lass das Eis halten!‘ Er schwitzte mit einem Mal. Langsam setzte er seine Schritte fort. Er sah sich das nahende Ufer genauer an. Flossen hier die warmen Bäche aus dem Ort in den See? Noch ein Knacken im Eis. Micki sah eine Bewegung im Schilf. Da schwammen Enten auf dem Wasser. Micki musste diesen Bereich möglichst weiträumig umkreisen. Doch das brachte ihn von seiner Ideallinie zur Kirche ab und parallel zum Ufer.


    Angst breitete sich in ihm aus. Vielleicht wäre es sicherer, auf seinem zurückgelegten Weg zurück zu laufen und doch den Uferweg zu nehmen. Dann kam er sicher zu spät zur Probe. Vielleicht besser das, als hier im See zu versinken. Das Büblein hat getropfet, Der Vater hat’s geklopfet, - dabei fiel Micki Papas strenger Blick ein. Verdient hätte er es wohl, aber er konnte sich kaum vorstellen, dass ihn sein Vater schlagen würde.


    Micki strebte weiter dem näheren Ufer zu. ‚Ich habe es doch gleich geschafft!‘ überredete er sich zum Weitergehen. Das Eis knackte jetzt bei jedem Schritt. Also doch lieber wieder weiter auf die Seemitte hin? Ratlos suchten seine Augen die Kirche. Oben leuchtete das vergoldete Kreuz. ‚Lieber Herr Jesus!‘ betete er jetzt inbrünstig ‚Lass mich das Ufer erreichen, bitte, bitte, bitte!‘


    Da war ein länglicher Schatten, der vom Ufer auf ihn hinlief. Was war das? Micki schaute genauer hin und erkannte den Bootssteg. Das könnte die Rettung sein. Vorsichtig näherte er sich und sah, dass die Holzstützen, die ins Wasser reichten fest von Eis umschlossen schienen. Das könnte gehen. Noch wenige Schritte und er konnte die Leiter fassen, die am Ende des Bootsstegs hinabführte. Die war im Sommer praktisch, wenn sie vom Steg ins Wasser sprangen. Er wusste, wie tief das Wasser hier war. Da kann man auch als Erwachsener nicht stehen.


    Micki nahm die Notenmappe in die linke Hand und streckte seine rechte dem Leiterholm entgegen. Noch ein Schritt, noch ein gefährliches Krachen im Eis. Dann war er nah genug, um die Leiter zu fassen und einen Fuß auf die unterste Sprosse zu setzen. Er atmete auf. Den anderen Fuß auf die nächste Sprosse und seinen linken Ellbogen auf eine obere Holzlatte. Als er sein ganzes Gewicht auf der Leiter hatte, gab diese leicht nach unten nach und durchbrach das Eis.


    Hastig zog er seinen unteren Fuß hoch. Er kletterte rasch die restlichen Sprossen hoch und schwang sich auf die Holzplanken. Dann sah er nach unten an den Fuß der Leiter. Dunkles Wasser schwappte auf die weiße Eisfläche. Das war knapp! Der Rest des Weges war kein Problem. Micki lief ihn so schnell er konnte und sang dabei sein persönlichstes Hallelulja!


    :


    Euch allen einen gefahrlosen, besinnlichen Advent und ein fröhliches Weihnachtsfest!

    Herzliche Grüße von Tante Li

  • Der 11. Dezember von Oonalaily


    Das Glück im Marmeladenglas


    Es war einmal eine kleine Fee, die eine besondere Aufgabe hatte. Sie reiste von Ort zu Ort und konservierte etwas ganz Wertvolles in Marmeladengläsern: Glück, Lachen, glückliche Momente.

    Mal das Lächeln eines Kindes, das zum ersten Mal das weiche Fell seiner Katze, die es ihr ganzes Leben begleiten würde, streichelte... sowie das glückliche Schnurren dieser Katze. Mal die frohe Erleichterung eines Regenwurms, als er nach langer Wanderschaft an einem sonnigen Tag von einem Regenschauer überrascht wurde... Mal das wahre Glück im Herzen einer Mutter, die ihr erstes Kind in die Arme gelegt bekam, nach einer langen, langen Zeit des Hoffen und Bangens. Diese Momente waren so filigran, so zerbrechlich, dass die Fee sie einfach für die Ewigkeit erhalten wollte. Sie leuchteten in allen Regenbogenfarben im Regal ihrer kleinen Waldhütte.

    Die Fee liebte jeden einzelnen Moment und bewahrte ihre Gläser wie einem kostbaren Schatz und immer, wenn die Menschen und Tiere eine schwierige Zeit erlebten, traurig und verzweifelt waren, schlich sich die kleine Fee nachts in ihre Träume und öffnete das persönliche Marmeladenglas, um ihnen ihre schönen Momente ins Gedächtnis zu rufen.

    Eines Tages, es war kurz vor Weihnachten und Schneeflocken tanzten vom Himmel, kam die Fee von einer ihrer Reisen zurück. Erschüttert sah sie, dass jemand oder etwas in ihre Hütte eingebrochen war. Sämtliche Marmeladengläser lagen in einem Scherbenhaufen vor dem Regal, die Glücksmomente hingen wie feine Tautropfen noch teilweise an den Scherben und bildeten ein buntes, glitzerndes Kaleidoskop.

    Die Fee setzte sich davor und begann bitterlich zu weinen. Eine graue, stumme Gestalt legte ihr die Hand auf die Schulter.

    Die Fee zuckte zusammen und sah die Gestalt an. "Hast du das getan?", fragte sie schließlich. Die Gestalt schüttelte den Kopf, kniete sich vor den Scherbenhaufen und begann mit bloßen Händen, die Scherben wieder zusammen zu setzen. Die Fee schaute ihr verwundert zu. Als die Gestalt fertig mit ihrer Bastelarbeit war, hatte sie die Scherben zu einem wunderschönen Stundenglas geformt, in dem das Glück nun wie kleine Sandkörner durchrieselte.

    "Wer bist du?", fragte die Fee nun ehrfürchtig.

    "Ich bin die Zeit!", sagte die Gestalt. "Du hast wunderschönen Arbeit vollbracht, in dem du das Glück in Marmeladengläsern erhalten hast... aber du hast eines nicht verstanden. Glück wird immer zerbrechlich sein, Glückliche Momente vergehen... aber das heißt nicht, dass Glück geht und Leere bleibt. Glück ist wie diese Sandkörner in einer Sanduhr, es fließt... es zerrinnt und ist dennoch immer da. Wenn ein Glücksmoment geht, kommt ein anderer mit der Zeit. Es ist alles im Fluss, wenn ein Glücksmoment geht, sollte man diesen nicht festhalten und einsperren, denn vielleicht fließt er, um einem größeren Glück Platz zu machen."

    Die Fee verstand, was die Zeit meinte.

    Sie sammelte das Glück nicht mehr und sperrte es ein, sondern wartete, bis es als weiteres Sandkorn in ihrem unendlichen Stundenglas seinen Platz fand, um zu fließen. Dies flüsterte sie nun den Menschen und Tieren in ihren Träumen zu. Die kleine Fee trug den Namen Hoffnung.

  • Der 12. Dezember von Dorit David


    Vier Freunde und ein Halleluja


    Unentschlossen sahen wir uns an. „Wenn wir so lädiert auf eine Sexparty fahren, könnte das ja auch ganz lustig werden. Ist jedenfalls mal was andres“, räumte Cosima ein.

    Wir waren zu viert und steckten in einem Dilemma. Cosima trug einen grippalen Infekt aus, Olli war vor drei Wochen operiert worden und hatte sich bei der Entfernung eines Leberfleckes im Intimbereich zwei Komplikationen eingefangen. (Eine davon ließ sich noch nicht einmal mit Antibiotika bekämpfe) Hans-Jürgen kämpfte mit einer heranrollenden Migräne und ich hatte die Eintrittskarten für das Event bereits im Voraus bezahlt und die Fahrkarten gebucht. Die ganz günstigen. Die Nichtübertragbaren. Die, ohne Stornierung. Lediglich das Hotel hätten wir zurückbuchen können. Hunderzweiundvierzig Euro pro Nase einfach in den Sand setzen? Das tat wahnsinnig weh. Einstimmig beschlossen wir – egal in welchem Zustand – die Wintersonnenwende in genau diesem Club zu verbringen. Im Anteros. Olli im Seemannsgang mit kleinen Tippelschritten, Cosima mit einem dicken Schal über dem Cocktailkleid, dessen Saum am oberen Ende ihrer Thigh Gap endete, Hans-Jürgen mit 800 mg ibuprofengesättigtem Blut und ich mit einem furchtbar schlechtem Gewissen, die Erotik-Spezial-Night viel zu risikobereit gebucht zu haben. Olli stöhnte bereits nach den ersten fünf Schritten aus dem Taxi in Richtung Hotel.

    „Vielleicht haben sie da ja einen Rollstuhl im Club“, versuchte ich zu scherzen. „So eine Veranstaltung sollte behindertengerecht sein - gerade so eine!“ In Ollis Koffer befand sich ein geliehenes Dirndl. Vor ein paar Minuten hatte er entschieden, auf eine Unterhose zu verzichten. „Reibung ist Mist. Besser, wenn die gereizte Haut gekühlt wird“, murmelte er. Hans-Jürgen grinste zeitverzögert unter dem Einfluss seiner Ibu-Droge. Nur fand Olli das nicht lustig. Es musste ihm wirklich schlecht gehen, denn in Sachen Selbstironie lästerte uns Olli im gesunden Zustand alle an die Wand. Ich hatte ihm eigentlich einen soliden Galgenhumor zugetraut. Aber mich quälten auch nicht drei Schnitte zwischen den Beinen. Es war eh nichts mehr zu retten, wir wollten da durch - komme was wolle.

    Für Olli kam es nicht infrage, zu Hause oder im Hotel zu warten, so frisch verliebt, wie er in Cosima war. Drei Wochen zählte die zarte Phase erst. Cosima und ich hatten vor Monaten schon zweimal so ähnliche Partys besucht, Hans-Jürgen und ich zusammen ebenso, und Olli war vor seinem Cosima-Rausch hin und wieder allein durch die Nacht getingelt, wobei er eben das Anteros aufgetan hatte. „Das wird super!“, versprach er vollmundig. „Zu viert!“ Darauf hatten uns gefreut.

    Und nun das.

    Nach dem Einchecken griff Hans-Jürgen Olli fachmännisch unter die Arme und half ihm die Treppen zum Hotelzimmer hoch. Hans-Jürgen ist Sani. Er und ich sind ein Paar, seit ich ihn an einem verunglückten Silvesterabend in der Notaufnahme begegnet bin. Cosima hatte sich damals das Auge verätzt. Ein Tischfeuerwerk war schuld, weil es an meine Zimmerdecke ging und der herabrieselnde Kalk in ihrer Bindehaut für Übersäuerung sorgte. Mich faszinierte damals Hans-Jürgens unaufgeregte und fürsorgliche Art sehr. Nie war er krank, fast jedem konnte er die Panik nehmen, nur hin und wieder überfiel ihn diese quälende Migräne.

    Endlich waren wir in der zweiten Etage des Hotels angekommen. Cosima steckte meinem Freund ihre Schlüsselkarte zu und flüsterte: „Hans-Jürgen, geh mit Olli in die Suite. Flöß ihm dein Zeug ein und bring ihn dazu, zwei Stunden zu schlafen. Ich werde mit Rita was essen gehen.“ Hans-Jürgen grinste sediert und nickte – vorsichtig, wegen der Kopfschmerzen.

    „Wir klopfen bei euch an, Jungs. Viertel nach elf. Mit Taxi.“ Es klang wie ein Befehl. Die Männer zogen sich in das Apartment zurück, das Olli eigentlich für die Cosima-Nacht vorgesehen hatte – eine Lotussuite mit großem Bad und Whirlpool.

    „Wir hätten es umgekehrt machen sollen“, maulte ich. „Olli darf doch noch gar nicht ins Wasser.“

    „Ich auch nicht. Dann packt mich sofort das Fieber. Außerdem habe ich Hunger. Das ist ein Genesungszeichen, und das werde ich in so einer Blubberplörre nicht aufs Spiel setzen.“

    Nach ein paar Runden durchs Viertel fanden Cosima und ich was wir brauchten und betraten nach zwei Stunden angeheitert und gut gesättigt unser Hotel. Ich bewunderte die Freizügigkeit meiner Freundin, denn Cosima hatte sich bereits seit heute Morgen in Schale geworfen. Sie brauchte das - wie sie behauptete - um sich in den Klamotten heimisch und nicht verkleidet zu fühlen. Ich benötigte das genaue Gegenteil. Nur in Kostümierung war ich sicher. Das Latexkleid mit der aufwendigen Schnürung und die weichledernen Stiefel, die da endeten, wo Cosimas Oberschenkellücke anfing, machten aus mir eine Frau, die mir im Alltag fremd war und mit der ich sonst nicht allzu viel zu tun hatte, außer den Begegnungen in diesen Nächten. Eine flüchtige Bekannte, mit der man außerordentlich Spaß haben konnte.

    Kurz nach elf klopften wir an der Lotussuite. Aber niemand öffnete. Cosima presste ihr Ohr an die Tür. „Blubbert nicht“, stellte sie fest.

    „Eingeschlafen?“, erwiderte ich ratlos. Dann befiel mich leichte Panik. „Ich geh jetzt raus und sag dem Taximann Bescheid.“

    „Warte!“ Cosima gebot mir zu schweigen, presste den Finger auf ihren roten Mund, der wie lackiert aussah und horche erneut. Draußen hupte der Fahrer. Die Panik trieb mich an. „Ohne die Männer brauchen wir kein Taxi, Cosima, es sind nur fünf Fußminuten! Ich geh jetzt und sag dem da draußen Bescheid!“ Mein Flehen blieb wirkungslos.

    „Du sagst dem gar nichts.“ Cosima packte mich am Arm und blickte mir tief in die Augen. „Du siehst aus wie eine Domina, also benimm dich auch so.“ Abermals hupte es. Ich tat, als würde mich das nichts angehen, was mir schwerfiel. Meine zweite Haut hätte einfach etwas mehr Zeit benötigt, um ihre volle Wirkung zu entfalten. Außerdem machte mir allein die Vorstellung der lädierten Männer alles kaputt. Ich fluchte leise. „Schon besser!“, lobte mich Cosima. „Jetzt kannst du gehen. Aber langsam!“ Ich gehorchte. Mich beschlich das Gefühl, nur unter Cosimas strengem Kommando könnte aus diesem Abend noch irgendwas werden. Feuchte Nachtluft umfing mich, als ich die Tür aufstieß. Kalter, nasser Nebel ließ das Licht der Straßenlaternen diffus und weich erscheinen. Der feine Dezemberberregen sprühte von allen Seiten. Ich atmete einmal tief durch und lächelte - es war erfrischend. Die Nässe würde sich rasch wegtanzen, zumal ich ohnehin Latex trug. Als ich zum Taxi schritt, ruhig und mit ausholenden, federnden Schritten, sah ich zuerst die peitschenden Scheibenwischer, dann - hinter einem hellbraunen Lenkrad - den Taxifahrer und daneben etwas Buntes, das aufgeregt zappelte.

    Olli im Dirndl. Hans-Jürgen klopfte ungeduldig an die Scheibe und gab mir unentwegt Zeichen, ich solle endlich Cosima holen. Ich nickte erhaben und ließ mir die Überraschung nicht anmerken. Hintern schwenkend stolzierte ich zurück, und erst als die Hoteltür hinter mir ins Schloss fiel, begann ich in mein Zimmer zu rennen.

    Der Weg zum Club kostete uns pro Nase Einsfünfundzwanzig. Wir kicherten darüber, Hans-Jürgen zahlte, der Fahrer brummte, Olli schob sich manisch das Dekolleté zurecht und Cosima klapste mir beim Aussteigen auf den schwarzglänzenden Hintern. Langsam kamen wir in Stimmung. Der Empfangsbereich war gut beheizt. Zu Asche, zu Staub von Babylon-Berlin empfing uns als wir durch eine weitere Tür das Foyer des alten Kinos betraten. Die Stimmung war bereits ausgelassen und fröhlich und das Tanzparkett überraschend gut gefüllt.

    „Wo bleibt Hans-Jürgen?“, fragte Olli, als wir verwundert vor einer Sechs-Meter-Tanne innehielten, an der männliche Silberengel und schwarzgoldenes Sexspielzeug hing. Ich war ziemlich enttäuscht, weil man dieses massige Ding mitten auf die Tanzfläche gewuchtet hatte, was uns die ganze Sicht versperrte und kaum Bewegungsspielraum zuließ. Außerdem war ich doch geflohen! Vor dieser ganzen, grausigen Herrlichkeit samt grünem Spuk.

    „Hans-Jürgen?“ Suchend wandte Cosima sich um und lief zurück zum Eingang. Sogar in Eile sah sie noch madonnenhaft aus. Breitbeinig auf einem Holzschemel hockte am Einlass ein bärtiger Türsteher, der uns drei – allen voran Olli im Kleid - grinsend durchgewunken hatte. Nun jedoch diskutierte er mit Hans-Jürgen und es sah nicht gut für ihn aus. Dem Mann im schwarzen Rippshirt missfiel offensichtlich die Garderobe meines Freundes. Hans-Jürgen gab sich nie Mühe. Den ganze Kostümierungszwang betrachte er als lediglich als lästiges Übel, wollte ihn so unaufwendig wie möglich halten und einfach nur Spaß haben. Sein Matrosenoutfit, mit dem er bislang immer durchgekommen war, passte dieses Mal nicht. Ich hielt inne und beobachtete, wie Cosima sich vor dem Türhockertypen aufbaute und herausfordernd an seinem Bart, und danach an seinem Unterhemd zupfte. Der Blick des Dicken wurde weich und als ich nähertrat, vernahm ich den Rest seiner Worte, die er an Hans-Jürgen richtete: „… weiß ja, dass du an deinem Fetisch hängst, aber das nächste Mal ziehst du dir bitte was Andres an.“ Hans-Jürgen lief hochrot an, aber Cosima legte ihm rasch den Zeigefinger auf die Lippen. „Wir gehen unsern Seemann jetzt mal ganz schnell hübsch zurechtmachen“, säuselte sie, „Die Garderoben sind doch oben?“ Der Dicke nickte. „Gar nichts werde ich!“, erboste sich Hans-Jürgen. „Bin ich bei meinen Schwiegereltern, oder was? Spießerverein!“ Seine zornigen Worte schluckte das Schlagzeugsolo des Babylon-Trailers. Ich ging ihm lächelnd entgegen, legte meinen Arm um seine freie Schulter und küsste ihn lange und fest auf den Mund. Mein Lippenstift zeigte eine Kartoffelstempelwirkung, und so sah Hans-Jürgen nach meinem Kuss zumindest nicht mehr ganz so normal aus. Der Bärtige nickte und Hans-Jürgen beruhigte sich mühsam. Wir sahen uns um. Tatsächlich fielen Olli und Hans-Jürgen ziemlich aus den Ramen. Zwei helle Vögel unter lauter Raben, Ich verstand was der Einlasser gemeint hatte: Paillettenschwarz, Nylonschwarz, Latexschwarz, Spitzentüllschwarz, Netzstrumpfschwarz, Raulederschwarz… Lediglich ein schmaler Mann hinter der Tanne, dicht neben den Verstärkerboxen leuchtete hell und einsam aus dem Dunkel. Nichts weiter am Leib als einen Lederriemen um den Hals und einen Penisring zwischen den Beinen – beides in schwarz.

    „Wie geht es dir da?“, brüllte ich Olli ins Ohr und deutete dezent unter seinen Rock. „Schmerzfrei“, rief Olli mit schwerer Zunge und sein Blick ähnelte dem von Hans-Jürgen von vor drei Stunden. Nach seiner Migräne wollte ich meinen Freund lieber nicht fragen. Ich kannte Hans-Jürgen so gut, dass ich wusste, diese Frage war schlimmer als alle Schmerzen. Offenbar hatte er sein Leiden im Griff, von seiner hohen Reizbarkeit mal abgesehen.

    „Und was ist an diesem Club jetzt so der Hammer?“, fragte ich Olli, denn die Tanne hatte mich keineswegs überzeugt. „Na wir vier!“, frohlockte er, und als ich die Stirn runzelte, fügte er hinzu: „Wart mal ab.“

    „Hoffentlich nicht zu lange“, erwiderte ich, denn ich sorgte mich um die Wirkungszeit der Tablette.

    „Schaut mal, es wird bunter!“ Cosima deutete auf eine Gruppe von Transfrauen. „Wurde ja auch Zeit.“ Hochgewachsen, breitschultrig und fröhlich bahnten sich die Damen den Weg durch die Menge, entdeckten uns und verliebten sich sofort in Hans-Jürgens Matrosenoutfit. Anfangs, während wir tanzten, folgen sie ihm noch scheu mit Blicken. Nach einigen Gläsern Sekt jedoch wurden sie mutiger und rauschten als buntes Wölkchen hinter ihm her. In enger Umschlingung mit Hans-Jürgen zwinkerte ich ihnen zu. Wie leichtsinnig von mir, denn ab diesem Moment umkreisten sie uns wie Satelliten. Selbst als ich zur Theke ging und Hans-Jürgen mir folgte, waren sie bereits vor ihm da und besetzten sämtliche Barhocker, bis auf einen. Wie auf einem Thron stapelten sich dort drei schrille Handtaschen und verschwanden in genau dem Moment, als Hans-Jürgen an den Tresen drängte, um einen Wein für mich zu ordern. Ich schüttelte nur den Kopf und schaute mich nach Olli und Cosima um. Hand in Hand glitten sie verliebt an uns vorbei. Cosima schwenkte fröhlich ihr Glas durch die Luft. Olli hielt inne, tätschelte mir die Hüfte und raunte Hans-Jürgen ins Ohr: „Bist du mit denen da auf Butterfahrt?“ Cosima prustete los, was in einem feuchten Fleck auf meinem Oberteil und einem heftigen Hustenanfall ihrerseits endete. Dankbar griff ich nach der Serviette, die mir die barbusige Frau hinter dem Tresen zuschob, zusammen mit meinem Wein. Endlich. Cosima versuchte sich zu entschuldigen, was den Anfall noch verschlimmerte. „Ist doch abwischbar!“, beruhigte ich sie. „Alles gut!“ Ich wusste, dass sie hin und wieder an Asthmaattacken litt. Besonders nach solchen Erkältungen.

    „Kommt“, schlug Olli vor, „Ich zeig euch das Herz von Anteros.“ Grinsend lotste er uns an dem schmalen Mann unter der Monstertanne vorbei, der ich missbilligende Worte zuraunte. „Lass doch den armen Baum, Rita“, besänftigte mich Cosima.

    „Ich finde ihn geschmacklos, und er steht überall im Weg!“, schnaubte ich in Richtung Baum. Der Nackte mit dem Halsband schreckte durch meine Worte auf. „Sorry“, beruhigte ich ihn, „Ich meinte nicht Sie, sondern diesen Koloss. Als Kleinholz im Ofen wäre er mir lieber.“ Ein kurzes Funkeln huscht durch seinen Blick.

    „Kommt endlich, nebenan ist es wärmer!“ drängte uns Cosimas Freund. Wir folgten ihm durch einen niedrigen Raum, der von einer schweren Holztür verschlossen wurde. „Ladys First!“, flötete Dirndl-Olli galant und ließ mich vor. Ich griff nach dem Eisenring. Das Portal ließ sich nur schwer bewegen. Zweimal knickte ich auf meinen hohen Absätzen zur Seite und verlor ich die Balance. Cosima fing mich auf und Olli hielt die Tür fest. Wir schlüpften hinein. Kurz schaute sich Hans-Jürgen noch einmal um. Die bunten Damen vom Tresen waren ihm nicht gefolgt, nur der Nackte starrte uns nach. Olli wies in den zweiten Raum und lächelte uns vielversprechend an. „Na? Unten oder oben - wo wollen wir beginnen?“ Staunend betraten wir eine Balustrade. Ein seltsamer Sound erfüllt den Raum. Kurz schloss ich die Augen. Ferne Silvesterknaller kamen mir in den Sinn mit einer eigenartigen Rhythmik. Zweivierteltakte, Dreivierteltakte, Offbeats, Triolen… Hans-Jürgen stupste mich in den Rücken. „Schau doch mal!“ Ich öffnete die Augen, trat näher an die hüfthohe Mauer und blickte unvermittelt in einen knapp zehn Meter tiefen Saal. Der Sound, der mich an ferne Knallkörper erinnerte, entstammte dem Schlagen diverser Lederpeitschen. Und plötzlich war ich mittendrin - in einer improvisierten Percussion, einer Höllenoper, einem Lied, das durch den Takt des schlagenden Leders auf nackter Haut vorgegeben wurde. Unterbrochen von Arien aus Seufzern, spitzen Schreien und unterdrücktem Stöhnen.

    „Also oben, ja?“, beantwortete Olli sich die Frage selbst und schwenkte erwartungsfroh sein Röckchen. Noch immer schauten wir über das Geländer in den Abgrund der Halle. „Das Mittelalter ist unter uns“, raunte Cosima und ich konnte dem Klang ihrer Stimme nur schwer entnehmen, ob es ihr gefiel.

    „Von außen sieht man das diesem moosgrünen Quader gar nicht an!“, bemerkte Hans-Jürgen nicht ohne Respekt in der Stimme. „Steht zwischen den Wohnblöcken und tarnt sich als Sleep-in-Kasten.“

    „Feinste Subkultur“, schwärmte Cosima. „So ein liebevoll gemachter Folterkeller.“ Olli lächelte breit und nickte zufrieden. „Du bist so süß!“, seufzte Cosima betrunken und küsste ihn innig. Olli zog sie an sich und ihre Hände schoben sich vorsichtig unter den Rock seines Kleides. Einmal nur zuckte er leicht zusammen und verzog das Gesicht. Ich beugte mich weiter über die Balustrade. Unten, in der Mitte des Raumes schwang ein Mann eine mehrbändige Peitsche. Sein Oberkörper glänzte schweißgebadet und das Spiel seiner Muskeln war eine Performance für sich. Die Lederpeitsche sirrte wie das Handtuch eines Saunafachmanns über die Köpfe von drei Frauen, die gebückt über einer Holzbank lagen. „Ihr unterhaltet euch ja noch!“, beschwerte sich der Mann und peitschte. „Drei auf einen Streich“, witzelte Hans-Jürgen. „Komm“. Wir ließen das in sich verschlungene Cosima-Olli-Konstrukt zurück und schlenderten die Empore hinunter. Es ging leicht bergab und ich wollte schon lobende Bemerkungen hinsichtlich der Rollstuhlfreundlichkeit machen, als wir schließlich doch auf Stufen stießen. „Seltsam, das Licht hier“, wunderte sich Hans-Jürgen. „Ja“, erwiderte ich und sah mich suchend um. Nirgends konnte ich erkennen, woher das Flackern eigentlich kam. Dennoch wirkte der Raum wie von Feuer erhellt, ebenso wie die von Hand gemalten Fresken an den hohen Wänden, düster und faszinierend. Die Abbildungen zeigten nackte Leiber, die sich auf angedeuteten Treppenstufen wanden. Jungfrauen warteten in Kerkern, Jünglinge hingen an Höhlenwänden, und um sie herum tanzten und kämpften Dämonen, Ritter und Tiere miteinander. Ich war überwältigt. Dann betraten wir das Kellergeschoß. Linkerhand entdeckte ich eine Streckbank aus geöltem Massivholz mit einer Kettenwinde. Begeistert schob ich meine Hände über die glatte Maserung. „Das muss man anfassen, oder?, es glänzt so schön“, lobte ich überschwänglich. „Du aber auch“, erwidert Hans-Jürgen und schob seine Hände über meinen Hintern. Mir wurde warm. Bäuchlings legte ich mich auf das Holz und betrachtete das Gewölbe. Die meisten hochwertig gearbeiteten Möbel waren aus Leder, Holz und Stahl, aber ihre Funktionen erschlossen sich mir nicht. Ich liebte Latex, ja - aber mehr war da nicht in mir. Auch wenn Cosima jedes Mal eine Domina aus mir machen wollte: es ist zwecklos. Der Unterschied von mir zu einer echten DOM ist vergleichbar mit dem von einer Tunte zu einer Transe. Ich spiele mit dem Schein, aber nicht mit der Macht. Ich bin eine Latextunte. Das Verkleiden reicht mir. Ich liebe nur die Hülle, und Hans-Jürgen offensichtlich auch, denn mittlerweile sitze ich rittlings auf der Streckbank, seine Matrosenbrust zwischen meinen Schenkeln und spüre das Knabbern seiner Zähne, an den Schnüren. Durch meine leicht geschlossenen Augen blinzle ich. Rechts neben mir hängt in einem Spinnennetz aus Ketten ein dünnes Mädchen. Ihre Hände umschließen den Stahl der Glieder. Sie genießt das kühle Metall und presst die Vorderseite ihres durchtrainierten Oberkörpers dagegen, während ihr Begleiter in meditativer Versunkenheit und nur wenige Schritte von ihr entfernt mit einem dünnen Riemen auf ihren Rücken zielt. Sie sind komplett absorbiert und auch ich schließe wieder die Augen. Der Sound hier unten wirkt noch vollmundiger. Es fällt mir erstaunlich leicht mich zu vergessen. Immer mehr Menschen bevölkern die hohe Halle - in Duetten, in Trios, allein. Mir ist es mittlerweile egal, ich lausche dem Sound, spüre Hans-Jürgens Lippen an meinem Schlüsselbein und das kühle Holz unter meinem Rücken. Etliche gleiten an uns vorbei, manche bleiben stehen, manche ziehen weiter, und irgendwo über unseren Köpfen tanzt jemand in einem Käfig. Langsam beginne ich mich zu öffnen. Und dann, ganz plötzlich reißt mich Ollis fröhliche Stimme aus der schönen Versunkenheit. „Leute, das Schaukelbrett ist gerade frei! Kommt.“

    Benommen richte ich mich auf. Auch Hans-Jürgen seufzt. Ich kann nicht ausmachen, ob eine neue Schmerzattacke daran schuld ist oder der Ärger über die Unterbrechung. „Was solls“, murmelt er. „Olli will uns was Gutes tun. Es ist sein Abend. Tun wir ihm den Gefallen.“ Das große Brett des Anteros hängt an vier schrägen Seilen unter einem Gewölbe und bietet Platz für uns alle. Olli hat nicht zu viel versprochen. Unsere unwillkürlichen Bewegungen versetzen das Luft-Floß in eine sanfte Schaukelbewegung, die das Ding unter unseren Küssen und Umarmungen mehr und mehr in Schwingung bringt, als würden wir durch eine leichte Strömung fahren. „Ich liebe dich“, raunt mir Hans-Jürgen ins Ohr, und erneut lasse ich mich fallen.

    „Ich kann so nicht!“, abrupt fährt nun Cosima auf, und das Floß ruckt unangenehm hin und her. Wieder seufzt Hans-Jürgen und lässt von mir ab. Auch Olli blinzelt ärgerlich. Und da sehe ich auch schon den Grund ihres Unmuts. Der Nackte mit dem Lederhalsband steht ihr zu dicht vor der Schaukel. Sowas kann Cosima überhaupt nicht haben. Obwohl er eindeutig auf mich fixiert scheint. „Lass ihn doch“, versuche ich sie zu besänftigen. „Er wartet sicher nur auf sein Frauchen.“

    „Kann er doch woanders warten. Ist doch genug Platz überall“, zischt Cosima. „Sorry, aber das verdirbt mir die Stimmung.“

    „Kein Problem“, frohlockt Olli, „Ein Grund mehr aufzubrechen. Das hier ist ohnehin nur der Vorgeschmack.“

    „Gut!“, erwidere ich.

    „Okay“, sagt Hans-Jürgen, und unter Ollis Führung lustwandeln wir weiter. Der Abend ist ja noch lang, denke ich und rechne ich die Wirkungszeit der Tabletten nach. In gebührender Entfernung bleiben wir schließlich vor einem Trio stehen. Der Anblick ist fesselnd. In zweifacher Hinsicht.

    „Warum habe ich bei denen keine Scheu dicht ranzugehen und zuzusehen…?“, fragt mich Cosima irritiert. Sie ist immer noch mit ihrer Nähe- und Distanzproblematik beschäftigt. „…und bei anderen fühle ich mich wie ein Eindringling?“ Aber sie hat recht. „Keine Ahnung. Vielleicht denken sie auch ein bisschen an ihr Publikum - also an uns?“

    „Genau“, bestätigt Cosima, „jetzt hab ich‘s: Sie wirken einladend, kompetent und ansprechbar!“ Ich grunze ärgerlich, ich hasse das. Cosimas ständige Metaebene.

    „Wie soll ich meine Domina auspacken, wenn du deine Organisationsberaterin nicht einpackst?“, frage ich in scharfem Ton. „Ich will mich hier vergessen und nicht daran erinnert werden, was wir sonst noch so sind.“

    „Sorry, natürlich, natürlich!“, murmelt sie und wird rot, was Olli schwer entzückt und zu einem weiteren Kuss animiert. Cosima gibt ihr Bestes - das kann ich sehen. Sie tut mir leid, weil sie sich so schwertut mit dem Loslassen.

    „Wir gehen mal zu den Garderoben“, befiehlt Hans-Jürgen und tippt Olli auf die Schulter. „Nachlegen. Dein Schmerzmittel. Komm.“ Widerwillig löst sich Olli aus der Umarmung und trottet mit.

    „Und wir beide üben jetzt mal Zuschauen.“ Kurzentschlossen greife ich nach Cosimas Hand und ziehe sie herunter zu mir auf eine kleine Holzbank zu Füßen des Fesseltrios. Der Master of Zeremonie kommentiert mit einem gewinnenden Lächeln Cosimas und meine Anwesenheit. Über der geschlossenen Nadelstreifenweste sitzt eine edle, grausilberne Fliege. Eine seiner dunkelhaarigen Gefährtinnen kniet, einen zerzausten, weißen Stoffpinguin im Arm, etwa zwei Meter von ihm entfernt.

    Während der smarte Mann eine zweite Frau geschickt in Seile verwickelt und dabei wahre Türme aus Knoten anfertigt, harrt sie geduldig zu unseren Füßen aus.

    Mit gefesselten Armen und gesenktem Blick genießt sie die Aufhebung aller Ebenbürtigkeit. Die Attraktion geschieht an der Anderen. Verstohlen blicke ich zu Cosima, sie scheint gefangen von den Händen des Meisterbinders, die über den nackten Leib der Frau fliegen. Seine Seile scheinen kein Ende zu haben. Er wickelt, dreht, schwenkt, zieht hier fest, spreizt dort auf und zelebriert kurze Momente der Ruhe, in denen er wartet, bis das Gebilde aus Netz und Frau zum Stillstand kommt. Dann küsst er sie. Das Wechselspiel aus Strenge und Zuwendung entfaltet seinen Zauber. Jedenfalls bei Cosima. Ich sehe es an ihrem Unterkiefer. Langsam beginnen sich ihre Lippen zu öffnen und ihr Gesicht gleitet in den Ausdruck eines staunenden Kindes.

    Mich irritiert das Spiel der Unterwerfung. Leider. Jedes Mal wieder. Ich sehne mich nach der Luft-Floß-Küsserei zurück und verdränge vergeblich das Bild einer saftigen Lammschulter in Rosmarin – gerollt und im Netz gebunden.

    „Ich habe solchen Hunger“, flüstere ich Cosima ins Ohr.

    „Gibt Erdnüsse am Tresen“, wispert sie zurück, ohne den Bick abzuwenden. Dicht zu Cosima hat sich - ich weiß nicht wann - ein schmächtiger Mann in Anzug gesellt, einen Kopf kleiner als sie, hautnah. Dieses Mal scheint es sie nicht zu stören. Hinter mir knallt es laut. Heftig zucke ich zusammen. Der Mann mit den drei Frauen hat seinen Wildleder-Flogger gegen eine einschwänzige Peitsche ausgetauscht. Eine, wie sie auch auf den Fresken zu sehen ist, auf der - außer sich vor Freude - ein rotäugiger Teufel eine wilde Rinderherde zusammentreibt. Hinter mir tobt das Mittelalter und vor mir an den Seilen etwas anderes, etwas, das noch älter, noch archaischer und noch tiefer verwurzelt ist mit dem Urtrieb der Unterwerfung.

    Der kleine schmale Mann avanciert nun zum Sicherheitsbeauftragten. Mit taubenhaften Kopfbewegungen und streng verschränkten Armen inspiziert er die Züchtigung, nimmt unablässig das eigene Kinn in die Hand und beäugt in kritischer Geste alles, was sich bewegt. Sein weißes, gebügeltes Hemd ist ordentlich in seiner Bundfaltenhose verstaut.

    „Hier passieren gefährliche Dinge, sehr gefährliche Dinge!“, flüstert er in hessischem Dialekt, ohne Cosima in die Augen zu sehen. Fachsimpelnd tritt er viel zu nah an den Mann heran und begutachtet die Knoten. Wieder greift er sich an Kinn, streichelt es nervös und wiederholt seine Worte. „Das ist sehr gefährlich, ist das denn auch wirklich richtig geknotet?“

    Der Mann mit der Fliege nickt beiläufig, aber der Hesse scheint nicht überzeugt. „Kennen Sie sich denn aus?“, fragt Cosima den Kleinen. „Gefährliche Dinge“, erwidert er nur, „Sehr gefährliche Dinge…“

    „Ich hol dir noch einen Wein?“, frage ich Cosima, und sie nickt. „Gern.“

    Auf dem Weg zurück treffe ich endlich auf Olli und Hans-Jürgen. Sie sehen zerknirscht aus. „Wir haben die Tabletten im Hotel vergessen“, beichtet Hans-Jürgen, „Jetzt wird es hart.“ Ich stelle mein Glas kurz zwischen den zwei Transen auf dem Tresen ab und umarme Hans-Jürgen. „Sag einfach Bescheid, wenn es nicht mehr geht, dann haun wir eben ab“ Hans-Jürgen nickt, und eine samtbehandschuhte Hand streicht ihm zärtlich über den Hinterkopf. Zurück in die Halle lehnen wir uns an das Geländer. Unten, neben dem Eingang und rechts, gegenüber der glänzenden Streckbank sitzt noch immer eine nackte Frau hinter Gittern. Ihr Begleiter hatte sie schon vor zwei Stunden in den Käfig gesperrt, sein Jackett abgelegt und sich daneben gestellt. Mehr ist seitdem nicht geschehen. Inzwischen ist es richtig voll geworden. Hans-Jürgen fasst sich an die Stirn. Ich biete ihm mein Glas Wein an. Es ist falsch, das weiß ich, und spätestens morgen werden wir es beide bereuen aber für die nächste Stunde hilft es vielleicht. In einem Zug stürzt Hans-Jürgen den Wein hinunter und stellt das Glas auf einem der Holzkästen ab, woraufhin sofort eine Servicekraft in Ledershorts herbeieilt und es fortnimmt. Olli hat Cosima vor dem Bondage-Trio gefunden und flüstert ihr etwas ins Ohr. Ich beobachte, wie sehr sie bedauert ihren Zuschauerstatus aufzugeben und Hans-Jürgen auf eine freie Streckbank folgt.

    „Nanu?“, sage ich erstaunt. „Ich wusste gar nicht, dass Cosima Spaß an Züchtigung hat.“

    „Hat sie vermutlich auch nicht“, räumt Hans-Jürgen ein. „Olli hatte die Idee.“

    „Wusste ich auch nicht“, erwidere ich, „Aber das erklärt, warum er so heiß auf diesen Fetischclub war.“ Ich amüsiere mich. Inzwischen hat Olli sein Röckchen gelüftet und kniet in Embyohaltung vor Cosima, die den Flogger-Spezi um die kleine Gerte gebeten hat.

    „Nein“, widerspricht Hans-Jürgen mir, „Olli hatte nur die Idee den Schmerzen mit Schmerzen zu begegnen“.

    Ich verstehe nur halb. „Sie peitscht ihm jetzt auf die Narben?“, frage ich entsetzt.

    „Nein!“, widerspricht mir Hans-Jürgen, „Die sind doch weiter vorn, nur auf den Hintern.“

    „Interessant.“ Ich beobachte weiter, wie Cosima mit der Gerte kräftig ausholt, dann verlässt sie der Mut, sie hält inne und klopft vorsichtig. Olli ermuntert sie. Wieder saust das Instrument herab. Kurz kneift Olli die Augen zusammen, dann entspannt sich sein Gesicht, er jault auf und … lächelt. Der Mann, der Cosima die Gerte geliehen hat, gibt ihr Tipps. Unsicher wiederholt sie das Ritual. Wieder schreit Olli auf und lächelt. Cosima wird mutiger. „Willst du das auch?“, frage ich Hans-Jürgen.

    „Weiß nicht“, murmelt er. „Ich bin eigentlich furchtbar müde.“ Hinter mir steht schon wieder der Nackte mit dem Halsband. Ich sollte ihn endlich aufklären. „Ich bin ein Fake“, sage ich laut und deutlich zu ihm. „Du wartest umsonst.“ Demütig neigt er sein Haupt, wagt ein schmales Lächeln und kniet vor mir nieder.

    „Du hättest besser gar nichts gesagt. Jetzt hast du das Spiel eröffnet“, sagt Hans-Jürgen.

    „Wieso? Nein heißt Nein.“

    „In diesem Spiel heißt nein leider: warten.

    Wie dumm, denke ich, denn nun habe ich einen Follower. In diesem Moment geht die kleine Holztür auf und eine Frauengestalt im Seidengewand schreitet durch die Halle als wollte sie mit ihrem entrückten Lächeln und einer Lichterkette im Haar das Dunkel vertreiben. „Wie Luna aus Harry Potter“, flüstere ich Hans-Jürgen zu. Die Lichtgestalt stößt sanfte aber unartikulierte Laute aus und hebt segnend die Hände auf all die Verdammten unter ihr. Mein Follower huscht durch die offene Tür unter seinen Baum zurück. Dort hantiert er mit einer pinken Sprühflasche an den Zweigen. Ich schüttle den Kopf. Merkwürdiger Typ, wieso befeuchtet er die Nadeln? Das schwergängige Holztor steht nun weit offen und vor der Tanne wird, der Höhepunkt des Abends, eine Stripshow, eröffnet.

    „Gibt es auch Sixpack-implantate?“ frage ich Hans-Jürgen angesichts des jungen Mannes, der nun unter dem Baum hervortritt, jene pinke Flasche in der Hand, die ich zuvor bei meinem Follower entdeckt habe. Der wiederum ist nirgends zu sehen. Ich atme auf. Hans Jürgen starrt ein wenig apathisch auf das Geschehen. Der junge Mann spritzt eine durchsichtige Flüssigkeit im Halbkreis vor sich auf das Holzparkett und zündet die Flüssigkeit an - der Halbkreis brennt lichterloh. Dann bläst er eine gigantische Feuerwolke in die Luft und noch ehe ich mich an Hans-Jürgen festklammern kann, fängt die Tanne plötzlich Feuer.

    Erst an den unteren Spitzen, dann fressen sich die glühenden Zungen rasant die sechs Meter hinauf, als wäre sie aus Pappmache. „Tür zu! Sofort!“, höre ich mich schreien. Mein Sklave rennt los und stößt die Tür mit aller Kraft ins Schloss. „Riegel vor!“, brülle ich weiter, noch gerade rechtzeitig, denn nun hört man es krachen. Der Baum stürzt in den Saal. Schreie ertönen hinter der Tür, Gepolter, eine Alarmanlage geht los. Jemand pocht an das Holz. Der Sklave schaut mich fragend an. Ich schüttle vehement den Kopf und schaue mich nach dem Notausgang um. Außerdem ist mein Freund plötzlich verschwunden. „Wo ist Hans-Jürgen? Such Hans-Jürgen!“ schreie ich dem Nackten zu. „Meinen Mann!“ Der Sklave starrt mich weiter an, dann deutet er neben mich. Oh mein Gott. Hans-Jürgen liegt hinter mir. Ohnmächtig. „Bring ihn dahin!“, befehle ich so laut ich kann und weise nach unten. „Dort, unter die Fenster!“, Einen Notausgang habe ich noch immer nicht entdeckt. Panik breitet sich in der Halle aus, alle haben die gleiche Idee und strömen nach unten, wo jemand aus Holzkisten, Streckbänken und Schemeln einen Turm baut, der an das einzige Fenster heranreicht, aus dem wir klettern könnten, da es ebenerdig liegt. Wir sind Gefangene im Keller. Als die Ersten den halbfertigen, wackeligen Turm erklimmen wollen, sehe ich, wie Cosima mit dem Einschwänzer peitscht, um die Leute auf Distanz zu halten. Der Meisterbinder sichert so schnell er kann mit seinen Seilen die losen Verbindungen. Mein Sklave hat sich Hans-Jürgen über die Schulter geworfen. Er sieht viel schmächtiger aus, als er tatsächlich ist, und biegt bereits unten um die Ecke. Ich stolpere hinterher und dränge mich an Entgegeneilenden vorbei, die nicht wissen was los ist, und den Fluchtweg über den Tanzsaal nehmen wollen. „Der Saal brennt!“, schreie ich jedem Einzelnen ins Gesicht. „Kehrt um!“ Die Lichtgestalt ist inzwischen auf das Geländer geklettert und echot meine Worte durch den hohen Raum. „Kehret um!“ ruft sie mit erhabener Inbrunst, als könnte allein die Kraft ihrer Worte das Feuer löschen. Als ich endlich unten ankomme, habe ich meine Schuhe bereits von mir geschleudert und keine Stimme mehr. Rauch dringt durch die Ritzen der Tür und vergiftet die Luft, aber der Turm scheint halbwegs stabil. Noch immer reicht er nicht so weit an die Fenster heran, dass man sich von seiner obersten Plattform hinaus hangeln könnte.

    „Leg ihn hierhin“, dirigiere ich meinen Sklaven. „Unter den Tisch!“ Da scheint es mir am sichersten, ich will nicht, dass Hans-Jürgen unter die Räder gerät, denn Einige beginnen bereits hysterisch zu fuchteln, unkontrolliert zu rennen und sich an andere festzukrallen.

    „Sperr sie ein!“, rufe meinem nackten Helfer zu. „Nur die Panischen. Nur zur Sicherheit.“ Er läuft zur Höchstform auf. Cosima auch. Inzwischen stimmen wir uns mit den Augen ab. Sie treibt die Menge mit dem Einschwänzer in meine Richtung, ich breite die Arme aus, mache mich groß, wie man es bei herangaloppierenden Pferden tut und weise den Fluchtweg in Richtung der Käfige. Mein Sklave greift beherzt zu und sperrt die Gefährlichsten ein. Hilfe bekommt er vom Bondage-Meister. Inzwischen hat jemand von außen die Fenster aufgestoßen und lässt dünne, schwarzknotige Seile herab, die bis an die oberste Ebene unseres Turmes reichen. Nylonstrümpfe! Sie gehören den Transfrauen, die dichtgedrängt vor unserem Kellerfenster knien und uns etwas zubrüllen, was im Lärm untergeht. Blaulicht pulsiert von außen herein. Die ersten Kletterer sind oben auf dem Stapelturm angekommen, werden hinaufgezogen und in Empfang genommen. Ich haste von Käfig zu Käfig und versuche die Eingesperrten zu beruhigen und ihnen zu sagen, dass sie gleich dran sind. Davon, dass es Hans-Jürgen unter dem Tisch einigermaßen gut geht, muss ich ausgehen. Kurz vergewissere ich mich. Er schläft wie ein Stein. Zumindest wirkt es so. Ein brausender, aber gedämpft, zischender Lärm zeugt davon, dass nebenan die Löscharbeiten begonnen haben. In mir fällt etwas ab. Dann kracht oben die Tür auf. Feuerwehrleute stürmen hinein, Sanitäter folgen. Auf einmal wird mir schwindelig. Taumelnd öffne ich die letzten Käfige, lasse die Verbliebenen heraus und wanke zu Hans-Jürgen. Sein Kopf ist im Schoß meines Sklaven gebettet. Da liegt er - im Schein-Koma, erlöst von seinen Schmerzen und schaut friedlich aus. „Atmet er?“, frage ich. Der Nackte nickt. Mir ist noch immer schwindelig. Übelkeit kommt hinzu. Ich hocke mich hin und streichle Hans-Jürgen in seinem Dornröschenschlaf. Das Schlechteste ist es nicht in seinem Zustand, versuche ich mir einzureden. „Danke, vielen Dank“, sage ich zu dem Mann mit dem Halsband. „Sie haben wirklich Großartiges geleistet.“

    „Ich habe nur getan, was mir befohlen wurde“, versichert er.

    „Gehen Sie aus dem Weg!“ Die Stimmen über mir sind laut. Zwei Sanitäter ragen vor uns auf. Wir rücken zur Seite. „Drogen? Alkohol?“ Ihre Fragen fallen herab, sind kurz und anklagend. Ich schüttle den Kopf. „Er ist plötzlich furchtbar müde geworden und einfach umgefallen.“ Die Männer vom Rettungsdienst wechseln Blicke. „Ko-Tropfen vielleicht?“, wagt der Sklave zu äußern. Ich erinnere mich diffus an mein abgestelltes Glas auf am Tresen. Eine kleine Weile stand es unbeobachtet neben den Transfrauen. Quatsch. Wirres Zeug! schießt es mir durch den Kopf. Niemals. „Nein!“ widerspreche ich. „Unmöglich.“

    „Das klärt sich im Labor“, entgegnet der Sani und bugsiert Hans-Jürgen auf eine Trage. Irgendwann stehen wir alle draußen im Nieselregen, im feuchtklammen Wind. Die Kälte spüre ich kaum. Hauptsache Luft. Gar nicht genug Sauerstoff kann ich kriegen.

    „Nicht hyperventilieren!“, sagt jemand laut in mein Ohr und wirft mir eine silberne Decke um die Schulter. Saniwagen kommen und fahren, holen noch mehr Leute ab. Mein Retter ist irgendwohin verschwunden, vermutlich hilft er bei den Aufräumarbeiten im großen Saal. Dann steht er plötzlich wieder neben uns. Ich bedanke mich noch einmal ausgiebig bei meinem Engel, der sein Leuchten durch Rußverschmierungen am ganzen Körper eingebüßt hat.

    „Die Tanne ist tot“, sagt er leise und ich erstarre plötzlich.

    „Verdammt“, denke ich und stottere nur: „Du warst das?“

    „Selbstverständlich Herrin. Kleinholz, wie befohlen“, erwidert er, „Wie gewünscht: Zu Asche zu Staub.“ Verstört wende ich mich ab. Cosima umarmt heulend die Transen und Olli rollte auf einer Liege an mir vorbei. Er lächelt matt, winkt mir zu, und stößt mit heiserer Stimme hervor: „Und Rita? … Wie war es für dich?“

  • Der 13. Dezember von imandra777


    Vorweihnachtszeit

    (in der siebten Klasse)


    Laut und leis,

    fröhlich und traurig,

    anwesend und abwesend,

    das Beste draus machen.


    Leistung hier und Freizeit da

    Freizeit weg und Leistungsdruck,

    Redezeit ist kurz, Redewille groß

    Pubertät beginnt, Chaos beginnt.


    Wünsche sind da: Normalität,

    Weihnachtsfeiern, Singen, Basteln...

    doch Testen, Frieren, positive Tests

    die Nachbarsfrage: Quarantäne – ich?


    „Nein.“ – „Warum? Ohne Maske Kontakt.“

    Vorgabe und Nachvollziehbarkeit

    Schwarz und weiß,

    oder weiß und schwarz?



    Normalität mit Masken

    nach außen ist da.

    Die innere Farbe

    nicht wirklich sichtbar.


    Wunsch nach Weihnachten

    Fest der Freunde,

    der Freude und Geborgenheit.

    Zeichen für Normalität?


    Noch wippt es

    von schwarz zu weiß:

    Corona positiv – selbst negativ

    Freundesspaß – Klassenarbeiten.


    Sehnen nach Ruhe

    Ruhen der Wippe auf weiß.

    Weiß wie Schnee und Marzipan,

    schwarz nur bei Dominosteinen.


    Keine Klassenarbeiten und Testen,

    kein Lüften und Frieren,

    Wärme und Geborgenheit

    zur inneren, eigenen Ruhe kommen.

  • Der 14. Dezember von Ingrid Haag


    Lila, Silber, Gold und Bronze


    „Nichts gegen die Family, ehrlich. Aber ich bin froh, dass ich mich dieses Jahr rausgenommen habe. Nach all dem Stress …“ Sanne stöhnt leise und streicht eine Haarsträhne hinters Ohr. Angemessen betrübt wirkt das auf dem Monitor, kein bisschen familienüberdrüssig, stellt sie zufrieden fest. Der Nagellack schimmert dezent, als sie den lockeren Rollkragen zurechtrückt.

    „Ich find’s schade. Heiligabend ohne meine kleine Schwester mag mir nicht in den Kopf.“ Bille sieht aus, als hätte sie dicke Backen bekommen. Und ein fieses Doppelkinn. Ist das die endgültige Metamorphose zum Muttertier, oder liegt es an ihrer billigen Webcam?

    Videocalls sind gnadenlos, zum Fremdschämen manchmal. Sanne hat schnell gelernt, sich makellos zu inszenieren. Der platinblonde Pixie-Cut betont ihre Wangenknochen, die Ohrstecker blitzen, wenn sie den Kopf ein wenig dreht, der lichtgraue Kaschmirpullover schimmert weich. Die Coolness in Person.

    „Sanne?“ Ein Fragezeichen steht in Billes Hamstergesicht. „Ob ich dich noch umstimmen kann, hab ich gefragt.“

    „Sorry, ich war kurz abgelenkt.“ Hitze steigt in Sanne hoch. Zum Glück sitzt das Make-up, und die Ringlampe leuchtet ihr Gesicht perfekt aus. Bille bemerkt sicher nicht, dass ihrer Schwester der Aussetzer peinlich ist. „Bisschen viel Stress in letzter Zeit.“

    „Ach du! Immer nur Arbeit!“ Bille wiegt ihren Kopf. Sie rückt näher an die Kamera, als könnte sie ihre Schwester dadurch besser sehen. „Blass schaust du aus. Geht’s dir denn gut?“

    „Keine Sorge, alles in Ordnung.“ Sanne lächelt routiniert. „Die Ruhe über die Feiertage wird mir guttun.“

    „Die Kinder werden dich auch vermissen. Pia ganz besonders.“ Ihr Patenkind, klar. Bille weiß den Druck subtil zu erhöhen.

    „Das tut mir schrecklich leid, ehrlich.“ Sanne senkt den Blick, um zerknirscht auszusehen, und blickt wieder in die Kamera. „Ich bin in Gedanken bei euch. Und du hast den beiden in meinem Namen etwas Schönes gekauft, ja?“

    „Natürlich! Noise-Cancelling-Kopfhörer für Jonas und einen beleuchteten Tag-und-Nacht-Globus für Pia. Sie hat’s mit fremden Ländern, wie du. Tausend Dank, dass du so großzügig warst. Aber es ist etwas anders, als wenn du bei uns wärst.“ Ihr Doppelkinn wackelt, als Bille traurig den Kopf schüttelt.

    „Nächstes Jahr wieder, versprochen.“ Sanne kreuzt unter dem Tisch die Finger. In zwölf Monaten können sich eine Menge Ausreden ergeben.

    „Aber fühlst du dich denn nicht schrecklich einsam? So allein in deiner Wohnung, an Heiligabend?“ Da ist sie, die Frage aller Fragen.

    „Keine Sorge, ich mache es mir schön. Ganz piano natürlich.“ Sie hält die Piccoloflasche Veuve Cliquot vor die Kamera und zwinkert verschwörerisch. „Ans Christkind glaube ich sowieso nicht mehr. Und Weihnachten ist doch längst nur noch Völlerei und Konsum.“

    Bille macht große Augen. Sanne bedauert den letzten Satz sofort. „Sorry“, schiebt sie nach. „Ich bin wirklich überarbeitet.“

    „Dabei habe ich extra lila Christbaumkugeln gekauft“, sagt Bille leise. „Und silberne und goldene. Nur in Bronze gab’s keine.“

    Sanne schlägt spontan die Hand vor den Mund und legt sie dann an ihren Halsansatz. Die Geste sieht zum Glück nicht lächerlich aus. „Wie früher?“

    „Bronze. Verrückt, was wir mit Weihnachten verbinden, nicht?“

    Sanne lacht los, ohne nachzudenken. „Wir kannten den Farbton schon, bevor er als Gerade-noch-okay-Platzierung bei der Olympiade berühmt wurde.“

    Bille kichert und sieht plötzlich aus wie immer. Die liebevolle, häusliche, ein bisschen zu rundliche Bille. Sie hält eine Hand direkt vor die Kamera und spreizt die Finger. Am Ringfinger blinkt der viel zu enge Ehering. „Ich habe Strohsterne gebastelt, stell dir vor, mit diesen Wurstfingern. Und ich hätte sogar echte Kerzen gekauft, aus Bienenwachs. Aber Torsten hat mich zurückgehalten. Wir wollten hier schließlich nichts abfackeln, meint er.“

    Bilder und Gerüche materialisieren sich wie von selbst um Sanne und schieben sich vor ihren Widerstand. „Mama hat ihre Kerzen früher mit Argusaugen bewacht, weißt du noch?“

    „Der blaue Putzeimer mit Wasser stand immer in Reichweite. Sehr romantisch! Und ab dem zweiten Weihnachtsfeiertag war’s vorbei mit dem Kerzenlicht.“

    „Gibt’s denn auch Würstchen und Kartoffelsalat?“

    „Aber hallo! Und zwölf Sorten Plätzchen, alle unsere Lieblinge. Spitzbuben, Engelsaugen, Zimtmakronen, Lebkuchen. Sogar deine Walnusstaler.“ Bille nickt geschäftig. „Ohne all das wär’s doch kein Weihnachten!“

    Sanne presst die Hand auf den Bauch und lächelt angestrengt. Ihr Magen knurrt so vehement, als wollte er ihre Zweifel endgültig in die Flucht schlagen. „Und … singt ihr auch?“

    „Was für eine Frage! Mindestens ‚O du fröhliche‘ und ‚Stille Nacht“. Dieses Mal spielt Pia auf der Blockflöte, und Jonas muss mit der Gitarre ran.“

    Sanne rückt ein Stück näher an die Kamera. „Lieben sie das so sehr wie wir beide früher?“

    „Mindestens.“ Bille nickt grimmig. „Aber für irgendwas müssen die teuren Musikstunden doch gut sein.“

    „Bille?“

    „Hm?“

    „Denkst du, Würstchen und Kartoffelsalat reichen auch für mich?“

    „Ich weiß nicht, Sanne. Die Würstchen sind abgezählt, und Torsten und die Kinder sollen satt werden.“ Bille wiegt sorgenvoll den Kopf, dann prustet sie los. „Passt das denn zu deinem Schampus?“

    „An Weihnachten passt doch alles zusammen, Bille. Lila, Silber, Gold und Bronze. Strohsterne und Plätzchen. Bienenwachskerzen und Wassereimer. Blockflöte und Gitarre. Würstchen, Kartoffelsalat und Champagner.“

    „Sanne und Bille, trotz Völlerei und Konsum?“ Bille hebt die Augenbrauen und legt Strenge in ihre Stimme. „Pack dein Fläschchen ein, zieh dir was Gemütliches an und mach dich auf den Weg. Um halb sieben geht’s los!“

  • Der 15. Dezember von Batcat


    Weihnachten fällt aus


    Datum: 01.12.2021


    E-Mail an: alle

    Betreff: Weihnachten fällt aus


    Die pünktliche Zustellung der Weihnachtsgeschenke kann aufgrund unvorhergesehener Notfälle nicht garantiert werden.


    Gezeichnet: Der Weihnachtsmann


    Was vorher geschah…


    Der Weihnachtsmann strich sich besorgt durch den Bart. Dieses Jahr war wie verhext.


    Hatte er neulich noch gedacht, so ein beschissenes Weihnachten wie im Coronajahr 2020 würde sich nicht wiederholen, wurde er nun eines Besseren belehrt.

    Nach und nach trafen weitere Horrormeldungen von den einzelnen Außenstellen ein:


    Die ganzen Elektronik-Krimskrams-Geschenklieferungen aus Japan, die auf der MSC Christmas verschifft wurden, steckten im Suezkanal hinter irgend einem anderen drittklassigen Dampfer fest (Never Given, Ever Driven oder so ähnlich), dessen Kapitän anscheinend im Vollsuff eine Pirouette in dem engen Kanal drehen wollte. Ein Ende des Desasters war nicht abzusehen. Vermutlich versuchten sie aktuell, den Frachter mit einer Gartenschaufel frei zu buddeln. Seufz.


    Die isländischen Wichtel konnten auch nichts auf den Weg bringen, weil wieder mal der Eyjafjallajökull grummelte und den Luftverkehr lahm legte. Auch die Außenstellen Sizilien (der Ätna) und La Palma (Cumbre Vieja) hissten die weiße Fahne – sie hatten ebenfalls mit ihren Vulkanen zu kämpfen und im Moment weiß Gott andere Probleme als Weihnachtsgeschenke.


    Bliebe noch die Außenstelle England – aber die schafften es mit ihrem Brexit ja nicht mal mehr, die eigenen Supermärkte und Tankstellen ordentlich zu beliefern. Da wäre es verwegen zu träumen, man könnte von dort einen Lastwagenkonvoi mit Geschenken auf den Weg bringen.


    Der Weihnachtsmann fand seine Idee, die Geschenkeproduktionen und –läger auf verschiedene Inseln auszulagern („auf dem Meer gibt’s keinen Stau“ … hahaha…) auf einmal nur noch semigut.


    Selbst die Weihnachtselfen, die ihm so oft liebe Helfer in der Not gewesen waren, fielen aus: sie standen allesamt unter Quarantäne, seit es nach einer Party bei Knecht Rupprecht, dem alten Querdenker, ein paar Coronafälle gegeben hatte. Zu gerne hätte er ihnen ja den Umgang mit diesem ungehobelten Klotz verboten, aber die Elfen waren erwachsen und es stand ihm nicht zu, ihnen Vorschriften zu machen. Leider.


    Selbst das ihm gehörende Sub- Unternehmen „Allgemeiner Marktplatz am zyklisch oszillierenden Nordpol / Christmas Organization Management“ (kurz: amazon.com) hatte ihm die rote Karte gezeigt. Just zu dieser Zeit planten die Beschäftigten Arbeitsniederlegungen und konnten – und wollten – die exorbitant große Anzahl an Bestellungen nicht ausliefern. Also war auch das keine Option.


    Der Weihnachtsmann war mit seinem Latein am Ende. Und mit allen anderen Sprachen auch.


    Danach …


    Alle, die im Verteiler des Weihnachtsmannes waren (also buchstäblich jeder) hatte die E-Mail erhalten. Sogar in den Nachrichten wurde darüber berichtet.


    Doch nach einem anfänglichen Schock besannen sich die Menschen wieder und begannen, zu improvisieren: Die Kreativeren begannen, Geschenke zu basteln. Bilder wurden gemalt, Socken gestrickt, Taschentücher bestickt, Fotos gerahmt und von den weniger kreativen Geistern wurden wenigstens Gutscheine für gemeinsame Unternehmungen zusammengefriemelt…


    Dabei kamen sich Familien beim gemeinsamen Basteln und Werkeln wieder näher und verbrachten Zeit mit dem Partner und den Kindern, die sie sonst nicht miteinander gehabt hätten. Die Menschen hatten plötzlich viel mehr Muße in der Vorweihnachtszeit, um Plätzchen zu backen und gemeinsam Tee oder Punsch zu trinken.


    Auch der Weihnachtsabend war viel besinnlicher: da keine großen Geschenkeberge unter den Bäumen lagen, wurde viel mehr gemeinsam musiziert und gespielt. Die Menschen ließen sich Zeit beim Essen und blieben anschließend noch lange gemeinsam am Tisch sitzen, um miteinander zu reden.


    Selbst die Kinder hatten diesmal mehr Sitzfleisch als sonst an Weihnachten, da sie sich nicht sofort auf die Geschenkeberge unter dem Weihnachtsbaum stürzten. Es gab dieses Jahr keine Geschenkeberge, sondern nur äußerst liebevoll gestaltete Kleinigkeiten und Einzelgeschenke.


    Alles in allem war dieses Weihnachten so ruhig und festlich wie schon lange nicht mehr. Man hätte meinen können, die Menschen hätten den Sinn von Weihnachten – gezwungenermaßen ;-) – wieder verstanden.


    Und dieses eine Mal hatte sogar der Weihnachtsmann einen schönen und ruhigen Weihnachtsabend im Kreise seiner Lieben.

  • Der 16. Dezember von Heike


    Markus blinzelte, als sich die Schneeflocken in seinen Wimpern verfingen. Bis heute Mittag hatte er noch gehofft, dass es trocken bleiben würde, aber den alten Petrus scherten seine Wünsche nicht. Wenigstens konnten sich die Kinder jetzt über weiße Weihnachten freuen, mit Schlittenfahren und Schneemannbau und allem, was dazu gehörte. Auf der Autobahn hingegen würde es erst diesen braunen, widerlichen Matsch geben, und wenn man sehr viel Pech hatte, blieb man irgendwann im Schneegestöber stecken und verbrachte die Nacht irgendwo gefangen auf der A45.


    Markus strich mit dem Daumen eine Schneeflocke weg, die sich auf den Brief in seiner Hand gesetzt hatte. Es war gleichgültig, diese eine Fahrt musste er dieses Jahr noch hinter sich bringen, und danach würde er ein paar Tage frei haben. Wie immer zwischen den Jahren. Einsame freie Tage, aber sie gehörten dazu, ebenso wie dieser Brief, der seit Jahren die gleiche Adresse trug. Und den er jedes Jahr wieder zögerte einzuwerfen.


    „Entschuldigung?“


    Markus zuckte zusammen, als hinter ihm eine helle Stimme erklang. Sie gehörte zu einer jungen Frau … nein, einem jungen Mädchen. Sie mochte vielleicht vierzehn, vielleicht fünfzehn Jahre alt sein und trug einen abgewetzten Cordmantel, den sie eng um sich gezogen hatte. Unter der viel zu großen Mütze quollen dunkle Locken hervor, und eine ebenso dunkle Nasenspitze schob sich über den alten Wollschal, den sie zwei Mal um den Hals geschlungen hatte.


    „Entschuldigung, Sir. Fahren Sie nach Dortmund?“


    „Dortmund? Ähm, nein. Nicht direkt.“ Markus schüttelte den Kopf. Hastig stopfte er den Umschlag in den Briefschlitz. Jedes Jahr der gleiche Briefkasten, von dem er wusste, dass er ohnehin erst nach den Feiertagen geleert wurde. „Tut mir leid“, log er, als er sich an dem Mädchen vorbeischob. Die Hände in die Taschen geschoben, stapfte er durch den Schnee zurück zum Parkplatz. Eine Anhalterin konnte er nicht gebrauchen auf dieser Fahrt, abgesehen davon, dass das nur Ärger mit sich bringen konnte. Einmal hatte er eine junge Frau mitgenommen, da hatte ihn die Polizei abgefangen, weil aufmerksame Bürger beobachtet hatten, wie sie in sein Führerhaus eingestiegen war. Seitdem hatte er seine ehernen Regeln um eine erweitert: Keinen Alkohol, keine Nutten, keinen Ärger, keine Anhalter.


    Das Führerhaus seines Zwölftonners war noch warm, als er einstieg und sich auf den Fahrersitz fallen ließ. Dreihundert Kilometer noch, dann war er am Ziel für heute und für dieses Jahr. Ein weiteres Jahr.


    Er wollte gerade den Zündschlüssel umdrehen, als es an der Fahrertür klopfte.


    „Hallo? Sir?“


    Markus atmete tief durch, ehe er die Tür einen Spalt weit öffnete. „Was willst du noch?“, herrschte er das Mädchen an, das wie verloren im Schneetreiben neben dem Wagen stand.

    „Ich muss nach Dortmund.“ Ihre Zähne klapperten. „Nehmen Sie mich mit?“


    „Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht nach Dortmund fahre!“


    „Aber Sie fahren nach Norden, Sir. Dortmund liegt im Norden.“


    „Ja, aber …“ Markus schüttelte erneut den Kopf. „Ich kann dich nicht mitnehmen.“


    „Sie müssen, Sir. Bitte. Ich muss dringend nach Dortmund.“


    „Dann such dir jemanden anderes.“


    „Es fährt sonst niemand mehr. Sie sind der einzige hier.“


    Ein Blick über den leeren Parkplatz der Raststätte verriet Markus, dass sie Recht hatte. Fast vier Uhr, um diese Zeit saßen die meisten Menschen beim Weihnachtskaffee oder gingen mit ihren Kindern zum Krippenspiel in die Kirche. Auf der Autobahn war fast niemand mehr unterwegs.


    „Du bist alleine unterwegs, oder? Weiß deine Familie, wo du bist?“


    „Nein.“ Das Mädchen zog die Nase tiefer in den Schal. „Sie weiß es nicht. Aber sie hofft sicher, dass ich zurückkomme.“


    Eine Ausreißerin … na großartig. Markus kratzte sich unentschlossen am Kinn. Keine Anhalter lautete die eherne Regel. Aber er konnte das junge Ding nicht einfach hier stehen lassen.


    „Ich will keinen Ärger, hast du gehört? Nicht, dass nachher jemand sagt, ich hätte dich angefasst oder so.“


    „Das würden Sie nicht machen, Sir.“


    „Woher willst du das wissen?“


    „Das weiß ich.“


    „Woher …“ Markus verstummte. Das Mädchen war seltsam, ganz anders als die anderen jungen Abenteurerinnen, die dann und wann auf Autobahnrastplätzen versuchten, eine Mitfahrgelegenheit zu ergattern. Und was immer sie ausgefressen hatte, niemand verdiente es, Heiligabend zwischen Schneematsch und lauwarmen Pommes.


    „Steig ein“, brummte er. „Aber eins sage ich dir, wenn uns jemand anhält, bleibst du schön bei der Wahrheit, verstanden?“


    „Natürlich, Sir.“ Flink umrundete sie den Wagen und kletterte von der anderen Seite ins Führerhaus. Sichtlich erleichtert nahm sie die Mütze vom Kopf und schüttelte die Locken über die Schultern. „Vielen Dank, Sir.“


    „Und hör auf, mich ‚Sir‘ zu nennen. Ich heiße Müller. Markus Müller.“ Der Motor röhrte, als er den Zündschlüssel drehte. Der schwere LKW rumpelte langsam aus der Parklücke. „Wie heißt du?“


    „Noun.“


    „Ein seltsamer Name.“


    „Sir Markus Müller ist auch seltsam.“


    „Nenn mich nicht so.“ Markus setzte den Blinker und fuhr auf die leere Autobahn auf. Es dämmerte bereits, Schnee trieb ihm entgegen, sodass er den Scheibenwischer anstellte.


    „Sucht eigentlich niemand nach dir?“


    „Vielleicht.“ Noun zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich. Aber Sie bringen mich ja nach Hause. Fahren Sie heute auch noch nach Hause zu Ihrer Familie.“


    „Nein.“


    „Aber heute ist Weihnachten.“


    „Ja.“


    „Haben Sie keine Familie?“


    „Doch, aber …“ Markus presste die Lippen aufeinander, als er den schmerzhaften Stich in seiner Brust wahrnahm.


    „Letztendlich ist Weihnachten ein Tag wie jeder andere auch“, sagte er schnell. „Und irgendwer muss ja das Zeug von A nach B bringen. Sonst sind nach den Feiertagen in den Supermärkten die Regale leer, und die Leute beschweren sich.“


    „Beschwert sich Ihre Familie nicht, wenn Sie das Zeug für andere durch die Gegend fahren?“


    „Nein.“ Außerdem geht dich das alles nichts an, wollte er hinzufügen, aber er blieb stumm. Was konnte die kleiner Ausreißerin dafür, dass er auf der Straße am besten aufgehoben war? Dass er hier niemandem Ärger machte, nur seinen Job.


    Sie schwiegen, während sich der Zwölftonner weiter in die graue Dämmerung donnerte. Nur wenige Autos kamen ihnen entgegen, noch weniger überholten sie, manche sehr eilig, andere vorsichtig auf dem dreckigen Schneematsch. Nach einer Weile beugte sich Noun vor, um das Radio anzustellen. All I wish for Chirstmas trällerte es, gefolgt von Rudolph und schließlich Chris Reas Driving home for Christmas. Noun sang leise mit, lächelte dabei versonnen.


    „Das Lied ist schön.“


    „Findest du?“ Markus starrte in das Schneetreiben vor ihm.


    „Weil es darum geht, nach Hause zu kommen.“


    „Warum bist du überhaupt weggelaufen?“


    „Ärger.“ Noun zuckte mit den Schultern. „Ich habe dumme Dinge getan.“


    „So wie ich“, murmelte Markus, den Blick weiter auf den Leitstreifen gerichtet, der nach kaum fünfzig Metern im Schneetreiben verschwand. Einen Moment lang befürchtete er, Noun könnte nachhaken, aber entweder hatte sie ihn nicht gehört oder sie besaß doch so etwas wie Taktgefühl. Mit halbgeschlossenen Augen hockte sie auf dem Beifahrersitz und summte weiter die Weihnachtslieder im Radio mit, während er sich auf die Fahrt konzentrierte.


    Sie machten eine kurze Pause an einer Raststätte, weil Markus auf Toilette musste und einen Kaffee brauchte. Als er zum Wagen zurückkehrte, erwartete Noun ihn dort bereits.


    „Ich habe Ihnen ein Geschenk gekauft, Sir Markus Müller“, verkündete sie und reichte ihm einen handgroßen kitschigen Weihnachtsbaum aus Plastik. „Man kann die Lichter anschalten, dann leuchtet er“, erklärte sie. „Damit Sie es etwas weihnachtlich haben.“


    „Wie hübsch.“ Markus bemühte sich nicht, Freude zu heucheln. „Steig ein. Wir müssen weiter.“


    Noun kletterte zurück auf ihren Platz und stellte den Weihnachtsbaum vor sich ab. Kurze Zeit später waren sie wieder auf der Autobahn. Inzwischen war es gänzlich dunkel geworden. Selten nur kam ihnen ein Auto entgegen, angekündigt durch die Lichtkegel der Scheinwerfer, die größer und größer wurden, bis sie schließlich an ihnen vorbeigerauscht waren und noch dunklere Dunkelheit zurückließen.


    Sie schwiegen, und Markus war dankbar dafür. Seine Gedanken fingen sich immer wieder bei dem Lied, das er so lange nicht mehr gehört hatte. Er mied es gewöhnlich, das Radio anzustellen, wenn er unterwegs war. Er hatte gelernt, sein Leben zu leben und stark zu sein, aber Musik hatte immer schon Saiten in ihm berührt, die er lieber unberührt ließ. Und nun zupfte dieses Lied gerade diese eine Saite, deren Klang ihn so aufwühlte.


    Noun schien seine Schweigsamkeit richtig zu deuten. „Sie würden gerne nach Hause fahren, oder?“


    Markus brummte leise.


    „Warum machen Sie es dann nicht einfach?“


    „Weil auch ich dumme Dinge getan habe.“ Das Schneetreiben nahm wieder zu, zwang ihn, langsamer zu fahren.


    „So dumm, dass Ihre Familie Sie nicht mehr sehen will?“ Noun lachte leise. „Ich glaube nicht, dass Sie so etwas tun können.“


    „Doch, das kann ich.“ Markus starrte über das Lenkrad hinaus auf die Straße. „Wenn man jemanden schlägt, den man liebt, gibt es kein Verzeihen.“


    Noun schwieg betroffen. Nach einer kleinen Weile hob sie den Plastikbaum vor sich auf die Ablage und schaltete ihn an. Sofort begann eine Reihe bunter Lichter rhythmisch aufzublinken, als versuchten sie, irgendeinem Rhythmus oder Lied zu folgen. „Zugegeben, es ist wirklich kitschig“, stellte Noun seufzend fest.


    Markus musste widerwillig grinsen. „Die Geste zählt, heißt es doch immer. Vielen Dank jedenfalls. Ist nett von dir.“


    Noun nickte und lehnte sich wieder zurück. Der Baum machte weiter Spektakel. „Haben Sie eigentlich Kinder?“


    „Einen Sohn, ja.“ Markus warf einen flüchtigen Blick zur Seite.


    „Er dürfte ungefähr so alt sein wie du.“


    „Haben Sie ihn geschlagen?“


    „Nein! Das würde ich niemals tun. Ich …“ Er stockte wieder. Noch nie hatte er darüber gesprochen, seit dem Tag, als er zu viel getrunken hatte, zu viele trübe Gedanken im Kopf, zu viel Wut, zu viel Zorn … ein Wort hatte das andere gegeben, und dann hatte er zugeschlagen. Und im gleichen Moment gewusst, dass er das nie wieder gutmachen konnte. „Ich habe meine Frau geschlagen. Sie hat mich verlassen und meinen Sohn mitgenommen.“


    „Das war richtig von ihr.“


    „Ja, ich weiß.“ Marcus‘ Finger schlossen sich fest um das Lenkrad, so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Da war der Schmerz wieder, diese eine Saite, die er am liebsten für immer zum Verstummen bringen würde – und doch wieder nicht. „Wir sind in etwa einer Stunde in Dortmund. Wo musst du eigentlich hin?“


    „Sie können mich auch an der Autobahn rauslassen, wenn Sie noch weiter müssen.“


    „Für mich spielt es keine Rolle, ob ich eine Stunde früher oder später ankomme. Dich lasse ich sicher nicht alleine durch die Nacht laufen. Also, wohin?“


    „Erlenstraße 17.“ Noun lächelte leicht. „Danke.“


    „Ist doch selbstverständlich“, brummte er.


    Der Schneefall wurde stärker, und sie machten eine weitere Pause. Inzwischen war die Autobahn menschenleer, nur der schwere Zwölftonner kämpfte sich durch die Nacht, die rings umher in andächtige Stille versunken war.


    Noun hatte das Radio wieder angestellt, aber sie sang nicht mehr mit. Nachdenklich sah sie aus dem Fenster, während in der Ferne Dörfer und kleinere Städte an ihnen vorbeizogen und wieder in der Dunkelheit verschwanden.


    „Wie heißt Ihr Sohn?“, fragte sie schließlich, als Markus schon meinte, sie sei eingedöst.


    „Finn. Finn Müller.“ Er lächelte schief. „Zumindest hieß er einmal so.“


    „Warum sollte er jetzt anders heißen?“


    „Weil ich nicht weiß, ob meine Frau wieder geheiratet hat. Und es vielleicht einen neuen Vater gibt.“


    „Das wissen Sie nicht?“ Noun hob überrascht den Kopf. „Wie lange haben Sie ihn denn nicht mehr gesehen?“


    „Acht Jahre, drei Monate und 13 Tage. Das Jugendamt hat damals beschlossen, dass ich ihn nicht mehr sehen darf. Weil ich … gewalttätig sei.“


    „Das waren Sie auch.“


    „Ja.“


    Noun nickte langsam. Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne. „Ich glaube, wenn ich Finn wäre, fände ich es trotzdem nicht gut, gar nicht zu wissen, was mit meinem Vater ist. Oder mit meiner Mutter. Haben Sie sich nie bei ihm gemeldet?“


    „Doch. Ich schreibe ihm jedes Jahr zu Weihnachten. Über das Jugendamt. Er … hat nie zurückgeschrieben.“


    „Vielleicht wartet er darauf, dass Sie mal kommen und sich entschuldigen und ihm selbst sagen, dass Sie die Tage zählen seit damals?“


    „Vielleicht.“ Markus zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist es so.“


    „Warum tun Sie das dann nicht?“


    „Weil es nicht geht, und außerdem … hör damit auf! Es geht dich doch gar nichts an! Bring lieber deine eigenen Probleme in Ordnung, ehe du in meinen rumwühlst.“ Markus schlug mit den Handflächen auf das Steuer. „Warum rede ich eigentlich mit dir darüber?“


    „Weil ich gefragt habe.“ Noun senkte den Blick.


    „Entschuldigen Sie, Sir Markus Müller. Wir müssen hier übrigens abfahren.“


    Markus schaltete das Navi an und ließ sich von der monotonen Frauenstimme durch die nächtlichen Vororte von Dortmund leiten. Kein Mensch war auf der Straße, nur hier und da schimmerte die Weihnachtsbeleuchtung an den Häusern und überzog den frischgefallenen Schnee mit einem sachten Goldschimmer. Noun schwieg und sah aus dem Fenster, und erst, als Markus den schweren Wagen vor einem schlichten Einfamilienhaus zum Stehen brachte, regte sie sich wieder.


    „Sie sind ein guter Mensch, Sir Markus Müller.“


    Markus lächelte traurig. „Ich wünschte, es wäre so, Mädchen. Wir sind jetzt da, du kannst aussteigen.“


    „Bitte kommen Sie mit.“


    „Wozu? Schau, in den Fenstern brennt Licht. Deine Familie ist sicher zu Hause.“


    „Trotzdem. Ich … bitte kommen Sie mit, ja? Ich habe auch dumme Dinge getan …“


    „… und es ist einfacher, wenn einen jemand an die Hand nimmt, hm? Na gut, aber dann muss ich weiter.“ Markus löste seinen Gurt und stieg aus. Der Neuschnee gab unter seinen Schuhe nach, sodass er tiefe Spuren hinterließ, als er den LKW umrundete und auf Noun wartete, die zögerlich aus dem Führerhaus kletterte. Markus musste schmunzeln bei dem Gedanken daran, wie selbstsicher und nasforsch sie sich während der Fahrt gegeben hatte und wie schüchtern und kindlich sie mit einem Mal wieder schien, jetzt, da sie sich ihren inneren Dämonen stellen musste.


    „Nun komm!“, forderte er sie auf. „Sie werden dich nicht fressen.“


    „Meine Mütze!“ Noun tastete suchend auf ihrem Kopf. „Ich muss sie noch holen. Klingeln Sie schon mal, bitte!“


    Das solltest du selbst tun, wollte er ihr zurufen, aber er schüttelte nur den Kopf und wandte sich mit einem leisen Grinsen zur Haustür, um den Klingelknopf zu suchen. Von drinnen hörte er einen angenehmen Glockenton, und zwei Stimmen, dann Schritte, die sich näherten.


    „Guten Abend, ich bin …“, begann Markus, als sich die Tür öffnete, aber die Zunge versagte ihm den Dienst, als er sich dem hochgewachsenen Jungen gegenüber sah, der ihn ebenso ungläubig anstarrte. Er hatte sich verändert, wie man sich in den acht Jahren veränderte, die zwischen dem Kind und dem Heranwachsenden lagen, doch es bestand kein Zweifel.


    „Papa …?“


    „Finn? Aber …“


    „Papa, endlich!“ Der junge Bursche war mit einem Schritt bei ihm und umschlang ihn in einer innigen, schluchzenden Umarmung. „Ich habe schon gedacht, du kommst nie.“


    Schritte näherten sich aus dem Haus, und Markus erkannte seine Exfrau, die teils erschrocken, teils ungläubig in der Tür stehenblieb. Auch sie war älter geworden, ernster, und eine stumme Traurigkeit hatte sich in ihr Gesicht gegraben, als habe sie sie nicht abschütteln können.


    „Was tust du hier, Markus?“


    „Das weiß ich nicht.“ Behutsam löste er sich von seinem Sohn, der leise schniefend zurücktrat. „Ich dachte eigentlich, dass ich ein Kind nach Hause bringe, aber …“ Er drehte sich um zu seinem Wagen, aber Noun war nicht zu sehen. Der Schnee war unberührt, wo sie gerade eben noch gestanden hatte, und das Führerhaus leer. Nur die Lichter des Weihnachtsbaums folgten ihrer buntschillernden Melodie.


    „Ich weiß es nicht.“


    „Komm erst einmal rein.“ Ihre Stimme klang kühl, aber ohne die tiefe Feindseligkeit, mit der sie ihm damals erklärt hatte, dass er sie nie wiedersehen werde. „Was immer es ist, du bist jetzt hier. Und ich glaube, wir sollten reden.“

  • Der 17. Dezember von R. Bote


    "Das Weihnachtspulver"


    Fröstelnd, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, schlenderten Fabi und Oskar die Hauptstraße entlang. Es war Anfang Dezember und das Wetter ausgesprochen unfreundlich: Es war kalt, und schon den dritten Tag in Folge nieselte es. Auf dem Bürgersteig hatten sich Pfützen gebildet, und auf der Straße schmatzten die Reifen der Autos. Der Feierabendverkehr war in vollem Gange, Stopp and Go, das Licht der Scheinwerfer brach sich in den Schaufenstern. An der übernächsten Kreuzung flackerte es blau, ein Rettungswagen bahnte sich den Weg zwischen den anderen Autos hindurch.

    Fabi und Oskar hatten einen Spezialauftrag erfüllt, nämlich einen Klassenkameraden besucht, der sich den Arm gebrochen hatte. Emilio war im Sportunterricht vom Schwebebalken gefallen, genau auf den linken Arm; was bei anderen Glück im Unglück gewesen wäre, war bei ihm besonderes Pech, denn er war Linkshänder.

    Noch war er deswegen krankgeschrieben, aber die Klassenlehrerin meinte, es wäre gut, wenn er sich trotzdem ein bisschen mit dem Unterrichtsstoff befasste. Umso weniger Rückstand würde er dann später aufzuholen haben, bis der Gips abkam, würde es ein paar Wochen dauern. Da Emilio mit der rechten Hand aber kaum lesbar schreiben konnte, hatte die Lehrerin ein Tablet besorgt. Tippen würde er hoffentlich auch mit der schwachen Hand können, vielleicht etwas langsamer, aber noch gut genug.

    Weil sie in der Nähe wohnten und auch locker mit ihm befreundet waren, hatte die Lehrerin Fabi und Oskar gebeten, ihm das Tablet vorbeizubringen. Das hatten sie gerade erledigt und sich bei der Gelegenheit eine Weile mit Emilio verquatscht. Jetzt waren sie auf dem Rückweg und wollten bei Fabi noch ein paar Runden Autorennen spielen, ehe Oskar nach Hause musste. Vor ihnen auf der rechten Seite ragte ein modernes Bürogebäude auf, das in diesem Jahr erst hochgezogen worden war. Die Fassade bestand fast nur aus Glas und Stahl, die Lichter der Straße spiegelten sich darin. Wenn die Sonne schien, brauchte man eine Sonnenbrille, um nicht geblendet zu werden, aber das Problem würden Staub und Autoabgase an der viel befahrenen Straße wohl beizeiten lösen.

    Ein hoher Aufsteller am Fuß der Treppe, die zum Eingang hinaufführte, listete die Firmen auf, die hier residierten. Ein gutes halbes Dutzend Schriftzüge gab es, und Platz für weitere; in kleiner Schrift stand ganz unten, dass noch Büroflächen zu vermieten waren. Die Namen sagten Fabi und Oskar nichts, aber Geld mussten die Firmen wohl haben, denn billig war die Miete hier bestimmt nicht.

    Deswegen hatte auch nicht jeder Zutritt, und wie unnachgiebig unwillkommene Besucher zurückgewiesen wurden, bekamen Fabi und Oskar am eigenen Leib zu spüren. Nicht, dass sie versucht hätten, das Gebäude zu betreten, aber gerade, als sie an der Eingangstreppe vorbeigingen, wurde oben ein Junge in ihrem Alter zur Tür hinausgestoßen. Den Verantwortlichen sahen Fabi und Oskar nur flüchtig, es reichte gerade, um zu erkennen, dass es sich um einen Klotz von einem Mann handelte. Der Stoß, den er dem Jungen versetzt hatte, war so stark, dass der die Treppe unfreiwillig in zwei Sätzen nahm und wohl flach auf den Bürgersteig geklatscht wäre, hätte nicht Oskar im Weg gestanden. Der verlor unter dem Anprall selbst noch das Gleichgewicht und musste sich rasch bei seinem Freund festhalten.

    „Hoppla!“, murmelte der fremde Junge verlegen. „Tut mir leid, ich wollte euch nicht umrennen.“ „Schon gut“, beruhigte Oskar ihn. „Wir haben gesehen, dass der Typ dir geholfen hat, die Treppe runterzuspringen.“ „Scheint ja ziemlich gut bewacht zu sein, der Laden“, fügte Fabi hinzu. „Die lassen wohl nicht jeden rein, was?“ „Nein“, bestätigte der fremde Junge. „Da ist ein Pförtner, der fragt, zu wem man will, und dann fragt er da nach, ob er einen reinlassen darf.“ „Aha“, folgerte Fabi, „und du wurdest abgelehnt?“ Der fremde Junge schüttelte den Kopf. „Ich wollte in den Keller.“

    Fabi und Oskar wechselten einen Blick. „Was wolltest du denn da?“, wunderte Oskar sich. „Da würde ich auch keinen reinlassen, höchstens einen Handwerker, den ich bestellt hab.“ „Oder einen, der die Zähler abliest“, ergänzte Fabi. Da war vor ein paar Tagen erst jemand bei ihm zu Hause gewesen.

    Jetzt wand sich der fremde Junge. „Ich kann euch nicht sagen, warum, aber ich muss wirklich dringend in den Keller. Könnt ihr vielleicht…?“ „Den Portier ablenken?“, vollendet Fabi, als der Junge für einen Moment schwieg. „Vergiss es! Ich hab keine Lust, dass der mich am Kragen packt. Hast ja an dir selbst gesehen, dass der gerne Tickets für Fernflüge ausstellt.“

    Im nächsten Moment fühlte er sich am Arm gepackt. Der fremde Junge zog ihn mit sich, in die Einfahrt neben dem Bürohaus. Oskar folgte ihnen.

    „Hört zu!“, forderte der Junge sie auf, nach einem sichernden Blick in die Runde, ob sonst niemand mithörte. „Ich heiße Sebastian, und ich bin ein Weihnachtself.“

    Fabi und Oskar stutzten. „Ha, ha!“, machte Fabi mit Verzögerung, lachte aber nicht. „Verarschen kann ich mich selbst! Also, jetzt mal im Ernst, warum musst du unbedingt rein in den Laden?“ „Das Portal zur Weihnachtswelt ist da drin“, versuchte Elf Sebastian zu erklären. Er sah gar nicht aus, wie man sich einen Weihnachtselfen vorstellte, sondern wie ein ganz normaler Junge. Okay, ziemlich bunt, mit seiner vielfarbigen Jacke, aber sonst nicht weiter auffällig. „Ich muss dringend da hin“, fuhr er fort. „Ich habe kein Weihnachtspulver mehr.“ „Weihnachtspulver?“, echote Oskar. „Ist das so ein Zeug, was als Schnee auf Plastiktannen gestreut wird? Da kann ich dir einen Laden zeigen, wo du das kriegst.“

    Sebastian schüttelte den Kopf. „Nein, das meine ich nicht. Es ist ein magisches Pulver von den Tannen im Weihnachtswald. Ich brauche es, um den Menschen Weihnachtsstimmung zu bringen.“

    Zauberpulver? Weihnachtsstimmung bringen? Plötzlich fühlte Fabi sich unwohl. Der Typ hatte doch ein Rad ab, und wer so neben der Spur lief, der war vielleicht auch gefährlich. Vielleicht versuchte er, ein Loch in die Wand zu sprengen, wenn er sonst nicht in den Keller kam, wer wusste das schon. „Komm, wir gehen!“, forderte er Oskar auf und zog ihn mit sich, ohne auf eine Antwort zu warten. „Der spinnt doch!“ Oskar, dem der angebliche Weihnachtself auch unheimlich war, folgte dankbar, und Sebastian blieb allein zurück.


    ***


    Als Fabi mit Oskar zu Hause ankam, hing dort der Haussegen gewaltig schief. Was los war, war nicht zu erkennen, aber er spürte sofort, dass seine Mutter extrem gestresst war. Auf den zweiten Blick fiel ihm außerdem auf, dass seine kleine Schwester Feline sich offenbar in ihrem Zimmer verschanzt hatte. Sie war acht und musste, wenn die Mutter sie pünktlich abgeholt hatte, seit einer knappen Viertelstunde aus dem Hort zurück sein. Normalerweise saß sie um die Zeit noch in der Küche und erzählte, was sie in der Schule und im Hort erlebt hatte. Wenn ihre Mutter schon etwas fürs Abendessen vorbereitete, dann nutzte sie die Gelegenheit auch gern, um schon mal was zu naschen. Jetzt aber hörte Fabi sie in ihrem Zimmer rumoren, und die Tür war zu; das kam tagsüber eigentlich nie vor.

    „Alles okay?“, fragte er vorsichtig. Seine Mutter zuckte mit den Schultern und seufzte. „Im Hort gibt’s dieses Jahr kein Krippenspiel“, erklärte sie. „Du kannst dir ja denken, was Feline davon hält.“ Fabi nickte, denn er wusste, dass seine Schwester sich schon seit Wochen darauf freute, dass die Proben endlich losgingen. Im letzten Jahr hatte sie noch nicht mitmachen dürfen, weil sie noch nicht gut genug hatte lesen können, um den Text für eine Rolle auswendig zu lernen. Dieses Jahr hätte sie eine Rolle bekommen sollen, das hatten sie ihr fest versprochen, aber wenn das Krippenspiel komplett gestrichen war, war dieses Versprechen natürlich auch hinfällig. „Und warum?“, erkundigte Fabi sich. „Ich meine, warum machen sie dieses Jahr nichts?“ „Weil sich keiner gefunden hat, der es organisieren will“, erklärte seine Mutter. „Ich kann’s verstehen, das ist ja schon einiges an Aufwand. Das sind nicht nur die Proben und so, irgendwer muss auch die Aula herrichten, Kostüme besorgen, und so weiter und so fort… Und der ganze rechtliche Kram kommt ja auch noch dazu, mittlerweile braucht man ja selbst für so eine kleine Aufführung einen Berg von Genehmigungen.“

    Fabi war nicht überzeugt. Das Krippenspiel im Hort hatte Tradition, da gab es einen Fundus von Kostümen und Requisiten, die jedes Jahr aufs Neue verwendet wurden. Für die Betreuer war das doch bestimmt schon Routine, was sollte sich da in einem Jahr derart verändert haben? Aber seine Mutter hatte mit den Leuten gesprochen, und verhört hatte sie sich wohl kaum.


    ***


    „Sag mal“, fragte Oskar zwei Tage später auf dem Weg zur Schule, „müssten die nicht längst die Weihnachtsbeleuchtung aufgehängt haben?“ „Stimmt“, meinte Fabi. „Normalerweise hängen sie die doch Ende November schon auf. Na ja, vielleicht sind sie dieses Jahr später dran, ich meine, kann ja immer mal passieren, dass sie keine Leute frei haben, oder dass was kaputt ist und erst repariert werden muss.“

    Das konnte wirklich alles sein, und trotzdem ließ ihm die Feststellung irgendwie keine Ruhe. In den fünf Minuten, die ihm zwischen dem Erreichen der Schule und dem Klingeln zum Unterrichtsbeginn blieben, nahm er sein Handy und rief die Website der Stadtverwaltung auf. Die Weihnachtsbeleuchtung gab es, so lange er denken konnte, und wenn sie diesmal später oder gar nicht aufgehängt werden sollte, dann hatte es dazu sicherlich eine Verlautbarung gegeben.

    Tatsächlich stieß er über die Suchfunktion auf einen Eintrag in den Pressemeldungen der Stadt, der von Ende Oktober stammte. Da hatte sich der Stadtrat mit der Beleuchtung befasst und einstimmig beschlossen, sie bis auf Weiteres nicht mehr zu installieren. Begründet wurde das mit den Kosten für Auf- und Abbau, Strom und Wartung: Geld, das nach Ansicht der Stadträte sinnlos verpulvert wurde. Schließlich, so wurde der Bürgermeister persönlich zitiert, interessierte die Beleuchtung eh niemanden.


    ***


    „Wo feiern wir eigentlich dieses Jahr?“, erkundigte Fabi sich am Tag vor dem zweiten Advent beiläufig bei seiner Mutter. „Hier, oder bei Tante Martha?“ Sie feierten traditionell am ersten Weihnachtstag mit der ganzen Familie: Fabi mit seinen Eltern und Feline, seiner Tante Martha, die eine Halbschwester von seiner Mutter war, deren Freund und den drei Kindern, mit dem gemeinsamen Großvater und den beiden Großmüttern. Gefeiert wurde entweder bei Fabi oder bei Tante Martha, meist im jährlichen Wechsel. Demnach wären in diesem Jahr wieder Fabis Eltern dran gewesen als Gastgeber, aber irgendwie deutete so gar nichts darauf hin. Sonst machten seine Eltern sich schon mal Gedanken, was es zu essen geben sollte, und schauten, was sie sonst noch vorbereiten mussten. Aber jetzt? Fabi hatte sie noch nicht ein Mal über Weihnachten reden hören.

    „Eigentlich wären wir wieder bei uns gewesen“, antwortete seine Mutter. „Aber wir haben beschlossen, dass wir diesmal alles eine Nummer kleiner machen. Du glaubst ja gar nicht, was das immer für ein Aufstand ist, und wofür? Am Ende hocken doch immer die Gleichen zusammen und quatschen, oder es gibt gleich wieder Streit. Nein, wir werden einen kleinen Baum besorgen, sonst wäre Feline traurig, und ihr kriegt natürlich eure Geschenke, aber mehr brauchen wir doch nicht.“


    ***


    An diesem Abend war Fabi überaus nachdenklich. Irgendwie hatte er ein Gefühl, als würde Weihnachten in diesem Jahr gar nicht stattfinden. Oder genauer: als würde es stattfinden, und keinen interessierte es. Selbst Feline fieberte dem Fest nicht so entgegen wie sonst. In ihr nagte zwar immer noch die Enttäuschung, weil das Krippenspiel abgesagt war, aber davon ab war bei ihr keine Vorfreude zu spüren. Woher hätte sie auch kommen sollen: Es war ja nichts da, was sie in weihnachtliche Stimmung hätte versetzen können.

    Plötzlich musste er wieder an diesen Jungen denken, den Oskar und er vor dem neuen Bürobau getroffen hatten. War an der Geschichte doch etwas dran? „Quatsch!“, sagte er sich. Dieser Sebastian hatte einen Sprung an der Schüssel, vielleicht hatte er Oskar und ihn auch nur veralbert.

    Aber der Gedanke ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, und dass Weihnachten in diesem Jahr nicht so recht in Schwung kommen wollte, ließ sich nicht wegdiskutieren. Natürlich hatten die Läden Platz freigeräumt für Weihnachtsdeko, Spekulatius und Schokoweihnachtsmänner, und aus den Lautsprechern ertönten Weihnachtslieder, aber das war alles reine Verkaufsroutine. Genauso Routine, wie Feline sich Ende November im Supermarkt einen Adventskalender hatte aussuchen dürfen, an dem sie jeden Tag ein Türchen öffnete und ein Stückchen Schokolade herausholte. Feline freute sich natürlich, aber die Eltern hatten es einfach nur als Punkt auf der Liste stehen gehabt: abgehakt, fertig.

    Weil er ohnehin nichts Besseres vorhatte, meldete Fabi sich nach dem Frühstück am Sonntag nach draußen ab, um noch einmal zu dem neuen Bürobau zu gehen. Seinen Eltern erzählte er das natürlich nicht, die hätten ihn für verrückt gehalten. Womöglich hätten sie ihn sogar zu einem Psychologen geschleppt, der feststellen sollte, ob er geistig seinem Alter hinterherhinkte. Zum Glück brauchte er nicht genau über jede Bewegung Rechenschaft abzulegen, wenn er in einem festgelegten Umkreis blieb und sein Handy eingeschaltet bei sich hatte.

    Er wusste ja selbst nicht genau, warum ihn die Geschichte dieses merkwürdigen Jungen nicht losließ. War es, weil er irgendwas vermisste, weil ihm die Vorfreude fehlte, der er sich sonst vielleicht gar nicht so bewusst war? Egal, auf jeden Fall würde er sich den Neubau noch mal ansehen. Wahrscheinlich würde er nichts Auffälliges finden, aber dann hatte er wenigstens was getan.

    Am Sonntagmorgen war selbst auf der Hauptstraße nicht viel los. Ein Bus kam Fabi entgegen, eine ältere Frau war mit ihrem Hund draußen gewesen und verschwand in einem der Häuser.

    Die Geschäfte entlang der Hauptstraße waren natürlich geschlossen, nur die Tür einer Bäckerei ein Stück entfernt stand offen. Auch das neue Bürogebäude lag wie ausgestorben da, nur hinter zwei Fenstern in den oberen Stockwerken brannte Licht. Leute konnte Fabi nicht sehen, allein schon, weil die Fenster zu hoch lagen, um vom Bürgersteig aus reinzuschauen. Deshalb wusste er auch nicht, ob da jemand arbeitete, ob geputzt wurde, oder ob schlicht jemand vergessen hatte, das Licht auszumachen. Soweit er die Firmen auf den Schildern neben dem Eingang einer Branche zuordnen konnte, war nichts dabei, wo üblicherweise 24/7 gearbeitet wurde, aber es konnte ja trotzdem etwas Dringendes zu erledigen geben. Vielleicht brütete einer von den Anwälten Schrader, Schrader und Müricke noch über einer Fallakte, oder Röntgenarzt Paulsen war für den ärztlichen Notdienst eingeteilt. Fabis Mutter, die als Heizungsmonteurin arbeitete, musste auch regelmäßig Notdienst machen; allerdings brauchte sie dann nicht in der Firma abzuhängen und darauf zu warten, dass bei einem Kunden die Heizung streikte. Es gab ein Handy, auf das Notrufe außerhalb der Geschäftszeiten umgeleitet wurden, und zusätzlich nahm sie den Firmenwagen mit Werkzeug und gängigen Ersatzteilen mit nach Hause, wenn sie Notdienst hatte.

    Die Tür war geschlossen und der Empfang nicht besetzt. Aber die Mitarbeiter der Firmen hatten sicherlich Chipkarten für die Schließanlage und konnten jederzeit rein und raus. Und jetzt? Unschlüssig stand Fabi am Fuß der Treppe – was genau hatte er sich eigentlich davon versprochen, herzukommen? Das mit dem Portal zur Weihnachtswelt war doch sowieso Humbug, und er würde bestimmt keinen Einbruch begehen, um einem Luftschloss nachzujagen.

    Schulterzuckend wandte er sich ab. Was auch immer mit den Leuten los war, dass sie mit Weihnachten nichts mehr am Hut hatten, er würde nichts daran ändern können. Immerhin hatte er ein bisschen frische Luft abgekriegt, das war ja auch kein Schaden, und zu Hause hatte er schon nichts verpasst.

    Da stand plötzlich Sebastian vor ihm, Fabi wäre fast gegen ihn geprallt. „Was machst du hier?“, fragte der angebliche Weihnachtself, und er klang aufgeregt. „Willst du mir doch helfen?“

    Fabi atmete tief durch. „Hat doch keinen Sinn!“, sagte er dann. „Ich meine, in den Laden kommst du sowieso nicht rein, du hast ja gesehen, dass der Portier aufpasst wie ein Schießhund. Aber selbst wenn du reinkommen würdest, das Portal ist weg! Die haben hier alles abgeräumt, bevor sie angefangen haben zu bauen. Unter dem Haus ist eine Tiefgarage, und was meinst du, was so ein Bau für ein Fundament braucht! Da haben sie bestimmt fünfzehn oder zwanzig Meter tief gegraben, dein Portal liegt längst auf der Müllkippe.“

    Sebastian schüttelte den Kopf, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. „Das Portal in die Weihnachtswelt ist nicht so, wie du denkst, mit Säulen und einem Bogen aus Stein und schweren Türflügeln“, erklärte er. „Es ist überhaupt nicht zum Anfassen, man kann es also auch nicht wegbaggern. Glaub mir, es ist noch da.“ „Wie soll das gehen?“, fragte Fabi zweifelnd. Fast bereute er es, dass er noch mal hergekommen war. Na ja, solange dieser Sebastian nur rumfantasierte, ging es ja noch, und eigentlich war’s sogar unterhaltsamer als ein langweiliger Sonntagvormittag zu Hause.

    „Das Portal ist einfach da“, bekräftigte Sebastian. „Man muss nur wissen, wo es ist, man stellt sich dorthin, denkt ganz fest ans Weihnachtsland, und schon ist man da.“ „Aha“, machte Fabi. „Und das funktioniert nur, wenn du zentimetergenau an der richtigen Stelle stehst? Da hat ja Bluetooth mehr Reichweite!“

    Sebastian nickte betreten. „Na ja, vielleicht nicht auf den Zentimeter genau“, versuchte er die Ehre des Weihnachtslandes zu retten. „Aber ziemlich dicht dran eben. Draußen bin ich jedenfalls zu weit weg, das hab ich x-mal versucht.“ „Merken die in der Weihnachtswelt nicht, dass das Portal weg ist, und bauen ein anderes auf?“, wollte Fabi wissen. „Da könnte dann einer rauskommen und dir zeigen, wo das neue Portal ist, und schon ist die Sache geritzt.“ „Das Portal ist ja nicht weg“, erklärte Sebastian. „Es ist nur so zugebaut, dass ich nicht mehr drankomme. Außerdem hat jeder Weihnachtself sein eigenes Portal. Ich muss irgendwie in die Weihnachtswelt kommen, von dort aus kann ich das Portal verlegen.“ „Dann hast du das Portal selbst gemacht?“, wunderte sich Fabi. „Aber warum dann hier?“ „Das Kino, das hier früher war“, antwortete Sebastian, und es klang traurig, „hat meinem Großvater gehört. Er musste es schließen, weil die alten Projektoren die neuen Filme nicht mehr abspielen konnten, und für neue Technik hatte er kein Geld. Das Portal muss an einem Ort sein, zu dem der Weihnachtself eine persönliche Verbindung hat.“ „Hast du schon eine Idee?“, fragte Fabi. Sebastian zuckte mit den Schultern. „Hab ich noch gar nicht drüber nachgedacht“, gab er zu. „Bringt ja nichts, ich kann das Portal ja nicht verlegen, weil ich nicht drankomme. Sonst… Na ja, ich glaube, hinter der Turnhalle von meiner Schule, das könnte gehen. Zur Schule hat man ja irgendwie eine persönliche Beziehung, oder? Außerdem hat mich im Sommer eine aus der Fünften da hingezerrt, um mich zu küssen.“ Er wurde rot. „Wollte ich gar nicht so richtig, aber na ja. Das sollte reichen fürs Portal, findest du nicht?“

    Jetzt erst bemerkte er die Fragezeichen in Fabis Augen. „Was ist denn?“, fragte er. „Du gehst zur Schule?“, wunderte Fabi sich. „Ich dachte…“ „Dass ich nur in einer Fantasiewelt lebe und mit dem normalen Leben nichts zu tun hab?“, vollendete Sebastian. „Abgesehen von meinem besonderen Auftrag bin ich die meiste Zeit ein durchschnittlich blöder Sechstklässler. Sonst könnte ich das Weihnachtspulver auch gar nicht unauffällig verteilen.“

    Das klang logisch, trotzdem fiel es Fabi schwer, das zu glauben. Aber war nicht eigentlich die ganze Geschichte völlig unglaubwürdig? Trotzdem konnte er sich dem nicht entziehen, und irgendwas stimmte in diesem Jahr auf jeden Fall nicht mit Weihnachten. „Okay, also musst du da rein, oder Weihnachten fällt aus“, schloss er. „Alles andere findet sich dann.“


    ***


    Der Pförtner, der am Montagnachmittag Dienst hatte, war Raucher. Es war der gleiche, der Sebastian rauskomplimentiert hatte, offenbar versah er regelmäßig die Mittagsschicht. Aber jeder andere wäre Fabi und Oskar genauso recht gewesen, wenn er sich nur für einen Augenblick ablenken ließ.

    Sie hockten an einer Straßenecke, die mit einem Haus zuzubauen wohl vergessen worden war. Ein kleiner Platz unterbrach hier die Häuserzeilen, und die Stadt hatte sich bemüht, ihn ein wenig wohnlich zu gestalten. Der Erfolg war mäßig, die beiden Bänke luden mit ihrem Blick auf die Fassaden nicht zum Verweilen ein, und das Bäumchen in seiner runden Baumscheibe mühte sich zwar, kam aber nicht an gegen die naturferne Umgebung. Aber die Jugendlichen aus der Umgebung nahmen den Treffpunkt, den ihnen niemand streitig machte, dankbar an. Weil sie keine Randale machten, ließ man sie gewähren, auch wenn die Inhaber der umliegenden Geschäfte sie teilweise mit Misstrauen betrachteten. Auf jeden Fall fielen Fabi und Oskar nicht auf, weder den Jugendlichen, die in der Nähe standen, noch irgendwem in der Umgebung. Sie taten so, als würden sie sich ausschließlich mit ihren Inlinern beschäftigen, aber sie hatten jederzeit das neue Bürohaus im Blick.

    Eine gute halbe Stunde mussten sie sich gedulden, dann sahen sie, wie der Pförtner nach draußen kam. Er entfernte sich ein paar Schritte vom Eingang, vielleicht war er so rücksichtsvoll, vielleicht war es ihm auch vorgeschrieben worden. Als er sich seine Zigarette anzündete, verabschiedete Oskar sich von Fabi und rollte den Bürgersteig entlang.

    Was kommen würde, war klar, es war der älteste Trick der Welt, aber immer noch wirksam. Vielleicht gerade, weil er so alt und so simpel war? Ein unsichtbares Hindernis schlug Oskar die Rollen am rechten Fuß aus der Spur, er trat sich selbst in die Hacken, und das war nicht gut für sein Gleichgewicht.

    Wehgetan hatte er sich nicht, denn auch wenn es nicht so ausgesehen hatte, hatte er seinen Sturz doch recht gut kontrolliert. Er war auf die Schulter gefallen, den Ellbogen hatte der Schützer gesichert, auch das Knie war gut geschützt. Aber das konnte der Pförtner nicht wissen, er erschrak sichtlich und rannte los, ohne darüber nachzudenken.

    Das gab Sebastian die nötige Zeit, die Treppe hinaufzugehen und weiter in die Eingangshalle. Er bewegte sich ganz offen, der Pförtner hatte keine Muße, den Eingang im Auge zu behalten. Wahrscheinlich schauten auch sonst alle zu dem gestürzten Inlineskater, aber wenn nicht, dann weckte Sebastian so am wenigsten Verdacht. Wäre er dagegen geduckt reingehuscht, dann hätte doch jeder, der ihn sah, den Pförtner lauthals gewarnt, dass der Sturz gespielt und eine Falle war.

    Dass Oskar erst mal auf dem Boden hocken blieb, nach einer halben Minute aber doch aufstand und versicherte, dass ihm nichts passiert war, konnte dagegen kein Misstrauen wecken. Wohl fast jeder wäre erst mal sitzen geblieben, bis Schreck und Schmerz etwas nachließen, und hätten in sich reingehorcht, ob wirklich nichts kaputt war. Auch der Pförtner dachte sich nichts dabei, er schien froh zu sein, dass er keine Erste Hilfe leisten musste.


    ***


    „Und, alles geklappt?“, fragten Oskar und Fabi wie aus einem Mund. Dabei lag die Antwort auf der Hand, denn wenn es nicht geklappt hätte, dann hätte Sebastian unmöglich schon an seiner Schule sein können. Fabi und Oskar hatten sich nach dem gefakten Unfall außer Sichtweite des Bürohauses wieder getroffen und waren so schnell wie möglich hergeskatet. Damit waren sie auf jeden Fall schneller als Sebastian zu Fuß, er hatte ihnen also nur mit einer Abkürzung durch die Weihnachtswelt zuvorkommen können.

    „Ja, ging ganz leicht“, bestätigte Sebastian. „Wo die Kellertür ist, hatte ich schon gesehen, sie war auch nicht abgeschlossen, und unten konnte ich das Portal gleich aktivieren. Jetzt ist es hier, hinter dem Busch.“

    „Clever!“, befand Fabi. Hinter dem Busch, direkt an der Wand der Turnhalle, war Sebastian nicht zu sehen, wenn er plötzlich auftauchte, aber es gab eine kleine Lücke, sodass er auch die Zweige der Büsche nicht verräterisch bewegte. Vielleicht würde es peinlich werden, versteckt abzuwarten, bis ein Pärchen, das sich eine stille Ecke gesucht hatte, fertig war mit Knutschen, aber zur Not konnte er sich ja noch mal für eine Weile in die Weihnachtswelt verkrümeln.

    „Und wie geht’s jetzt weiter?“, wollte Oskar wissen. „Was machst du mit dem Weihnachtspulver? Streust du es aus, irgendwo von einem Turm aus?“ „Eigentlich nicht“, antwortete Sebastian. „Das Weihnachtspulver braucht eigentlich persönlichen Kontakt, die Menschen müssen es weitergeben. Weiß nicht, ob es funktioniert, wenn ich es einfach nur über der Stadt ausschütte.“ „Aber viel Zeit hast du nicht mehr“, gab Fabi zu bedenken. „Sonst ist Weihnachten vorbei. Können wir dir beim Verteilen helfen? Ich meine, wenn du sagst, die Menschen müssen es weitertragen, dann könntest du uns ja eine Portion...“

    Sebastian überlegte. „Ich hab noch nie mit Helfern…“, murmelte er unsicher. „Und eigentlich hätte ich euch gar nicht erzählen dürfen, dass ich… Aber ohne euch wäre ich nicht in das Haus gekommen…“ Er straffte sich. „Es sind nur noch zwei Wochen bis Weihnachten“, stellte er unwiderlegbar fest. „Wenn es noch klappen soll, dann wird jetzt jede Hand gebraucht. Also gut, ich erkläre euch, wie wir’s machen…“


    ***


    Es war ein Kraftakt geworden, obwohl Fabi die Sache körperlich gar nicht so anstrengend gefunden hatte. Jeden Tag hatten er und Oskar sich mit Sebastian getroffen, und er hatte sie großzügig mit seinem Weihnachtspulver eingepustet. Es brauchte nur eine Winzigkeit, eine Menge, die man gar nicht sehen konnte, um einen Menschen in Weihnachtsstimmung zu versetzen, aber je mehr sie selbst davon an sich trugen, desto mehr konnte auf andere überspringen. Wahrscheinlich war auch ein bisschen was aus der Nachbarschaft in die Stadt getragen worden, von Berufspendlern und Besuchern, aber das reichte nicht. Sebastian kannte auch die anderen Weihnachtselfen in der Umgebung nicht, deshalb hatte er sie nicht um Hilfe bitten können. Zuletzt hatte er Fabi und Oskar noch verraten, dass vor allem die Erwachsenen das Weihnachtspulver brauchten; Kinder waren meistens auch ohne empfänglich genug für diese ganz besondere Stimmung.

    Sie hatten einen genauen Plan gemacht, denn es war keine Zeit mehr gewesen, um die Weihnachtsstimmung sich zufällig ausbreiten zu lassen. So hatte Fabi eigens eine öffentliche Sitzung des Stadtrats besucht, denn da hatte er die höchsten Entscheider der Stadt alle hübsch versammelt gehabt. Es war ganz leicht gewesen, er hatte auf der erhöhten Besucherempore im Ratssaal nur einmal über seinen Handrücken blasen müssen, wie um Staub oder ein vorwitziges Insekt wegzupusten, und schon hatte sich das Weihnachtspulver über den Bürgermeister und die Abgeordneten gesenkt.

    Am nächsten Tag hatte er seiner Mutter angeboten, Feline aus dem Hort abzuholen. Seine Mutter war überrascht gewesen, aber auch dankbar, und so hatte er ganz nebenbei die Betreuer im Hort und auch ein paar Eltern „verarzten“ können, die ihre Kinder abgeholt hatten.

    Alles in allem war Fabi fast ständig unterwegs gewesen, und er hatte sich viele verwunderte Blicke seiner Eltern gefallen lassen müssen. Doch je mehr er herumgekommen war und Weihnachtspulver verbreitet hatte, desto mehr hatte er die Wirkung gespürt. Es war nicht immer wirklich zu greifen, er fühlte einfach nur eine veränderte Stimmung. Aber nicht nur, es gab auch sichtbare Veränderungen: Die Stadt hatte gerade noch rechtzeitig zum dritten Advent doch noch die Beleuchtung aufgehängt, und Fabis Mutter hatte entschieden, die Familie doch einzuladen am ersten Weihnachtstag.

    Nach so viel Rennerei durften Fabi, Oskar und Sebastian sich am Nachmittag von Heiligabend zurücklehnen. Ein bisschen waren sie selbst überrascht, dass trotz des späten Starts doch noch vieles geklappt hatte, und sie freuten sich darüber.

    Zu dritt saßen sie auf den nicht sehr bequemen Holzstühlen in der Aula von Felines Schule, umgeben von stolzen Eltern, und verfolgten das Krippenspiel. Dafür, dass sie nur noch anderthalb Wochen gehabt hatten, den Text zu lernen, spielten die Kinder erstaunlich gut, und man spürte, wie viel Freude sie daran hatten.

    Feline als eine der Jüngsten spielte einen Hirten und hatte nur wenige Sätze zu sagen auf der Bühne. Trotzdem war sie glücklich, und als das Spiel zu Ende war und die Kinder zu ihren Eltern rannten, war Fabi der Erste, den sie umarmte. „Danke!“, flüsterte sie. „Es war so toll!“

    Fabi wurde rot, und er war froh, dass sie das im gedimmten Licht nicht sehen konnte. Glaubte sie, er steckte hinter dem Sinneswandel der Betreuer? Steckte er ja auch, aber das konnte sie doch nicht wissen, oder? Aber was war schon unmöglich? Weihnachten hatte so viele Geheimnisse, man musste nur richtig hinsehen und offen sein dafür, das hatte er gelernt in den letzten Tagen.

  • Der 18. Dezember von belladonna


    Eine Weihnachtsgeschichte


    Es war der Morgen des 24. Dezember. Die kleine Gretel saß in ihrem Kinderzimmer am Fenster und blickte trübsinnig hinaus ins Schneetreiben. Immer nur Schnee, Schnee, nichts als Schnee und niemand da, mit dem sie einen Schneemann hätte bauen können oder eine Schneeballschlacht machen. Zwar waren schon seit ein paar Tagen Ferien, doch ihre Freunde wie auch sie selbst durften sich mit niemandem treffen, um das Weihnachtsfest in der Familie nicht noch in letzter Minute durch eine Ansteckung mit dem allgegenwärtigen Corona-Virus zu gefährden. Immer dieses blöde Virus, wie sie es hasste! Alles machte es kaputt.

    Die Eltern hatten auch keine Zeit für Schneemänner oder Schlitten fahren, die waren mit Hausputz und Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt und taten furchtbar geheimnisvoll. Die Tür zum Wohnzimmer war bereits abgeschlossen und überhaupt stand Gretel nur im Weg herum, wenn sie versuchte, der Mutter zu helfen. Also saß sie allein in ihrem Zimmer und langweilte sich langsam aber sicher zu Tode. Unten klingelte das Telefon und Gretel hörte ihre Mutter ein kurzes Gespräch führen, das mit einem „Ja, gut, ich sag’s ihr!“ endete. Gleich darauf stand die Mutter in Gretels Zimmer. „Gretel, Oma hat angerufen und dich für heute zu sich eingeladen! Sie sagt, sie könnte gut deine Hilfe beim Dekorieren brauchen. Papa fährt dich hin, hast du Lust?“

    Na, und ob Gretel Lust dazu hatte! Bei Oma war es immer schön. Sie wohnte in einem kleinen Häuschen draußen am Waldrand, zusammen mit ihrem alten Hund Timmi und der Katze Minka. Bei Oma wurde es nie langweilig, außerdem backte Oma die besten Weihnachtsplätzchen auf der ganzen Welt. Schnell packte sie ihren kleinen Rucksack und schnappte sich Foxi, ihr geliebtes Kuscheltier, ohne das sie nirgendwo hinging.


    Die Fahrt zu Oma dauerte doppelt so lang wie sonst, weil Papa nur ganz langsam durch das dichte Schneetreiben vorwärts kam und ständig aufpassen musste, nicht von der Straße zu rutschen. Von der Gartenpforte zu Omas Haustür war immerhin ein kleiner Pfad freigeschaufelt worden, doch am Haus reichte der Schnee schon fast bis zu den Fensterbrettern hinauf. Ob sie wohl heute Feuer im Kamin machen würden? Oma besaß noch einen alten, offenen Kamin und Gretel fand es immer so gemütlich, im Winter vor dem Feuer zu sitzen und zuzuschauen, wie die Scheite langsam herunterbrannten.


    Rasch verabschiedete Gretel sich von Papa und lief ins Haus. Dort roch es schon ganz wunderbar weihnachtlich nach Tannenzweigen, Zimt und frischgebackenen Keksen. Gretel fand Oma in der Wohnstube, wo sie in Kisten mit Weihnachtsschmuck kramte. „Hallo Gretel, wie schön, dass du schon da bist!“, rief Oma. „Du kommst genau richtig – meinst du, du kannst mir helfen, den Weihnachtsbaum zu schmücken?“ Gretel strahlte übers ganze Gesicht – und ob sie das konnte! Zu Hause durfte sie das nie, da stand der Baum im verschlossenen Wohnzimmer und sie bekam ihn immer erst bei der Bescherung zu sehen. Dabei war das Schmücken doch der viel größere Spaß! Mit Feuereifer machte sie sich an die Arbeit. Omas Christbaumschmuck war ein Sammelsurium aus Kugeln und Anhängern, manche schon sehr alt, und zu fast jedem Stück wusste Oma eine Geschichte zu erzählen. Dazu befestigten sie noch kleine Kerzenhalter an den Zweigen, denn bei Oma gab es nur echte Bienenwachskerzen. Von „neumodischem Zeug“ wie Lichterketten hielt sie überhaupt nichts.


    So verging die Zeit wie im Flug und allmählich wurde es draußen dunkel. Gretel spähte zum Fenster hinaus. „Wollte Papa nicht kommen und mich abholen?“, fragte sie Oma. „Tja, ich weiß auch nicht“, antwortete die, „ob er bei dem Wetter überhaupt durchkommt?“ Tatsächlich hatte das Schneetreiben den ganzen Tag nicht nachgelassen und auch der Pfad zur Straße hin war kaum noch zu erkennen. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Es war Gretels Mutter: „Gretel, Papa kann dich heute nicht mehr abholen! Die Straßen sind zu, sie haben eben durchgesagt, dass der Schneepflug nicht vor morgen früh bis zu uns durchkommt. Du musst über Nacht bei Oma bleiben!“. Gretel war entsetzt: „Aber Mama, was ist mit euch? Und mit der Bescherung? Heute ist doch Heiliger Abend!“ Sie fing an zu weinen. „Ach mein Schatz, ich kann es doch auch nicht ändern, dann feiern wir eben morgen zusammen und heute macht ihr euch einen schönen Abend zu zweit. Und jetzt gib mir bitte mal Oma ans Telefon!“ Gretel war untröstlich und weinte auch noch, als Oma längst den Hörer aufgelegt hatte. Sie war zwar sehr gern bei Oma, aber ausgerechnet am Heiligen Abend? Sie hatte sich doch schon so auf ihre Geschenke gefreut!

    Oma nahm sie in den Arm. „Nun weine doch nicht so sehr, mein Kleines! Schau mal, Timmi ist schon ganz verstört, weil du so laut schluchzt!“ Tatsächlich, Omas alter Hund lag unter dem Tisch und machte ein Gesicht, als wollte er jeden Moment mitjaulen. „Weißt du eigentlich“, fuhr Oma fort, „dass ganz viele Kinder auf der Welt erst am 25. Dezember oder noch später ihre Weihnachtsgeschenke bekommen?“ „Echt?“, Gretel guckte verblüfft. „Ja, tatsächlich“, antwortete Oma, „und wenn du mir jetzt fix beim Aufräumen hilfst, machen wir uns nachher ein Feuer im Kamin und ich erzähle dir davon.“


    Nach dem Abendessen machten Oma und Gretel es sich im Wohnzimmer in den alten Ohrensesseln vor dem Kamin gemütlich. Das Feuer knisterte, Timmi schnarchte auf seiner Decke und auch die Katze hatte sich auf Omas Schoß zusammengerollt und schnurrte leise. Gretel kuschelte sich mit Foxi im Arm in ihre Wolldecke, schaute in die tanzenden Flammen und Oma begann zu erzählen. Von Father Christmas, dem Weihnachtsmann, der in der Heiligen Nacht auf seinem Rentierschlitten um die Welt reist und die Geschenke verteilt, von Väterchen Frost in Russland und von der Befana in Italien, von skandinavischen Weihnachtstrollen und noch vielen anderen mehr, bis Gretel kaum noch die Augen offen halten konnte. „Oma“, gähnte sie, „glaubst du, Father Christmas kommt auch bei uns vorbei? Vielleicht kann er mir ja meine Geschenke bringen? Einen Kamin hast du ja und Schnee liegt auch genug! Obwohl“, sie guckte zweifelnd in die glimmenden Scheite, „ob er sich da bei der Landung nicht verbrennt, wenn er durch deinen Kamin rutscht?“ „Das kann ich dir auch nicht sagen“, meinte Oma, „aber wir lassen das Feuer ja jetzt ausgehen und ich bin sicher, er wird schon wissen, wie er es anstellen muss. Wenn du magst, können wir ihm ja Milch und Kekse zur Stärkung hinstellen, falls er vorbeikommt!“ „Au ja!“, Gretel war sofort begeistert, „und Möhren für die Rentiere!“


    In dieser Nacht träumte Gretel, dass sie mit Timmi im Wald hinter Omas Haus unterwegs war, als sie in der Ferne einen Lichtschein bemerkte und meinte, leises Schellengeläut zu hören. Auch Timmi horchte auf. Ob das der Weihnachtsmann war? Vielleicht besuchte er sie tatsächlich! Gretel und Timmi liefen in Richtung des Lichtscheins und als sie näher kamen, trauten sie ihren Augen nicht. Dort fuhr tatsächlich ein Schlitten durch den Wald und auf ihm saß, in einen dicken Pelzmantel gehüllt, der Weihnachtsmann! Der Mantel war zwar nicht rot, wie Gretel es aus der Werbung kannte, aber das konnte nur Father Christmas sein, und er musste es mächtig eilig haben. Die Rentiere zogen den Schlitten in einem solchen Tempo durch den Wald, dass ab und zu ein Päckchen hinten vom Schlitten fiel, wenn das Gefährt eine Bodenwelle nahm oder zu schnell um eine Kurve fuhr. Auch ein Sack mit Äpfeln und Nüssen schien aufgegangen zu sein, sodass der Schlitten eine Spur aus Gaben und Geschenken hinter sich herzog. Gretel hätte die Päckchen am liebsten eingesammelt, aber sie wagte sich nicht näher heran. Was, wenn die Geschenke gar nicht für sie bestimmt waren? Aber was würde nun daraus werden? Fragend schaute sie Timmi an, doch der blieb stumm. Vermutlich wusste er auch keine Antwort. Die Tiere des Waldes dagegen schienen weniger Bedenken zu haben. Eins nach dem anderen wagte sich ein Rudel Rehe aus dem Dickicht und auch ein paar Wildschweine und Eichhörnchen tauchten auf und machten sich hungrig über die Äpfel und Nüsse her, bis bald nichts mehr davon übrig war.


    Gerade als Gretel überlegte, sich doch eins der heruntergefallenen Päckchen zu nehmen, wurde sie wach. Es war Morgen und der Duft von Kakao und frisch gebackenen Waffeln hatte sie geweckt. Rasch zog sie sich an und lief hinunter in die Küche. „Guten Morgen, mein Schatz!“, begrüßte sie Oma. „Setz dich und lass es dir schmecken, damit du nachher Kraft zum Schneeschaufeln hast, und vielleicht magst du ja auch einen Schneemann bauen? Papa hat schon angerufen, bis Mittag sollen die Straßen geräumt sein und dann kommen deine Eltern und wir können gemeinsam Weihnachten feiern!“ „Au ja, prima!“, freute sich Gretel. „Darf ich auch schon ins Wohnzimmer? Ich wüsste zu gern, ob der Weihnachtsmann heute Nacht hier war! Ich hab nämlich geträumt, dass ich ihn hier bei dir im Wald gesehen habe!“ „Soso, hattest du das“, meinte Oma, „dann musst du wohl mal nachschauen gehen. Aber zuerst wird gefrühstückt!“


    In Windeseile vertilgte Gretel ihre Waffel und trank ihren Kakao, dann rannte sie aus der Küche. Als sie vorsichtig die Tür zum Wohnzimmer öffnete und hineinspähte, traute sie ihren Augen nicht. Die Milch und die Kekse, die sie für den Weihnachtsmann hingestellt hatten, waren verschwunden! Nur noch ein paar Krümelchen lagen auf dem Teller, das Milchglas war leergetrunken und auch die Möhren waren nicht mehr da. Stattdessen lagen nun mehrere Päckchen unter dem Weihnachtsbaum, und diese Päckchen, da war sich Gretel ganz sicher, sahen genauso aus wie die aus ihrem Traum! Wie konnte das sein? „Oma, Oma, komm schnell und schau, der Weihnachtsmann war tatsächlich hier! Er hat mich nicht vergessen, und er hat Geschenke gebracht!“ „Ja, das hat er wohl“, Oma stand in der Tür und schmunzelte. „Frohe Weihnachten, mein Schatz!“

  • Der 19. Dezember von Johanna & Fipsi


    Hilfe für den Weihnachtsmann


    Da haben die vier Mädchen doch tatsächlich wieder ein unglaubliches Abenteuer erlebt. Mittlerweile alle ein Jahr älter, näherte sich wieder in schnellen Schritten die Weihnachtszeit.


    Der Kamin im Wohnzimmer ist der Lieblingsplatz von Marianne, da sie sich immer dort hinter versteckt, plötzlich hervor lugt und „huhu“ sagte und dabei über das ganze Gesicht grinst.


    „Mir ist sooo langweilig, das dauert noch sooo lange bis Weihnachten. Letztes Jahr war es viel spannender, als wir den Weihnachtsmann getroffen haben“, jammerte Mathilde. „Und Rudolph“ ergänzte Madita.

    „Ich würde ihn gerne wiedertreffen, ob er sich noch an uns erinnert?“ fragte sich Juliana.


    So waren sie also an diesem 3. Advent im Kaminzimmer zusammen und ihnen war langweilig.

    Marianne futterte eine Rosine nach der anderen in einer atemberaubenden Geschwindigkeit, zwischendurch mußte auch eine Nuß daran glauben. Madita puhlte lustlos an einer Mandarine herum und Juliana starrte wie gebannt auf ihr Handy und war nicht ansprechbar.

    Mathilde lag auf dem Teppich vor dem Kamin und malte gelangweilt an einem Bild. Schließlich begannen sich Mathilde und Madita vor lauter Langeweile auch noch zu streiten und Marianne verschluckte sich vor Schreck an einer Rosine, konnte sie aber zum Glück schnell wieder ausspucken.


    Auf einmal ertönte ein Knistern, ein leichter Wind kam auf und plötzlich rauschte ein kleiner Engel durch den Kamin, plumpste auf den Teppich, fiel direkt von Mathilde und schüttelte sich erst einmal: „Ganz schon beschwerlich, hier durchzurutschen, vor allem ist es so dreckig“. Der kleine Engel drehte sich, klopfte sich dabei den Ruß ab. „Na, wie seh ich aus. Ist noch irgendwo etwas hängengeblieben?“


    Die Mädchen starrten die kleine Gestalt an und rührten sich nicht. Der Streit war augenblicklich vergessen.

    Am schnellsten faßte sich Juliana.

    Sie kannte das ja schon – also jetzt nicht in echt, aber als Expertin in Harry Potter Dingen, kam es ihr jetzt nicht soo ungewöhnlich vor, daß jemand den Kamin als Reiseweg benutzte.

    Allerdings dachte sie bis gerade eben, daß das ausschließlich in den Harry Potter Geschichten passierte.



    „Ihr wundert Euch bestimmt, warum ich zu Euch komme, aber, der Weihnachtsmann braucht Hilfe. Sämtliche Wichtel haben sich krank gemeldet und nun steht das Geschenke einpacken und das Kekse backen auf dem Spiel“, sagte der Engel.

    „Plätzchen“ murmelte Mathilde: „Das heißt Plätzchen und nicht Kekse“

    „Was? Ach, bei mir heißt das Weihnachtskekse, aber ist ja jetzt auch egal, Hauptsache, wir werden damit bis Heiligabend fertig, damit die Kinder dieses Jahr nicht leer ausgehen“ antwortet der Kleine Engel.

    „Seid Ihr bereit, mitzuhelfen? Der Weihnachtsmann hat Euch noch in so guter Erinnerung vom letzten Jahr, als ihr ihm helfen konntet, Rudolph wieder zu finden.“


    „Na klar“ meinte Madita gleich: „Endlich mal wieder etwas spannendes machen.“ „Oh ja, den Weihnachtsmann wieder treffen, da freu ich mich riesig drauf“, fiel auch Mathilde ein.

    Juliana meinte: „Aber sicher sind wir dabei, wenn unsere Hilfe gebraucht wird, keine Frage. Nur, was passiert, wenn unsere Eltern demnächst nach Hause kommen und wir sind nicht hier?“

    „Kein Problem“, sagte der kleine Engel „wenn ihr zurück kommt, ist hier auf Erden keine Zeit vergangen.“

    „Hätt ich mir ja denken können, wenn Du schon durch den Kamin kommst. So etwas, wie Zeitumkehr?“ fragte Juliana

    „So ähnlich, eine andere Berechnung der Zeit, aber das kann Dir der Weihnachtsmann besser erklären.“ antwortete der Engel und wandte sich Marianne zu:„Hmm, Du bist noch ein wenig zu klein, Knuffi, Du bleibst besser hier“, sagte der Engel zu Marianne.


    Allerdings hatte der Engel nicht mit der Reaktion Mariannes gerechnet. Trotz ihrer erst zwei Jahre war sie doch schon sehr eigen. „Ich bin kein Knuffi, ich bin Marianne“ funkelte sie den kleinen Engel empört an. „Ich bin Marianne, will mit, Marianne mitkommen“


    Ganz erschrocken über die wütende Reaktion der kleinen Dame meinte der Engel leicht hilflos: „ ok, ok, kein Problem, dann kommst Du mit und kannst Dich dann etwas um Rudolph kümmern“.


    Dann ging es los. Die Mädchen und der Engel nahmen sich alle an die Hand. Es rauschte, drückte ein wenig in Ohren und sie sausten durch den Kamin in die Höhe und standen dann auf einmal vor dem Sessel des Weihnachtsmannes, der sie strahlend ansah: „Wie schön, ich wußte, ich kann mich auf euch verlassen. Ich bin so froh, daß ihr gekommen seid mir zu helfen. Meine Wichtel sind alle krank und können nicht weiterarbeiten. Bis sie wieder gesund sind, ist Weihnachten vorbei und das Geschenke und Plätzchen verteilen müßte ausfallen und das würde so viele Kinder traurig machen.“



    Dann führten der Weihnachtsmann und der kleine Engel die Schwestern in einen großen Salon, in dem Berge von Geschenken lagen, die darauf warteten, eingewickelt zu werden.


    „Das geht ganz leicht und fix mit der Geschenkeeinwickelmaschine, wenn man erst mal den Dreh raushat“, erklärte der Weihnachtsmann: „ Eine liest die Wunschzettel vor, die andere bedient die Maschine mit den kleinen Hebelchen hier“.

    „Die Wunschzettel kann ich vorlesen, ich bin doch jetzt in der Schule und kann auch schon lesen“ meinte Mathilde. Gleich ergänzt von Madita, die erklärte: „oh ja, ich will die Maschine bedienen, das macht Spaß“.


    Auf dem weiteren Weg durch den Salon zeigte der Weihnachtmann ihnen eine weitere Maschine:. „Das ist Teiganmachausstechbackmaschine. Ist noch manuell und nicht digital, aber funktioniert einwandfrei.“


    „Das mach ich, das sieht nach Spaß aus und vor allem ich kann zwischendurch mal naschen“, lachte Juliana.


    „Und Du kleine Dame“, sagte der Weihnachtsmann zu Marianne „kommst mit mir und wir machen es uns gemütlich und ich lese Dir etwas vor“.

    „Aber paß auf“, merkte Madita an: „Sie büxt immer noch so gerne aus, wie letztes Jahr“


    Die Arbeit ging den Mädchen leicht von der Hand und der große Berg der Geschenke wurde immer kleiner und die fertig eingepackten Geschenke stapelten sich langsam. Auch die Keksdosen füllten sich allmählich.


    Marianne, die immer und an allen unmöglichen Stellen einschlafen konnte, war indessen auf dem Sofa eingeschlafen und der Weihnachtsmann wurde ebenfalls müde als er ihr zusah und legte daher auch ein kleines Nickerchen ein.


    So schnell Marianne einschlafen konnte, so schnell wachte sie allerdings auch wieder auf. Als sie sah, daß der Weihnachtsmann auf seinem Sessel eingenickt war, krabbelte sie von ihrem Sofa und ging auf Zehenspitzen an dem schlafenden Weihnachtsmann vorbei.


    Unbemerkt schlich sie sich in den Salon, sah den wachsenden Berg der bereits eingewickelten Geschenke, strahlte: „Gechenke au`packen“ und stapfte darauf zu.

    Mathilde und Madita waren so vertieft in ihre Arbeit, daß sie ihre Schwester nicht bemerkten,

    Währenddessen war Marianne an dem Stapel angekommen, nahm eines der fertigen Geschenke herunter und machte sich mit Begeisterung daran, es auszupacken. Sie liebte es eben, Geschenke auszuwickeln. Es blieb auch nicht bei einem Geschenk.



    Da bemerkte Juliana, die Mathilde und Madita gerade ein paar fertige Plätzchen bringen wollte, was da vor sich ging: „Oh nein, Marianne, was macht Du denn da? „ Gechenke au`packn, alle meine“, strahlte diese Juliana an.


    „Nein, das sind doch die Geschenke für alle Kinder, die sie zu Weihnachten bekommen sollen“, erklärte ihr Juliana.

    Marianne sah sie trotzig an und sagte:“nein, meins“

    Glücklicherweise kannte Juliana ihre Schwester gut genug, um zu wissen, wie sie sie ablenken konnte „Marianne, was hältst Du davon, wenn Du mir mit den Plätzchen hilfst? Da sind auch ganz viele mit Schokolade dabei.“

    Das war das Zauberwort, ok, eher das Lieblingswort von Marianne. Schon stürmte sie los und jubelte: „Sokolade, ja, ja, Sokolade“.


    So konnten sie alle schnell weitermachen, während Marianne quitschvergnügt neben der Teiganmachausstechbackmaschine saß und das ganze Gesicht voller Schokolade hatte.


    Als sie fertig waren, weckten sie den Weihnachtsmann, der ganz erstaunt war, daß er überhaupt eingeschlafen war. Er war überglücklich, als die vier Mädchen ihm ihre fertige Arbeit zeigten.

    „Oh wie wunderbar, das habt ihr super hinbekommen. Nun kann Weihnachten kommen und kein Kind muß leer ausgehen. Ich danke euch.“


    Dann lachte er: „Ich habe auch eine kleine Überraschung für euch, da ihr mir so sehr geholfen habt.

    Nicht ganz einfach zu bewerkstelligen, aber ihr habt ja Erfahrung damit, euch in der Nacht vor Heiligabend heimlich aus dem Haus zu schleichen“.

    Er grinste und fuhr fort: „hättet ihr Lust, mich in der Nacht auf den 24. Dezember auf meiner Fahrt zu den Kindern zu begleiten und mir zu helfen die Geschenke zu verteilen? Rudolph ist natürlich auch mit dabei, einer muß ja schließlich den Schlitten ziehen.“


    „Oh, wie cool“, rief Mathilde begeistert: „Das finde ich eine richtig tolle Idee.“ Madita war auch sofort Feuer und Flamme: „jaa, mit Rudolph fliegen, das habe ich mir so gewünscht“. Marianne krähte los „Slitten fahrn, au ja, Marianne kommt mit“.


    Juliana war ebenfalls hochbegeistert, meinte nur: „Da müssen wir uns was einfallen lassen, wie wir heimlich aus dem Haus kommen, aber das machen wir schon. An guten Ideen mangelt es uns ja nicht.“


    So war das also abgemacht. Der Engel kam wieder ins Zimmer, nahm sie bei der Hand und flugs plumpsten sie eine nach der anderen schon wieder auf den heimatlichen Teppich.



    Und so geschah es dann nachts am 23. Dezember, daß sich die vier Mädchen still und heimlich aus dem Haus schlichen, wo der Weihnachtsmann mit Rudolph schon auf sie wartete und sie nacheinander jubelnd auf den vollbepackten Schlitten hüpften, sich in die Lüfte erhoben und mit dem Weihnachtsmann die Nacht flogen.

  • Der 20. Dezember von Joachim Off


    Schauders Weihnachtsfall


    In der Bücherberge Tal

    Liegt das Eulendorf zentral

    Winterlich zur Weihnachtszeit

    Wenn es leuchtend' Flöckchen schneit

    Die Käuzchennester hübsch geschmückt

    Der Weihnachtsplatz fast voll bestückt

    Und bis der Heiligabend naht

    Steht jährlich auch ein Baum parat


    Hachje!


    Doch dieses Jahr gab's einen Knall

    Verursacht durch des Baumes Fall

    Ne üble Kriminalgeschicht'

    Es folgt der Polizeibericht:


    Der Kommissär und sein Kollege

    Betreten g'rad das Sperrgehege

    Fluchs über's neongelbe Band

    Das sternenförmig aufgespannt

    Um uns'ren Baum, der quer platziert

    Recht viele Nadeln abrasiert

    So ein'ge Ästlein 'rausgebrochen

    Und alle Kugeln abgestochen


    Was?!


    Ach ja, der Kommissär heißt Schauder

    Und legt gleich los mit dem Geplauder

    Spricht mit dem Kobold-Borkologen

    Zeitpunkt des Fällens, abgewogen

    Vorweihnachtlich – rund vierteldrei

    Nur mutmaßlich, nicht zweifelsfrei


    Da schiebt der Kommissär den Topf

    zurecht auf seinem Schneemann-Kopf

    Er kombiniert und tritt zu Susi

    Die piss'ge Elfe von der Spusi

    Die schläfrig Anhaltspunkte nennt

    Und sich nen Lungenbrötchen gönnt

    Sagt: Dicklich'Schnee, der üppig fällt

    Hat alle Spuren kaltgestellt


    Verdammt!


    Ach ja, des Kommissär's Kollege

    Cloud-Plattform-dingsbums-Datenpflege

    Nen Wichtel namens Boris Schaum

    Mit Undercut und Hipsterflaum

    Erblickt die hölzern' Metzelei

    Entlässt 'nen gellend' Emo-Schrei

    Rennt leichenblass zum nächsten Eck

    Und röhrt sein'n Caffè Latte weg


    Der Schauder richtet sich den Schal

    Und kombiniert zum zweiten Mal

    Er schreitet durch das Sperrgehege

    Betrachtet sämtlich' Holz-Gelege

    Ein Fällmotiv ist noch nicht klar

    Ist's Weihnachtsfrust, Hass auf Neujahr?

    Oh'Tannenduft-Lametta-Allergie?

    Adventsbedingte Schenkdruck-Agonie?

    Politische Konsumanklage?

    Klassische Finanznotlage?


    Da meldet sich uns' Boris Schaum

    Vermeidet jeden Blick zum Baum

    Zeigt auf die Käffchen-Latte-Pfütze

    Die, mit ein bisschen Hipster-Grütze

    Den Schnee kackbräunlich aufgelöst

    … und dabei eine Axt entblößt

    Die Klinge voller feuchter Späne

    Am Griff 'ne dicke weiße Strähne


    Hoppla!


    Der Schneemann Schauder kombiniert

    Ein drittes Mal, bis er's kapiert

    Sich dann sein' schmales Pfeifchen stopft

    Und ansteckt: ohne, dass es tropft (jahrelange Übung)

    Hier fehlt weit mehr als nur der Baum

    Im diesjährigen Weihnachtstraum

    Doch liegt der Stamm, dann fällt's nicht auf

    Vor lauter Schreck kommt keiner d'rauf


    Die Lupe raus!


    Der Schneemann Schauder prüft den Schnee

    Randwärts der Ladung Milchkaffee

    Und stößt auf jene Kufen-Spur

    Der weihnachts'mannschen Schlittentour

    Die abbiegt raus zum Blätterwald

    Wo's finster ist und süßlich kalt


    Ihr wird gefolgt!


    Der Kommissär betritt den Wald

    Echt finster ist's und süßlich kalt (wirklich!)

    Doch findet sich ein Lichtlein bald

    Und auch die opulent' Gestalt

    Des Santa Claus beim Schnapspicknick

    Und der Mann hat die Faxen dick!

    Sein Schlitten parkt hinter ihm quer

    Vom Zustand her: vollständig leer

    Wodurch recht schnell wird offenbar:

    Keine Geschenke dieses Jahr!


    Ja, wie jetzt?!

    Und Santa zischt:


    Weil selbst die heil'gen Lieferketten

    Zu des Nordpols Schenkwerkstätten

    Vom Engelsschmied zum Wichtelschreiner

    Vom Chipmonteur zum Seiden-Schneider

    All' überall seit langen Zeiten

    Unter Rohstoffmangel leiden!


    Deshalb ist der Schlitten leer

    Gibt's keine Geschenke mehr


    Deshalb ist der Schlitten leer

    Und der Seelen Lasten schwer


    Da hat's die Rentiere gepackt

    Die ham dann den Baum zerhackt (und so weiter)


    Oh je!


    Der Kommissär beruhigt den Claus

    Und führt ihn aus'm Wald heraus

    Erlässt den Rentieren die Straf'

    Laut Seelisch-Lasten-durch-Geschenkmangel-Affekttat-Paragraph

    Doch nen Ersatz soll'n sie noch fällen

    Und auf dem Weihnachtsplatz aufstellen


    Fluchs getan! Fluchs geschmückt!


    Am Ende sitzt das Dorf zu Tisch

    Kauz neben Kauz bei Met und Fisch

    Mit Santa Claus beim Weihnachtsbraten

    Die Rentiere an den Salaten

    Der Schauder neben seinem Eis

    Kollege Schaum beim Transfair-Reis

    Und auf dem Platz der neue Baum

    Und unter ihm nur leerer Raum


    Doch Eulen brauchen kein Geschenk

    Es reicht das richt'ge Heißgetränk

    Dazu 'ne Kriminalgeschicht'

    Zur Not ein kriminell' Gedicht

    Mit frei wählbarer Moral

    Frisch aus der Bücherberge Tal


    Ein friedliches und ausreichend bebaumtes Weihnachtsfest voller Heißgetränke und Geschenke an alle Eulen und Käuzchen da draußen!