Klug, aber schwergängig
Als großer Bewunderer von Eva Menasses Werk, Erzählkunst und – nicht zuletzt – Haltung habe ich mich überaus auf dieses Buch gefreut, den Roman-Nachfolger des großartigen „Quasikristalle“ (2013). Aber es fiel mir, um das vorwegzunehmen, nicht eben leicht, diese Begeisterung über die fast 530 Seiten hinweg aufrechtzuerhalten.
Menasse erzählt vom fiktiven Ort Dunkelblum, im ostösterreichischen Burgenland irgendwo an der Grenze zu Ungarn gelegen (wer von dort kommt, ist ein „Drübnerischer“). Das ist die Gegend, in der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs einer der vielen grotesken Letztverteidigungsversuche des Dritten Reichs unternommen wurde, hier in Form des so genannten „Südostwalls“, einer Art Hügelmauer, die von der Hitlerjugend und zwangsverpflichteten ungarischen Juden mit Schaufeln und Äxten errichtet wurde. Die Rote Armee wurde hiervon allerdings nicht aufgehalten.
Der Roman spielt jedoch überwiegend im Jahr 1989. Nicht weit entfernt im Osten klettern DDR-Bürger über die Zäune der westdeutschen Botschaften, aber in Dunkelblum werden andere Hindernisse überwunden: Eine Gruppe junger Wissenschaftler befreit den dritten, fast vergessenen Friedhof von Dornen und Gestrüpp. Der dritte Friedhof, der, auf dem die Juden begraben wurden, was seit dem Krieg nicht mehr so oft nötig war. Fast zur gleichen Zeit trifft ein eigenartiger Mann im Ort ein, und beginnt damit, Fragen zu stellen, bei denen es um ein Massaker im Wald ging, auch rund ums Kriegsende. Niemand erkennt ihn wieder, dabei ist er in Dunkelblum geboren worden. Doch das sind nur zwei Aspekte von Dutzenden. Da ist der Konflikt um das Hotel „Tüffer“, das eigentlich nicht seiner Betreiberin gehört, da ist das kleine Reisebüro mit seinem schüchternen Besitzer, da ist der unfreiwillige Bürgermeister, da sind die Winzerfamilien – und viele andere mehr. Eva Menasse skizziert diesen so typischen Mikrokosmos bis ins Detail, zeichnet familiäre und historische Verflechtungen, zeigt die Machtstrukturen und ihre Entwicklung – und die ihrer Protagonisten. Sie legt Finger in die tiefen Wunden, die nie verheilt sind, sondern höchstens abgedeckt wurden. Aber es ist nicht ausschließlich die Vergangenheit, die auf die Agenda drängt, es gibt lokale Machtkämpfe um einen Wasserverbund mit den Nachbarorten, und dann stolpert auch noch ein DDR-Bürger aus dem Wald heraus, verletzt und abgekämpft, was die örtlichen Haudraufs aber nicht davon abhält, ihn gewohnheitsgemäß zu begrüßen.
Die stärkste Besonderheit dieses in vielerlei Hinsicht besonderen Romans liegt in seinem Erzählton. Menasse hat einen distanzierten, aber ortsverbundenen, zugleich personalen und auktorialen Erzähler gewählt, der von einer Figur zur anderen springt und einen Duktus verwendet, der von Austriazismen durchsetzt ist und eine Sprachmelodie nutzt, die klingt, als würde man einer der ungeheuer vielen Figuren lauschen. Das ist einerseits beeindruckend, eine ganz ungeheure Arbeit, aber es vermittelt zugleich ein ganz eigentümlich lapidares Gefühl. Ganz anders als bei Juli Zehs „Unterleuten“, worin auch Geschichte und Zeitgeschichte auf dörflicher Ebene äußerst anschaulich zum Leben erweckt wurden, fühlt es sich in „Dunkelblum“ unwirklich und distanziert an, im Wortsinn sagenhaft, und zwar vor allem durch diesen Ton, der kulturell nicht näher sein könnte, aber unnahbar erscheint. Dieses eigenartige Gefühl wird verstärkt durch das Fehlen von Hauptfiguren, von Leitpersonal, das durch die mächtige und konfliktreiche Handlung führt. Man folgt der Erzählung wie durch ein Kuriositätenkabinett.
Davon abgesehen ist die Geschichte stark überladen. Dieser Versuch, die Republik im Kleinen zu zeigen, wie in „Quasikristalle“ die sich innen und außen wiederholende, immer gleiche Struktur freizulegen, scheitert beinahe an seinem unvermeidlichen Facettenreichtum. Dies wird besonders deutlich im nahezu unüberschaubaren und schwer unterscheidbaren Personal, und leider wird fast keine der vielen Nebenrollen zu einem Ende geführt, also dramaturgisch auserzählt. Das mag realistischer sein als jeder andere Ansatz, ist aber literarisch mindestens knifflig.
Ich muss zu meiner eigenen Erschütterung gestehen, dass ich mich hin und wieder gelangweilt habe, und dass mich ob des lokalkoloriten Plaudertons und der Figurenvielfalt vieles an Dramatik kaltgelassen hat. „Dunkelblum“ ist ohne Zweifel ein großes, mächtiges, kluges, vielschichtiges, hochpolitisches, wichtiges usw. usf. Buch, aber es ist nur begrenzt unterhaltsam und fordert große Aufmerksamkeit. Zehn Punkte in der Pflicht, aber für die Kür höchstens die Hälfte.
ASIN/ISBN: 3462047906 |