Leben in der Zwischenwelt
Ein elfjähriges Mädchen wird traumatisiert, als es bei einem Verkehrsunfall den Tod der eigenen Eltern miterleben muss. Es kommt zu einer Pflegefamilie, reißt aber gleich wieder aus - und kehrt in das Haus zurück, in dem die eigene Familie vor einiger Zeit gelebt hat: Ein großes, verwinkeltes, gleichsam verbautes Haus, nicht weit entfernt vom Deich, der die Bewohner vor dem Mississippi schützt. Da dieses Haus aber inzwischen von anderen Leuten bewohnt wird, versteckt sich Elise, baut sich ein Nest unter den Sperrholzdielen im Dachboden und nutzt die Zwischenräume der Wände, um von einem Stockwerk ins andere zu gelangen, aber auch, um die Bewohner zu beobachten. Wenn die Familie - der dreizehnjährige Eddie, sein drei Jahre älterer Bruder Marshall und die Eltern - aus dem Haus ist, übernimmt sie das Gebäude, aber sie ist gut darin, keine Spuren zu hinterlassen. Und auch nachts, etwa, wenn sie heimlich auf die Toilette geht, bleibt sie unbemerkt.
Beinahe jedenfalls.
Denn Eddie spürt sie, fühlt sich beobachtet, ahnt, dass da jemand ist. Und auch sein großer, ruppiger und unempathischer Bruder hat etwas bemerkt, wie Eddie erfährt, als die Eltern, die ihnen, wie Marshall meint, nicht glauben würden, für ein Wochenende verreisen. Aber Marshall hat sich in Internet-Foren umgehört, ist auf diesen Typen gestoßen, der sich offenbar auskennt, und der jetzt kommen will, um gemeinsam mit ihnen den heimlichen Mitbewohner zu finden und zu verjagen.
In den Danksagungen erzählt A. J. Gnuse davon, wie er die Idee zu dieser Geschichte hatte, als er auf einen Dachboden geklettert ist, aber ich muss leider feststellen, dass die Idee für mich diesen doch recht seitenmächtigen Roman nicht wirklich trägt. Der Autor will einerseits die Existenz von heimlichen Mitbewohnern ganz unmetaphorisch als Phänomen verkaufen, als etwas, über das sich verschwörerische Communitys austauschen, das aber auch faktisch von Bedeutung ist. Dabei sind die Berichte davon, wie Menschen unbemerkt Häuser mitbewohnt haben (meistens in den Kellern), selbst über einen jahrzehntelangen Zeitraum hinweg an einer Hand abzuzählen. Andererseits bleibt er an vielen dramaturgisch relevanten Stellen Nachvollziehbarkeit schuldig. Die Entscheidung des jungen Mädchens dafür, dieses schwere, einsame, entbehrungsreiche, gefährliche und sehr unglückliche Leben zu führen und, vor allem, durchzuhalten, muss man einfach hinnehmen, und auch wenn recht eindringlich geschildert ist, wie sich dieses Leben darstellt, wird man das Fragezeichen während der gesamten, in der ersten Hälfte ziemlich zäh verlaufenden Erzählung nicht los. Ähnliches gilt für das Verhalten der Brüder.
Aber das größte Problem hatte ich mit der Art, wie Gnuse diese Geschichte erzählt. Gleichsam fragmentiert, in viele Teile zerhackt, reihen sich Kapitel und Kapitelchen aneinander, die zuweilen nur eine halbe Seite lang sind und mit irritierenden Überschriften daherkommen, die oft naiv und deplatziert wirken. Der Autor springt dabei zwischen den Figuren hin und her, und die einzige, der man Denken und Handeln wirklich abkauft, ist ausgerechnet der Psychopath, den Marshall zur Hilfe ruft.
„Girl in the Walls“ ist zweifelsohne ein originelles und interessantes Buch, das viele sehr schöne Abschnitte enthält, aber stark darunter leidet, dass es nicht gelingt, das hohe Maß an Unglaubwürdigkeit - man muss Elise einfach abnehmen, dass sie durch dieses Leben in den Wänden die Verbindung zu ihren toten Eltern aufrechtzuerhalten versucht - durch unkonventionellen Aufbau und die erst im letzten Drittel aufkommende Spannung zu kompensieren. Das schleift dann auch Motive und Themen wie Einsamkeit, Traumata, Heimatverbundenheit, Trauer, Verlust und Vertrauen. Tatsächlich habe ich mich beim Lesen das eine ums andere Mal dabei erwischt, wie ich an Joscha Sauers Cartoonfigur „Der Mann in der Wand“ („Nichtlustig“) denken musste, und dann geschmunzelt habe, obwohl etwas vermeintlich Dramatisches passierte. Was sich gegen Ende tatsächlich so sehr steigert, dass „Girl in the Walls“ vorübergehend zum Pageturner wird, mit allerdings nur mäßig gelungenem Ausgang.
In einer Short Story oder in einem Kurzroman hätte die Idee vermutlich besser funktioniert. Hier scheitert sie daran, dass ihr Personal sie nicht glaubhaft zu vermitteln vermag.
ASIN/ISBN: 3851794834 |