Merlin Sheldrake: Verwobenes Leben: Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen, OT: Entangled Life: How Fungi Make Our Worlds, Change Our Minds and Shape Our Futures, aus dem Englischen von Sebastian Vogel, Berlin 2020, Ullstein Verlag, ISBN 978-3-55020110-3, Hardcover mit Schutzumschlag, 463 Seiten, mit zahlreichen s/w-Zeichnungen und Farbfotos, Format: 13,8 x 4,4 x 22 cm, Buch: EUR 29,00, Kindle: EUR 19,99.
„Eine völlig neue Sicht auf das Leben auf unserem Planeten“ – „Eines jener seltenen Bücher, die uns verzaubern und den Blick auf unsere Welt verändern.“ Helen MacDonald (Text auf dem Schutzumschlag) – Ja, gut, ganz so bahnbrechend, wie der Verlag es darstellt, fand ich das Buch nun nicht. Das mag daran liegen, dass ich in den letzten Jahren einige Sachbücher gelesen habe, in denen es auch um Pilze ging. Ich habe also eine vage Vorstellung davon, wozu die Kerle fähig sind.
Ein gewisses Maß an Exzentrik
Der Autor hält aber zweifellos eine Vielzahl spannender Fakten für uns bereit. Schließlich forscht er auf diesem Gebiet. Wenn er beim Teilen seines Wissens nur nicht so aus- und abschweifen würde! Die 463 Seiten enthalten nicht nur über 100 Seiten Anhang, sondern auch jede Menge erzählerische „Ballaststoffe“. Viele Leser*innen finden genau das klasse – mich nervt’s etwas. Wenn ich wissen will, wie etwas funktioniert, lenken mich ausführliche Erlebnisberichte und philosophische Exkurse nur ab. Ich hätte manche Laber-Passagen rigoros gestrichen. Das hätte der Verlag vielleicht auch getan, wenn ein Martin Smith oder ein Peter Jones das Buch geschrieben hätte und nicht der Sohn von Rupert Sheldrake. Hier erwartet die Leserschaft vermutlich ein gewisses Maß an Exzentrik. Doch kommen wir zum Inhalt.
Netzwerk im Boden
„Von den Wurzeln verzweigte sich ein Pilz-Netzwerk im Boden und um die Wurzeln benachbarter Bäume. Ohne ähnliche Netze aus Pilzen könnte keine Pflanze irgendwo existieren. Alles Leben an Land, auch mein eigenes, ist auf solche Netzwerke angewiesen.“ (Seite 10)
Dass Pilze – die nicht zu den Pflanzen gehören, sondern mehr mit Tieren gemeinsam haben – mit Bäumen eine Art Tauschhandel eingehen, hat man schon öfter gelesen. Wir reden hier nicht von den essbaren oder giftigen Fruchtkörpern, sondern vom unterirdischen Geflecht, dem Mycel. Es verbindet sich mit den Baumwurzeln – zu beiderseitigem Vorteil. Die Bäume erhalten von den Pilzen bzw. durch sie Stickstoff, Phosphor und Kohlenstoff, die Pilze bekommen dafür von den Bäumen Zucker aus deren Photosynthese.
Nicht nur das: Durch das Pilznetzwerk fließen Substanzen von einer Pflanze zur anderen und zwar meist so, dass die Ressourcen vom Bereich des Überflusses an solche mit Knappheit weitergegeben werden. Dabei fungiert das Mykorrhiza-Netzwerk nicht nur als „Kabel“ oder „Rohrleitung“: Die Pilze scheinen die Verteilung aktiv zu steuern. Indem das Netzwerk gezielt wächst, sich verdichtet oder in Teilen zurückgestutzt wird, werden die Ströme der Zellflüssigkeit, die die Nährstoffe transportieren, gelenkt. – Den Mycel-Netzwerken traue ich das zu! Die können sogar komplizierte räumliche Probleme lösen, ohne dass sie ein Gehirn haben.
Altruismus in der Natur?
Und wozu das ganze? Altruismus ist in der Natur ja eher selten. Es ist auch keiner! Ein gesunder Wald ist durchaus im Eigeninteresse der Pilze. Er garantiert ihnen eine optimale Versorgung, und so sorgen sie dafür, dass das auch so bleibt.
Auch Info-Chemikalien wandern durch das unterirdische „Wood Wide Web“. Wird eine Pflanze von Schädlingen angegriffen, kann sie auf diesem Weg benachbarte Artgenossen warnen und zur Bildung von Abwehrmaßnahmen anregen, von denen sie unter Umständen selbst profitiert.
Trittbrettfahrer
Bei so einem System gibt’s natürlich auch Trittbrettfahrer: Pflanzen, die die Photosynthese komplett eingestellt haben und sich ausschließlich auf die Nährstoffe aus dem Pilznetzwerk verlassen, ohne etwas zurückzugeben. Sie sind mykoheterotroph. Und weil sie weder grüne Stängel noch Blätter brauchen, sind sie zum Teil von recht ungewöhnlichem Design, wie z.B. die blutrote Sarcodes sanguinea oder die rein weiße Gespensterpfeife (Monotropa uniflora.) Siehe Foto.
O18 at English Wikipedia, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Indian_pipe_PDB.JPG">O18 at English Wikipedia, http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/">CC BY-SA 3.0,
via Wikimedia Commons
Sind Pilze intelligent?
Wir erfahren, dass Pilze nicht nur pflanzliches Material zersetzen, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch gezielt Jagd auf Fadenwürmer machen können und diese fressen. Sie werfen chemische Köder aus und – zack! Wir lernen, was Trüffel davon haben, dass sie so auffällig riechen, dass sie von Schweinen und Hunden gefunden werden und dass Pilzhyphen den bestmöglichen Weg durch ein mikroskopisches Labyrinth finden. „Mittlerweile haben Wissenschaftler begonnen, Netzwerke bildende Lebewesen wie Schleimpilze zur Lösung unserer Probleme zu nutzen. [Sie] arbeiten heute daran, das Verhalten ihrer Forschungsobjekte in die Planung öffentlicher Nahverkehrsnetze einfließen zu lassen.“ (Seite 77) Falls sich jetzt jemand fragt, wie man Pilze dazu bringt, in eine bestimmte Richtung zu wachsen: mit einem Köder – einem Leckerli, sozusagen. Wie beim Training von Tieren. Pilze fressen mit dem Mycel. Sie verdauen die Nahrung an Ort und Stelle und nehmen sie dann in sich auf.
Mycel-Netzwerke können sich wie Gehirne verhalten und durch elektrische Signalübertragung Nachrichten zwischen verschiedenen Teilen austauschen, zum Beispiel über Nährstoffquellen, Verletzungen, lokale Bedingungen innerhalb des Pilzes oder die Gegenwart anderer Lebewesen. Sind Pilze denn intelligent? Gute Frage! Charles Darwin schrieb 1871: „Intelligenz beruht darauf, wie wirksam eine Spezies die Dinge tun kann, die sie braucht, um zu überleben.“ (Seite 103) So gesehen ...
Symbiose überall!
Dass Pilze schon vor Millionen von Jahren mit Algen eine Symbiose eingegangen sind und als Flechten selbst unwirtlichste Stellen besiedeln können, hat man wahrscheinlich schon in der Schule gelernt. Dass Algen auch im Inneren von Korallen, Schwämmen und Meeresschnecken leben, hat man vielleicht nicht so auf dem Schirm. Symbiose, wohin man schaut! Da selbst der Mensch von lebensnotwendigen Mikoorganismen besiedelt ist, fragt man sich, ob es so etwas wie ein „Individuum“ überhaupt gibt. Dass das Wort „Indiviuum“ – Einzelwesen – vom lateinischen Begriff für „unteilbar“ kommt, ist mir nie zuvor in den Sinn gekommen.
Gruselige Talente
Pilze können auch ganz gruselige Dinge: Manche befallen Insekten, steuern ihr Verhalten und verdauen die Tiere dann von innen. Schon die Beschreibung ist schaurig, die Bilder dazu erst recht. Ob die Fähigkeit mancher Arten, bei Menschen bewusstseinsverändernde Zustände hervorzurufen, damit zusammenhängt?
Vielfältiger Nutzen
Es gibt aber auch unendlich viele Möglichkeiten für den Menschen, sich die Pilze zunutze zu machen. Brot backen (Hefepilze) und Alkohol brauen sind uralte Kulturtechniken. Wir nutzen ihre antibiotische Wirkung in der Medizin, experimentieren mit Baustoffen auf Mycelbasis, fertigen Schuhe aus Pilzleder und setzen Pilze zum Abbau von Schadstoffen ein. Und für Pilze, die die Fähigkeit zur Bioluminiszenz haben, fällt uns sicher auch noch was ein. Das Thema ist schon sehr breit gefächert und spannend.
Ein bisschen gaga
Am Schluss des Buchs wird’s wieder ein bisschen gaga. Der Autor hat ein Exemplar seines Werks angefeuchtet und Pilzmycel eingesät. „Wenn es sich durch die Wörter, durch die Seiten und Buchdeckel gefressen hat und Austernpilze auf dem Umschlag wachsen, werde ich sie essen.“ (Seite 336), kündigt er an. Auf Youtube kann man sehen, dass er es tatsächlich tut.
Ein Sachbuch muss nicht staubtrocken sein, aber hier ist mir schon ein bisschen viel Show drumrum.
Der Autor
Merlin Sheldrake ist studierter Biologe, lehrte aber auch Geschichte und Wissenschaftsphilosophie in Cambridge. Er schrieb seine Dissertation über das Netzwerk der Pilze in Panama und präsentierte seine Ergebnisse u.a. in Cambridge, Marburg, der FU Berlin.
ASIN/ISBN: 3550201109 |