Susann Sitzler: Väter und Töchter. Ein Beziehungsbuch, Stuttgart 2021, Klett-Cotta, ISBN 978-3-608-98220-6, Hardcover mit Schutzumschlag, 300 Seiten, Format: 13,2 x 2,7 x 21,1 cm, Buch: EUR 20,–, Kindle, EUR 15,99.
„Als Kind ist man auf die Rollen, die man in den ersten Jahren erlernt hat, für sein ganzes Leben geprägt. Als Tochter gilt das besonders für die Rolle, die einem vom Vater verliehen wurde. (...) Es können Aspekte darin sein, die einen beeinträchtigen und für immer belasten können. Aber sie müssen einen nicht völlig ruinieren. Wer man als Tochter seines Vaters wurde, ist vielleicht ein Name, den man trägt oder aufgegeben hat, eine Erinnerung voller Glück oder Liebe, Sehnsucht oder Schmerz, ein Erbe oder ein Verlust. Aber es ist immer nur eine Facette. Direkt dahinter, und sie gilt es zu erlangen, beginnt die Freiheit der erwachsenen Frau.“ (Seite 275)
Ich habe bereits zwei von Susann Sitzlers Büchern gelesen („Geschwister“, „Freundinnen“) und wusste, was mich erwartet: Ein vielfältiger Mix aus persönlichen Erfahrungen, Gesprächen mit Betroffenen – hier: Väter und Töchter – und Erkenntnissen aus Psychologie und Forschung. Das mag eine ungewöhnliche Vorgehensweise sein, ein Sachbuch zu schreiben, aber dadurch, dass viel Persönliches einfließt und nicht nur theoretisches Wissen vermittelt wird, bleibt bei den Leser*innen auch was hängen.
Bei mir zumindest funktioniert das mit den konkreten Beispielen. Susann Sitzlers Buch über Geschwister-Beziehungen habe ich 2014 gelesen und greife immer wieder auf das dort erworbene Wissen zurück. Mir war auch sofort wieder die komplizierte Familienkonstellation der Autorin präsent, die genau aufgrund dieser Erfahrungen Beziehungsthemen aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten kann.
Dieses Mal geht’s also um Väter und Töchter. „Jede Frau ist Tochter eines Vaters. Der Blick dieses Mannes, seine Werte und Botschaften haben Prägekraft – manchmal ein Leben lang. Sogar, wenn er nur als Erzeuger in Erscheinung getreten, von der Familie getrennt oder ganz abwesend ist“, heißt es im Klappentext.
1. TÖCHTER UND VÄTER
Ein Vater sollte für sein Kind erreichbar und zugewandt sein. Dadurch bekommt ein Kind die Gewissheit, dass ihm ein Platz in der Welt zusteht, meint die Autorin. Für Töchter ist der Vater dazu noch das erste und wichtigste Beispiel dafür, dass man dem anderen Geschlecht vertrauen kann. Die Tochter lernt im Idealfall, dass Männer zur Beziehung geeignete und verlässliche Menschen sein können – zur Partnersuche geeignete Gegenstücke, nach denen man, wenn der Wunsch danach besteht, auf die Suche gehen kann.
Kann ein realer Vater diese Grundlage nicht bieten, tritt oft eine idealisierte Vorstellung von ihm an seinen Platz. Solche Idealbilder sind fast immer verzerrt und vermitteln der Tochter ein entsprechend schiefes Selbstbild. Der Vater der Autorin hat die Familie verlassen, als sie neun Jahre alt war und sie hat ihn danach nur sporadisch gesehen. Sie weiß also, wovon sie spricht.
Und wie ist es, wenn der Vater präsent und tatsächlich fürsorglich ist? Dann kann er seiner Tochter viel Mut machen und wichtige Dinge beibringen. Allerdings kann er ihr, anders als bei einem Sohn, nur eingeschränkt ein positives Vorbild sein.
In den ersten Jahren brauchen Kinder vor allem die Erfahrung, wie es ist, sich mit einem starken Menschen sicher zu fühlen. Ein bisschen „Heldenverehrung“ ist da nicht verkehrt. Wenn der Vater die Tochter dann noch dazu ermutigt, ihre Kräfte auf lohnendere Ziele zu lenken als auf Beliebtheit und Konfliktfreiheit, umso besser! Und ja, auch Stief- oder Ziehväter können eine wichtige Rolle im Leben eines Kindes spielen. Die Art, wie sie mit Partnerin und Kindern umgehen, setzt Maßstäbe.
Ein Vater kann seiner Tochter auch als „Sparringspartner“ weiterhelfen. Darunter versteht die Autorin folgendes: „Ein guter Sparringspartner nimmt das Gegenüber ernst. Er stellt seine Überlegenheit zur Verfügung, damit der andere daran wachsen kann. (...) Ein Vater, der seine Tochter auch im überhitzten Pubertätsstreit ernst nimmt, nimmt ihr die Angst vor einem überlegenen Gegner. Er hilft ihr, ihre Stärke geltend zu machen.“ (Seite 68/69)
2. TÖCHTERVÄTER
Wie sehr ein Vater sich an der Aufgabenteilung rund um die Kindererziehung beteiligt, hängt von der Beziehung zur Partnerin ab, sagt die Väterforschung. Um zufrieden zu sein, müssen beide Elternteile mit ihrer (beruflichen) Situation einverstanden sein und das Gefühl haben, dass sie die Lasten gemeinsam schultern. – Ich vermute allerdings, dass Werte, Bedürfnisse, Erziehung, Partnerschaft und Rollenverteilung selten ausführlich besprochen werden. Mehrheitlich wird’s eher so sein, wie Susann Sitzlers Interviewpartner Ludovico beschreibt: „Ich hatte eigentlich nie so ein deutliches Gefühl von meinen Aufgaben als Vater. Ich glaube, ich war eher einfach so da.“ (Seite 113)
„Eine der biologischen Grundaufgaben des Vaters liegt im Schützen und Anerkennen der Kinder“, wird der Grazer Psychologe Werner Stangl zitiert (Seite 135). Einen etwas befremdlichen Aspekt des Schützens schildert der Beitrag über die Purity Balls/Reinheitsbälle - Veranstaltungen aus dem fundamentalchristlichen Milieu des US-amerikanischen Mittleren Westens. Da wird die Sache mit dem Vater als „Bewahrer“ ein bisschen klebrig. – „Begleiter“, die ihrem Kind zuhören und ihm bei Bedarf etwas erklären, sind deutlich erstrebenswerter. „Zerstörer“ gibt’s leider auch. Bei Themen wie Missbrauch, Gewalt und Ehrenmord werden die Diskussionen mit Susann Sitzlers Gesprächspartnern schon mal hitzig und emotional.
3. VÄTER VERSTEHEN
„Die eigene Kindheit hat selbstverständlich Einfluss auf das Elterndasein“, zitiert die Autorin den Mainzer Neurologen und Psychotherapeuten Jürgen Wettig. „Die Jahre der Kindheit beeinflussen die Jugend, diese wieder den Erwachsenen.“ (Seite 205).
Das Vatersein fängt also mit dem Sohnsein an. Um die (Re-)Aktionen des Vaters nachvollziehen zu können, wäre es daher gut, wenn man wüsste, wie seine Kindheit/seine Eltern waren, was ihn antreibt und wie er war, bevor er Vater wurde. Dieses Wissen macht spätere Ungerechtigkeiten nicht gerechter und erlittene Kränkungen nicht ungeschehen, aber es hilft womöglich, wenn man sein Verhalten einordnen und erklären kann. Irgendwann wird man einsehen müssen, dass auch die Eltern ihre eigene Geschichte mit sich herumtragen und vielleicht Defizite haben, die ihr Tun beeinflussen. Wenn Folgen unbewältigter traumatisierender Erlebnisse dahinterstecken, ist das natürlich übel, weil in so einem Fall die „Pakete“ von Generation zu Generation weitergereicht werden.
Das Buch beinhaltet so viele Aspekte, die ich hier gar nicht alle anreißen kann. In den 37 Beiträgen der drei Kapitel dürfte jede Leserin etwas finden, das ihre Beziehung zum Vater wiederspiegelt und ihr neue Erkenntnisse beschert. Wenn einen spontan eine Überschrift anspringt, spricht nichts dagegen, die Beiträge in willkürlicher Reihenfolge zu lesen. Allerdings bauen manche Texte aufeinander auf. Wer einen umfassenden Überblick über das Thema haben möchte, sollte doch besser der Reihe nach vorgehen.
Ganz ohne neue Erkenntnis geht hier vermutlich niemand vom Platz. Mir ist unter anderem klar geworden, was in den letzten Jahren die Kommunikation zwischen meinem Vater und mir so schwierig und anstrengend machte. Hätte ich den Mechanismus damals schon durchschaut, hätte mich das vermutlich weniger belastet. Aber da gab’s eben das Buch noch nicht.
Man lernt hier so einiges. Und vermutlich werde ich eine ganze Weile eine selektive Wahrnehmung haben und in jedem Roman eine Vater-Tochter-Problematik sehen.
Die Autorin
Susann Sitzler wurde 1970 in Basel geboren und lebt als Journalistin und Buchautorin in Berlin; sie verfasste Reportagen, Porträts und Rundfunkfeatures etwa für Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Merian und Deutschlandradio Kultur; zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt bei Klett-Cotta erschienen: »Freundinnen. Was Frauen einander bedeuten« und »Geschwister. Die längste Beziehung des Lebens«.
ASIN/ISBN: 3608982205 |