Grandhotel Odessa. Die Stadt im Himmel, Roman, Bd. 1 - Charlotte Roth

  • Charlotte Roth: Grandhotel Odessa. Die Stadt im Himmel, Roman, Bd. 1, München 2020, Droemer Knaur, ISBN 978-3-426-30802-8, Softcover, 572 Seiten, Format: 12,5 x 3,55 x 19 cm, Buch: EUR 12,99, EUR 13,40 (A), Kindle: EUR 9,99, auch als Hörbuch lieferbar.


    „Das Leben ist nicht so, wie wir es uns vorstellen, wenn wir sehr jung sind. Es verfolgt seine eigenen Pläne und schert sich um unsere wenig.“ (Seite 434)


    Odessa, 1886: Der junge, attraktive Kaufmannssohn Philipp Liebenthal hat einen Traum: Statt die Firma seines Vaters zu übernehmen, will er in der Stadt ein Grandhotel eröffnen. Wie alle Visionäre wird er erst einmal ausgelacht. Niemand außer ihm scheint an den kommenden Touristikboom zu glauben, und Geld für sein Projekt will ihm erst recht niemand leihen. Doch Philipp lässt sich nicht beirren.


    Um seine Pläne zu verwirklichen, tun seine Freunde und er ein paar Dinge, die besser nicht bekannt werden sollten. Seinem Traum opfert er alles, selbst sein Liebesglück. So bleibt es sein Leben lang: Erst kommt das Hotel, dann seine Patentochter Belle von Arndt und danach, mit weitem Abstand, seine Familie.


    Folgenschwere Familiengeheimnisse

    Odessa, 1911 – 1918: Oda Liebenthal, Philipps einzige Tochter, wächst mit einer Vielzahl von Familiengeheimnissen auf.


    Hätte der jungen Frau Liebenthal doch jemand die wahre Entstehungsgeschichte des Grandhotels erzählt! Dann wüsste sie, wo hier die Held*innen, die Schurken und die Feiglinge sitzen. Nicht da, wo sie sie vermutet! Doch alle halten brav den Mund, und so reibt sich das spröde, pragmatische Organisationstalent Oda in einem Konkurrenzkampf mit der gleichaltrigen Belle auf, den sie nicht gewinnen kann. Es geht hier nämlich gar nicht um blond gegen dunkelhaarig, Charme gegen Tüchtigkeit, Liebreiz gegen Geschäftssinn.


    Odessa, die Vielvölkerstadt

    „Die Lage Odessas, in ihre Schwarzmeerbucht geschmiegt und auf Hügeln wie auf Terrassen erbaut, die den Gästen den Blick in die blau glitzernde Ferne gewährten, war unwiderstehlich. Das kleine Paris, das Petersburg des Südens, die Vielvölkerstadt, in der sich Orient und Okzident die Hände reichten, lockte mit einer Mischung aus behaglicher Vertrautheit und fremdem, rätselhaften Zauber.“ (Seite 35)


    Für Oda läuft’s wenigstens geschäftlich gut. Das Grandhotel Odessa brummt, wohlhabende Gäste aus ganz Europa geben sich die Klinke in die Hand und sind glücklich, weil sie sich rundum verwöhnt und umsorgt wissen und ihre Alltagssorgen für die Zeit ihres Aufenthalts vergessen können. Das ist Oda und ihrem Personal zu verdanken – und auch dem internationalen Flair der Stadt. Die Hafenstadt Odessa ist 1754 quasi „am Reißbrett“ gegründet worden. Sie hatte nie eine angestammte Bevölkerung und Kultur. Egal, welcher Nationalität und welchen Glaubens jemand war: Wer sich in Odessa niederließ, war Odessit. Basta. Die ursprüngliche Herkunft war zweitrangig.


    Tatsächlich wissen wir nicht mal, wie die Liebenthals ursprünglich mal geheißen haben. Philipps Urgroßvater soll aus Westpreußen gekommen sein und den Namen seines Stadtteils als neuen Familiennamen angenommen haben. Es würde mich nicht wundern, wenn es diesbezüglich noch Überraschungen gäbe.


    Kann Oda das Hotel retten?

    Das Konzept des Nationalismus ist nicht nur Oda Liebenthal fremd. Welcher Nationalität soll man sich auch zugehörig fühlen, wenn’s in der eigenen Familie schon ein halbes Dutzend davon gibt? Als der I. Weltkrieg ausbricht, ist Oda überhaupt nicht klar, welche Auswirkungen das auf ihre Stadt, ihre Angehörigen und ihr Hotel haben wird.


    Die Männer aus ihrem Umfeld ziehen nach und nach in den Krieg, kämpfen zum Teil auf verschiedenen Seiten, und sie muss daheim alles zusammenhalten. Wenn sie die russische Fürstin Lidija Petrovna Bezborodko – eine herrlich unkonventionelle Nebenfigur! – , ihre Kaltmamsell und ihre Tante nicht hätte, wäre sie verloren. Zum wiederholten Mal müssen Frauen das ausbaden und zu retten versuchen, was Männer im großen Stil vergeigt haben. (Wobei die Damen auch nicht unbedingt Unschuldslämmer sind!)


    Verzeiht man schönen Menschen mehr Fehler als den unscheinbaren? Oder haben sie, im Gegenteil, mehr zu leiden, weil sie den Neid ihrer Mitmenschen zu spüren bekommen? Diese Frage stellt sich im Verlauf dieser Geschichte immer wieder. Es scheint aber keine allgemeingültige Antwort darauf zu geben.


    Unbewältigte Probleme

    Dass unbewältigte Probleme und alte Familiengeheimnisse oft unbewusst an nachfolgende Generationen weitergereicht werden, kann man hier sehr schön sehen. Oda versteht das Verhalten ihres Vaters nicht, weil sie seine Vorgeschichte nicht kennt, und begeht ganz ähnliche Fehler.


    Ich habe jetzt erst gesehen, dass es einen zweiten Band gibt. Es wird interessant sein zu sehen, wie sich die folgende Generation durchs Leben schlägt. Geht das immer so weiter mit den Geheimnissen, oder packt endlich mal jemand ein paar Fakten auf den Tisch und durchbricht diese Kette?


    Erstaunlich modern und europäisch

    Nur mal reinlesen wollte ich in Buch – und habe über 560 Seiten in zwei Tagen weggeschmökert. Einer Geschichte, die in Odessa spielt, konnte ich einfach nicht widerstehen. Die Odessiter müssen in mancher Hinsicht erstaunlich modern gedacht haben. Das merkt man, als einer Romanhelden angesichts des zunehmenden Nationalismus um Europa fürchtet: Das Europa, in dem er als Junge italienisches Eis geleckt und französische Frauen angehimmelt, deutsche Schwüre geschworen und zu jiddischer Musik getanzt hatte, sich als Schüler mit griechischen Tragödien gequält hatte und in britischen Tweed gesteckt worden war. Das Europa, das er von Paris bis Odessa geliebt hatte. (...) Odessa. Ach, Odessa. Europa im Brennglas an Europas äußerstem Rand.“ (Seite 487)


    Spannend war’s!

    Spannend war’s! Und wie! Allerdings konnte ich die Handlungsweise mancher Personen nicht ganz nachvollziehen (Katjuscha? Rodja? Leo von Ullrich?), und ein Personenverzeichnis wäre nett gewesen. Da die Handlung zwischen den 1910er Jahren und den 1880ern hin- und herspringt, brauchte ich immer erst einen Moment, um mich zu orientieren, wer hier gerade wo was mit wem und warum ... Aber da ich das Buch fast in einem Rutsch ausgelesen habe, hielt sich die Verwirrung in Grenzen. Dankenswerterweise gibt’s ein Glossar, in dem man die Begriffe aus dem Russischen und Ukrainischen nachschlagen kann, um die man beim Erzählen dieser Geschichte nicht herumkommt.


    Dann schauen wir mal im nächsten Band, ob der Faunbrunnen im Grandhotel noch sprudelt ...


    Die Autorin

    Charlotte Roth, Jahrgang 1965, ist gebürtige Berlinerin, Literaturwissenschaftlerin und seit zehn Jahren freiberuflich als Autorin tätig. Charlotte Roth hat Globetrotter-Blut und zieht mit Mann und Kindern durch Europa. Sie lebt heute in London, liebt aber Berlin über alles. Ihr Debüt, „Als wir unsterblich waren“, war ein Bestseller, dem seitdem zahlreiche weitere Romane über Frauenschicksale vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte folgten.


    ASIN/ISBN: 3426308029

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner