Ganz besonders
Mit diesem Roman begann im Jahr 1998 die inzwischen u.a. mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete amerikanische Autorin ihre Karriere. „Amy & Isabelle“ wurde im Jahr 2001 für das amerikanische Fernsehen verfilmt; Oprah Winfrey hatte die Rechte gekauft und agierte als Produzentin. Der internationale Durchbruch gelang Strout später mit „Mit Blick aufs Meer“ (OT: „Olive Kitteridge“), allerdings gefällt mir „Amy & Isabelle“ in einigen Hinsichten besser.
Es ist Sommer in der Kleinstadt Shirley Falls, Maine (dieser Ort ist später teilweise auch Schauplatz der Ereignisse um Olive Kitteridge). Der diesjährige Sommer ist ungewöhnlich lang und lähmend heiß, und der Fluss, der die Stadt in die betuchte Region und das ärmere „Basin“ teilt, ist zu einem schlammigen, verlangsamten Rinnsal geworden. An seinem Ufer steht die Schuhfabrik, in deren Verwaltung Isabelle Goodrow arbeitet. Sie ist die Chefsekretärin und sitzt neben der Glasbox, in der Avery Chase logiert, dem Isabelle heimlich zugetan ist. Aber Avery ist verheiratet, und Isabelle käme im Traum nicht auf die Idee, einen ersten Schritt zu machen. Oder den siebten.
Seit Beginn der Ferien arbeitet außerdem Isabelles Tochter Amy in diesem Großraumbüro – sie vertritt Dottie, die eine Gebärmutteramputation hatte, und die von ihrer Kollegin Fat Bev, die ihr Herz auf der Zunge trägt, sehr vermisst wird. Die fast sechzehnjährige Amy ist ein hoch aufgeschossenes, auf elegante Weise hübsches Mädchen, beinahe so schüchtern wie die Mutter, für die die Wirkung auf andere und der gesellschaftliche Status mehr zählen als alles sonst (weshalb sie einiges sogar der eigenen Tochter verschweigt). Und Amys früher rückenlange, in allen Blondschattierungen schimmernde Haare sind auf ruppige Weise abgeschnitten. Wie es dazu kam und warum Amy nicht mehr ganz so unerfahren wie ein paar Wochen vorher ist und warum der Vertretungslehrer Mr. Robertson plötzlich aus der Stadt verschwunden ist, davon erzählt dieser vollständig hinreißende, warmherzige, kluge, detailreiche, unglaublich gut aufgebaute Roman in seinen ersten zwei Dritteln. Und davon, wie Vertrauen missbraucht wird, wie Menschen manipuliert werden, wie Lebensentwürfe in Sekundenschnelle ruiniert werden, wie Familien scheitern, wie Ehen ins Stocken geraten, und von vielem mehr. Aber am Ende, nein, nicht nur dort ist diese wunderbare Geschichte überbordend optimistisch, vereinnahmend und lebensbejahend. Sie macht Mut, sie ist ein Vergnügen. Literarisch sowieso.
Wenn man sich – wie ich – in kurzer Zeit durch das Werk der Autorin gearbeitet hat, wobei „Arbeit“ in vollständig positiver Konnotation verstanden werden muss, dann begegnet man Motiven, die sich wiederholen. Elisabeth Strout lässt nicht viele gute Haare an den Männern, vor allem an den Ehemännern, aber man kann auch feststellen, dass ihr das Konzept „Ehe“ grundsätzlich nicht sehr behagt. Sie klagt das immer noch sehr, sehr starke Rollenfundament an, aber sie stellt alldem ihre klugen, aufmerksamen, gefühlvollen, starken, couragierten, freundlichen, leidenschaftlichen, oft ruppigen, gütigen, bemitleidens- und bewundernswerten Frauenfiguren gegenüber (Männer spielen ausschließlich Nebenrollen, aber nicht nur schlechte, um nicht missverstanden zu werden), deren Geschicke in dieser Tiefe und Nähe mitzuerleben schlicht großartig ist. Aber „Amy & Isabelle“ ist, genau wie die Nachfolger, kein „Frauenroman“ und kein irgendwie geartetes feministisches Manifest, sondern eine "great american novel" im besten Sinn. Die Frauen und ihre Schicksale stehen im Mittelpunkt der Kleinstadtgeschehnisse, aber Strout verkauft keine Revolutionen, sondern Appelle, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen und sich über das hinwegzusetzen, was vorgegeben scheint, aber von niemandem in Stein gemeißelt wurde.
Die großartige Nebenfigur „Fat Bev“ scheint übrigens so etwas wie die Blaupause für Olive Kitteridge gewesen zu sein.
Wenn ich etwas bedauere, dann, dass ich Elisabeth Strout erst jetzt entdeckt habe bzw. auf sie aufmerksam gemacht wurde. Ihre Romane gehören trotz der wirklich starken Konkurrenz inzwischen zu meinen Lieblingsbüchern, und „Amy & Isabelle“ ganz besonders.
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ASIN/ISBN: 3442742498 |