Grenzgänger - Mechtild Borrmann

  • Dass es zu diesem Buch hier noch keine Rezension gibt, kann ich kaum glauben, aber ich habe trotz ausgiebigen Bemühens der Suchfunktion keine gefunden.


    Mechtild Borrmann - Grenzgänger


    ISBN 3426281791

    Droemer Knaur Verlag

    288 Seiten

    erschienen am 01.10.2018


    Kurzbeschreibung/Klappentext:


    Wenn Recht nicht Gerechtigkeit ist: Spiegel-Bestseller-Autorin Mechtild Borrmann mit ihrem Meisterwerk "Grenzgänger" rund um ein düsteres Kapitel deutscher Nachkriegs-Geschichte:

    Heimkinder in den 50er und 60er Jahren.


    Die vielfach ausgezeichnete Autorin Borrmann, die mit ihren Zeitgeschichte-Romanen "Grenzgänger" und "Trümmerkind" monatelang auf der Spiegel-Bestseller-Liste stand, erzählt mit der ihr eigenen soghaft-präzisen Sprache die Geschichte einer lebenshungrigen Frau - ein ehemaliges Heimkind - , die an Gerechtigkeit glaubt und daran verzweifelt.


    Die Schönings leben in einem kleinen Dorf an der deutsch-belgischen Grenze. Wie die meisten Familien hier in den 50er und 60er Jahren verdienen sich auch die Schönings mit Kaffee-Schmuggel etwas dazu. Die 17jährige Henni ist, wie viele andere Kinder, von Anfang an dabei und diejenige, die die Schmuggel-Routen über das Hohe Venn, ein tückisches Moor-Gebiet, kennt. So kann sie die Kaffee-Schmuggler, hauptsächlich Kinder, in der Nacht durch das gefährliche Moor führen. Ab 1950 übernehmen immer mehr organisierte Banden den Kaffee-Schmuggel, und Zöllner schießen auf die Menschen. Eines Nachts geschieht dann das Unfassbare: Hennis Schwester wird erschossen.


    Henni steckt man daraufhin 1951 in eine Besserungsanstalt. Wegen Kaffee-Schmuggels. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit.


    Die jüngeren Geschwister, die Henni anstelle der toten Mutter versorgt hatte, kommen als Heimkinder in ein kirchlich geführtes Heim. Wo der kleine Matthias an Lungenentzündung verstirbt. Auch das ist nur ein Teil der Wahrheit.


    Spannung und Zeitgeschichte miteinander zu verknüpfen, versteht Borrmann wie keine andere deutsche Autorin. "Grenzgänger" ist ein packender wie aufwühlender Roman, eingebettet in ein düsteres Stück Zeitgeschichte - die 50er und 60er Jahre in Deutschland.


    "Als beeindruckende Chronistin durchdringt Mechtild Borrmann vielstimmig die Schattenwelten der deutschen Zeitgeschichte. 'Grenzgänger' handelt von der Suche nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit in einer Zeit der kleinen und großen Lügen - ein starker Roman!" Hamburger Morgenpost

    (Quelle: Verlagsseite)



    Meine Eindrücke:


    Am Anfang des Buches, der für mich noch ziemlich verwirrend war, erfährt man von einem bald stattfindenden Gerichtsprozess, ohne genau zu wissen, wer angeklagt ist und was demjenigen zur Last gelegt wird. Erst im Laufe der Geschichte, die Mechtild Borrmann hier erzählt, werden die Zusammenhänge nach und nach klar, und als Leser kommt man dann allmählich auch dahinter, wer da weshalb vor Gericht steht und wie alles zusammenhängt.


    Die Autorin baut die Geschichte sehr geschickt und auf verschiedenen Zeitebenen auf und liefert ein Puzzleteilchen nach dem anderen, die der Leser dann selbst zusammensetzen und betrachten kann, so dass nach und nach ein komplexes Bild ensteht - und sich dadurch auch viele nachdenkenswerte Fragen auftun. Man folgt den einzelnen Figuren und erlebt die Geschichte wechselweise aus deren Sicht, man gräbt zusammen mit ihnen verdrängte Erinnerungen aus und begibt sich auf eine Spurensuche, die hin zu besagtem Gerichtsprozess führt.


    Die Handlung springt dabei zwischen den frühen fünfziger Jahren und dem Prozessjahr 1970 hin und her. Erzählt wird die Geschichte der (fiktiven) in der Eifel beheimateten Familie Schöning, vor allem das Schicksal der vier Kinder wird hier beleuchtet. Die Mutter verstirbt schon früh, der Vater wird trotz seines schon fortgeschrittenen Alters in den letzten Kriegsmonaten noch eingezogen, so dass die Kinder mehr oder weniger sich selbst überlassen bleiben. Henni, die mutige, gewiefte Älteste der Vier, stemmt während seiner Abwesenheit die ganze Arbeit, den Haushalt und die Versorgung der Familie mehr oder weniger allein. Sie sorgt für sich und die Geschwister, so gut sie eben kann, in der Hoffnung, dass der Vater bald wieder nach Hause kommt.


    Doch als er aus dem Krieg zurückkehrt, ist er zu einem lebensuntüchtigen, völlig zerrütteten Wrack geworden, entzieht sich jeglicher Verantwortung für seine Familie und verweigert jede Arbeit. Während er Heil und Trost in der Kirche, beim Dorfpfarrer und im christlichen Glauben sucht und sich immer mehr in bigotter Frömmelei verliert, sind die Kinder auf sich allein gestellt. Statt Essen auf den Tisch zu bringen, liegt er nur auf der faulen Haut, schlägt seine Kinder und traktiert sie mit Bibelversen. Henni, mit vierzehn Jahren fast noch ein Kind, wird die gesamte Verantwortung und Versorgung der Familie aufgebürdet. Trotz aller Anstrengungen kann sie aber letztendlich nicht verhindern, dass ihre beiden Brüder doch in ein Kinderheim müssen, während sie selbst in eine Besserungsanstalt für Mädchen gesteckt wird.


    Sicher hat der Vater im Krieg Schlimmes erlebt, aber trotzdem hätte ich diesen selbstmitleidigen und selbstgerechten Jammerlappen oft schütteln mögen. Der Mann hat sich im Lauf des Buches für mich immer mehr zur Hassfigur entwickelt, vor allem weil sein Verhalten bzw. sein Nicht-Verhalten das schlimme Schicksal seiner Kinder erst ins Rollen gebracht und ausgelöst hat. Trotzdem war es für mich nicht so leicht einzuordnen, denn es stellt sich natürlich auch die Frage, ob er in diesem Fall wirklich nur der Bösewicht und der Täter ist und nicht eben auch einfach nur ein Opfer, Opfer dieses Krieges und der schrecklichen Erlebnisse dieser Zeit.


    Inzwischen habe ich schon einige Bücher von Mechtild Borrmann gelesen und ausnahmslos alle fand ich großartig, bewegend und lange nachhallend. So ein Buch habe ich auch hier erwartet und wurde nicht enttäuscht. Allerdings habe ich nicht damit gerechnt, dass es mich gleich so derart mitnehmen und erschüttern würde. An manchen Stellen musste ich es weglegen, weil ich es einfach nicht mehr ertragen habe, über die Zustände in diesen Kinderheimen der 50er Jahre zu lesen. Diese Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten, die den Kindern angetan wurden, sind einfach unfassbar und haben mich tatsächlich Tränen der Wut und des Mitleids vergießen lassen.


    Henni ist dabei für mich die herausragende Figur des Buches, ihr Schicksal hat mich wirklich sehr bewegt. Allein gelassen von ihrem Vater und der Gesellschaft gibt sie ihr Möglichstes, sich den widrigen Umständen anzupassen und für das Überleben ihrer Familie zu sorgen - und doch wird ihr alles, was sie tut, negativ ausgelegt, jedes Wort wird ihr im Mund umgedreht, und sie wird als verroht und kriminell stigmatisiert. Eigentlich ist es ja der Vater, der sie durch sein Verhalten dazu zwingt, auch zu unlauteren Mitteln zu greifen, doch die Folgen daraus tragen müssen allein Henni und ihre Geschwister. Hier stellt sich auch wieder die Frage nach Schuld oder danach, wer hier Täter und wer Opfer ist, alles Themen, die mich zum Nachdenken gebracht haben. Auch hat das Buch erstaunlich viele heftige Emotionen ausgelöst, weswegen es mir sicher noch lange im Gedächtnis bleiben wird.


    Der einzige kleine Kritikpunkt, den ich habe, betrifft die Darstellung der Nonnen, die das Kinderheim leiten, in denen die Schöning-Jungs untergerbracht sind. Ob die Bedingungen in diesen Heimen zu der Zeit tatsächlich so waren, kann ich schlecht einschätzen. Doch da die Autorin immer recht genau und sorgfältig recherchiert, und im Nachwort zum Buch auch schreibt, dass sie mit Zeitzeugen und Betroffenen gesprochen hat, würde ich schon davon ausgehen, dass es sich so oder ähnlich abgespielt haben könnte.


    Bei manchen Ereignissen im Kinderheim hatte ich aber das Gefühl, dass es gar nicht nötig gewesen wäre, das alles in dieser brutalen Deutlichkeit zu schildern. Natürlich passen diese Beschreibungen zu der erzählten Geschichte und machen sie umso eindringlicher, aber etwas weniger Schwarz-Weiß-Malerei hätte es meiner Meinung nach auch getan, vor allem eben, was die Beschreibung der Ordensschwestern betrifft, die das Kinderheim leiten. Diese Gruppe kaltherziger, boshafter, grausamer und sadistischer Hexen hätte auch gut in einen Horrorfilm gepasst, das war für meinen Geschmack ein bisschen zu dick aufgetragen und auch sehr einseitig gezeichnet, auch wenn es sich so abgespielt haben könnte. Bei manchen Figuren, wie eben den Nonnen oder auch dem Pfarrer, hätte ich mir da eine etwas differenziertere Darstellung gewünscht. Allerdings glaube ich auch, dass man den realen Opfern dieser Gewalt, all den Kindern, die tatsächlich in solchen Heimen untergebracht waren und ihr Leben lang unter diesen Geschehnissen leiden, vielleicht auch einfach schuldet, nichts zu beschönigen und die Dinge klar beim Namen zu nennen. Nur so lassen sich Menschen - und eben Leser - aufrütteln und für ein Thema interessieren.


    Nichtsdestotrotz war der Roman für mich wieder ein Glücksgriff, wie alle Bücher der Autorin, die ich bisher gelesen habe, und ein tolles, bewegendes, erschütterndes Buch zu einem sehr ernsten Thema aus der jüngeren Geschichte unserer Republik.



    ASIN/ISBN: 3426281791