Will McCarthy: Zeitflut. Roman, OT: Antediluvian, aus dem Amerikanischen von Norbert Stöbe, München 2021, Wilhelm Heyne Verlag, ISBN 978-3-453-32076-5, Softcover, 445 Seiten, Format: 13,5 x 3,9 x 20,6 cm, Buch: EUR 14,99 (D), EUR 15,50 (A), Kindle: EUR 11,99.
„Tara, was ist, wenn unsere Legenden alle wahr sind? Ich bin Trollen begegnet und habe das Gerippe eines Drachen gesehen. Ich habe die Sintflut erlebt und das vorsintflutliche Zeitalter. Ich habe vor der Flut die Stimme Gottes vernommen. Die Menschen lernten gerade, in ganzen Sätzen zu sprechen. Das gaben sie an ihre Kinder weiter, wie eine Mutation.“ (Seite 355)
Manchmal zieht es mich zurück zu meinen Wurzeln. Meine ersten Buchvorstellungen habe ich vor fast 40 Jahren für ein SF-Magazin geschrieben – und es konnte für meinen Geschmack gar nicht genug Wissenschaft und Technik in den Büchern vorkommen. Also, entweder bin ich zu lange raus aus dem Geschäft oder es liegt am Buch ... hier habe ich erst nach ungefähr 200 Seiten und nach ausgiebigem Studium des Anhangs verstanden, worauf der Autor hinaus will. Und dann war’s gar nicht so schlecht. Aber so sollte das nicht laufen.
Das Y-Chromosom als Quantenspeicher
Doch von vorn: Die Rahmenhandlung beginnt an der Universität von Colorado, Boulder. Harv Leonel, Mitte 40, Professor der Elektrotechnik, hat eine Art Zeitmaschine gebaut.
Das ist jetzt nicht so wie bei H. G. Wells oder bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT: Er reist nicht physisch in die Vergangenheit. Seine um 20 Jahre jüngere Lebensgefährtin Tara Muckerjee, die eine Postdoc-Stelle am Institut für Paläogenetik an der Cornell University hat, macht sich aber durchaus berechtigte Sorgen, als Harv das Gerät in Betrieb nimmt, auch wenn das so aussieht, als würde es nur eine harmlose Elektroenzephalografie (EEG) durchführen.
Der Apparat misst nicht etwa die Aktivitäten des Gehirns, er beeinflusst sie. Das hier ist der Hintergrund: „Ja. Das Y-Chromosom ist ein Quantenspeicher. Ja, sein Inhalt lässt sich auslesen. Ja, sein Inhalt lässt sich mit etwas Aufwand auf ein menschliches Gehirn übertragen.“ (Seite 350)
Zurück in die Vergangenheit
Das heißt also, der Professor setzt eine Haube auf, drückt aufs Knöpfchen – und (er)lebt das Leben seiner männlichen Vorfahren. Nur leider hat er über diesen Vorgang keine Kontrolle. Was mit einer Momentaufnahme aus dem Arbeitsleben eines Urahns in Schottland anfängt, führt ihn schnurstracks ca. 13.000 Jahre zurück, ans Ende der Eiszeit. (Mit den Zeitverläufen erlaubt sich der Autor die eine oder andere dichterische Freiheit.)
Es dauert eine Weile, bis Harv Leonel sich einen Reim darauf machen kann, wo er ist und in welcher Zeit er sich befindet. Und er wundert sich darüber, dass sein eigenes Bewusstsein aktiv ist, auch wenn er die Welt gerade mit den Augen des Seemanns Manuah sieht. Als er sich orientiert hat, ist er etwas verwirrt, weil er eine wesentlich primitivere Gesellschaft erwartet hatte. Und er staunt darüber, was vor allem die Priesterkaste damals schon für naturwissenschaftliche Kenntnisse hatte.
Nur Manuah sieht ein Problem
Jetzt wird’s allerdings ein bisschen zäh. Auf rund 150 Seiten wird erst einmal das Leben dieser neolithischen Zivilisation beschrieben, ohne dass man so recht weiß, warum eigentlich und wohin das führen soll. Spannend ist das nicht.
Manuah beobachtet, dass der Wasserspiegel steigt und will einen Damm bauen, nur will außer ihm keiner das Problem sehen. Seine Mitmenschen halten ihn für bekloppt. Aber der Komet! Und der Wal im Hafen! Sind das etwa keine Zeichen der Götter?
Der Professor in seiner Zeitmaschine lässt sich dazu hinreißen, seinem Vorfahr Manuah eine Botschaft zukommen zu lassen. Nun pfeift der Seemann auf die Meinung seiner Zeitgenossen und trifft die Vorkehrungen, die er für nötig hält. Zum Glück! Jetzt gibt’s endlich Action, und die ist nicht von schlechten Eltern. Den Leser*innen dämmert nun, dass sie wohl gerade Zeuge des Ursprungs aller Sintflut-Erzählungen geworden sind.
Ah ja ... so langsam ergibt die Sache Sinn!
Unfreiwillige Zeitreisen
Der Professor landet nach einem Krampfanfall im Krankenhaus und unternimmt fortan unfreiwillig weitere Zeitreisen, ohne an die Maschine angeschlossen zu sein. So wird das wohl nichts werden mit dem Nobelpreis. Das sieht eher nach Endstation Psychiatrie aus – oder nach Friedhof.
Während das Krankenhauspersonal und seine Freunde aufgeregt um den Professor herumwuseln und sich die Verantwortlichen fragen, wofür, zum Geier, er hier die Forschungsgelder verpulvert hat, reist er weiter zurück in die Vergangenheit und fragt sich aus gegebenem Anlass seltsame Dinge: Sind die Neandertaler der Basis für die Geschichten über Trolle? Begegnungen zwischen ihnen und den Cro-Magnon-Menschen hat es gegeben. Vermischt haben sie sich auch. 30.000 Jahre vor unserer Zeit erlebt er das mit. Und wie lernten die Menschen eigentlich das Sprechen?
War das erblich wie die Haut- oder Augenfarbe? Gibt’s ein Sprach-Gen? Was Harv Leonel vor 300.000 Jahren erlebt, legt diese Vermutung nahe. Diese Geschichte fand ich interessant. Nur den Schlenker mit der Schlange und dem Apfelbaum hätte sich der Autor sparen können. Das ist echt ein bisschen viel. Ich dachte: „Oh, bitte! Jetzt waren wir gerade halbwegs seriös und wissenschaftlich unterwegs und nun kommt der Autor mit sowas!“
Abenteuer in vorsprachlicher Zeit
Schließlich landet Harv in vorsprachlicher Zeit. Vor rund 1,4 Millionen Jahren verlief die Verständigung noch überwiegend nonverbal und der Zeitreisende tut sich schwer, sich in diese Menschen hineinzuversetzen. Hier muss er sehr viel hineininterpretieren. Was motiviert einen Kerl von damals, ein Floß zu bauen und übers Meer zu paddeln, zu einem Land, das er bislang nur aus der Ferne gesehen hat? Neugier? Forscherdrang? Abenteuerlust? Wie macht sich überhaupt jemand abstrakte Gedanken, der noch keine Sprache kennt? Irgendwie muss es funktioniert haben, denn es gab ja Menschen, die solche Reisen unternommen haben. Dies geschah wahrscheinlich nicht immer aus schierer Not.
Was wir ganz deutlich sehen ist, dass es in jeder Phase der Menschheitsentwicklung Personen gegeben hat, die angesichts von Neuerungen staunten und lernten, aber auch rabiate A***l*cher, die alles, was sie nicht kannten, mit Stumpf und Stiel ausgerottet haben. – Fortschritt? So weit kommt’s noch!
Nobelpreis oder Psychiatrie?
Und jetzt? Wird sich der Professor wieder erholen? Wenn ja, bekommt er Probleme, weil er die Ressourcen der Universität für etwas verschleudert hat, das wissenschaftlich gesehen gar nichts bringt? Denn wie soll er das, was er auf seinen Zeitreisen erlebt haben will, beweisen? Das kann er nicht. Es könnten auch Halluzinationen gewesen sein.
Selbst wenn andere Menschen sich diese Zeitreise-Haube aufsetzen würden, würden sie die Geschichten ihrer eigenen Vorfahren erleben und vermutlich in ganz anderen Zeitaltern landen als der Professor. Man bräuchte viele Zeitmaschinen und sehr viele Probanden, um eine signifikante Anzahl von Aussagen zu bekommen, die dann gewisse Rückschlüsse auf vergangene Ereignisse zuließen und vielleicht sogar archäologisch/historisch belegbar wären. Aber danach sieht es im Moment nicht aus ...
Die falsche Form fürs Thema?
Zugegeben: Es schon ist interessant zu sehen, wie sich Menschen, Sprache und Zivilisation entwickelt haben (könnten). Aber ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, ich lese eine Abfolge von Artikeln aus dem P.M.-Magazin, die jemand auf Romanlänge aufgeblasen und mit einer Rahmenhandlung versehen hat. Inhalt und Form passen hier meines Erachtens nicht so recht zusammen. Da wären mir Kurzgeschichten zu dem Thema oder Sachtexte, gern auch spekulativer Natur, lieber gewesen als so ein zusammengelöteter Roman.
Der Autor
Wil McCarthy, geboren 1966 in Princeton, New Jersey, lebt mit seiner Familie in Denver, Colorado. In seinem Beruf als Ingenieur bei Lockheed gehörte er zu den Männern, die bei Raketenstarts »Lenkungssysteme startklar« melden. Als Science-Fiction-Autor wurde er durch zahlreiche brillante Kurzgeschichten bekannt, denen mehrere Romane folgten. Er machte die Idee der programmierbaren Materie in seiner SOL-Trilogie populär, zu der er auch wissenschaftlich arbeitete. Heute leitet er eine Solarenergie-Firma und ist als Kolumnist für Syfy tätig.
Der Übersetzer
Norbert Stöbe, 1953 in Troisdorf geboren, begann schon als Chemiestudent zu schreiben. Neben seiner Tätigkeit als Chemiker am Institut Textilchemie und Makromolekulare Chemie der RWTH Aachen übersetzte er die ersten Bücher. Sein Roman New York ist himmlisch wurde mit dem C. Bertelsmann Förderpreis und dem Kurd-Lasswitz-Preis ausgezeichnet. Seine Erzählung Der Durst der Stadt erhielt den Kurd-Lasswitz-Preis und die Kurzgeschichte Zehn Punkte den Deutschen Science Fiction Preis. Zu seinen weiteren bekannten Romanen zählen Spielzeit, Namenlos und Der Weg nach unten. Norbert Stöbe ist einer der bekanntesten deutschen Science-Fiction-Schriftsteller. Er lebt als freier Autor und Übersetzer in Stolberg.
ASIN/ISBN: 345332076X |