die Handlung
Die Rahmenhandlung des Romans ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn, der Junge Domenico verlangt sich seinen Erbteil und verlässt das Dorf und seinen Vater, um die Welt kennen zu lernen. Dabei führt ihn sein Weg durch drei Städte, die jede für sich, einen Gesellschaftstypus darstellen. Die erste ist Feinstadt, ein Ort des Wohllebens und der Höflichkeiten, die sich all zu bald als leere Fassaden entpuppen. In Folge eines tragischen Ereignisses, an dem er Mitschuld trägt, verlässt Domenico Feinstadt, die Todessehnsucht treibt ihn in die Stadt des Verbrechens, der Tyrannei und der rohen Gewalt - Kamorra. Doch er stirbt nicht, ein geheimnisvoller Beschützer, dessen Identität er nichts weiß, wacht über sein Leben. Und so erfährt er von der Existenz der dritten Stadt, Canudos, die "weiße Stadt", die die Ärmsten der Armen, die von den Kamorranern ausgebeuteten und unterjochten Viehhüter, gegründet haben, um hier frei von Unterdrückung in Solidarität miteinander ihr Leben zu führen. Domenico befreit sich aus den Fängen der Kamorraner und schließt sich den Freiheitssuchenden an. Als Canudos im Kampf unterliegt und vernichtet wird, kommt Domenico abermals mit dem Leben davon. Es folgen lange Leidensjahre, bevor er zu seinem Vater zurückkehrt, der ihn mit offenen Armen empfängt. Von ihm erhält er das erste Gewand. Es ist der Tag des alljährlich wiederkehrenden traditionellen Festes. Domenico, vom Vater zum Träger des ersten Gewandes bestimmt, übergibt das Kleidungsstück den Flammen, und dem Leser offenbart sich dessen eigentliche Bedeutung...
meine Rezension
Die Orte im Roman, einschließlich des der Weltgeschichte entnommenen Canudos, sind fiktiv und die Zeit, in der der Roman spielt, ist nicht festgelegt, aber die angesprochenen Aspekte sind heutige, es ist ein kosmopolitischer Roman, der von einem sehr heutigen Bewusstsein ausgeht und dabei eine tiefe Erdung in der georgischen Gesellschaft hat. Dotschanaschwili ist ein Autor, der sich mit politischen Gegebenheiten seiner Zeit auseinandersetzt, ohne zeitgebunden zu sein.
Die Realität im Roman ist geheimnisvoll, hat eine zweite Ebene, doch trotz der magischen Elemente wird die Realität nicht als magisch erlebt, sondern als real. Das Wundersame ist im Alltäglichen eingeflochten.
Es sind Dinge möglich, die wir so aus unserer Sicht nicht kennen, die uns märchenhaft anmuten, die aber durch geschickte Montage und die Art und Weise ihrer Eingliederung ins Geschehen auch die Frage nach den Grenzen unserer sehr rationalen Welt aufwerfen und dem, was sich jenseits davon befindet. Das Phantastische erhält bei diesem Autor eine Glaubwürdigkeit, welche die der Realität zum Teil übertrifft.
Dotschanaschwili hadert niemals mit der menschlichen Existenz als solcher, er protestiert gegen die Gesellschaftsordnung, stellt Brutalität, Heuchelei, Verrohung und Menschenverachtung bloß, den Usus der Mächtigen, die Rituale der Macht. Indem er die Sprache der Mächtigen parodiert, entlarvt er sie, und macht deutlich, was sich hinter dieser Sprache verbirgt.
Sieht der Leser in Kamora das damals herrschende, totalitäre Regime der Sowjetunion, das vorgab, die Gleichheit aller Menschen an oberste Stelle zu setzen, so sind es gerade die Verfolgten dieses Regimes, die Canudener, die Freiheit und Brüderlichkeit leben. Dotschanaschwilis Parabel aber bleibt auch über den konkreten politischen Bezug hinaus aktuell.
Glaubt Dotschanaschwili an die Erziehbarkeit der Menschen? Den Canudenern lässt er durch die Figur Mendes Maciels sagen, dass es für sie einen Sieg nicht geben wird, nicht geben kann. Und auch, dass es nicht möglich sein wird, die Kamoraner umzuerziehen. Der Kampf der Canudener ist von Anbeginn zum Scheitern verurteilt, sie werden ihn verlieren, doch dies heißt keinesfalls, dass sie ihn nicht führen sollen, im Gegenteil. Denn eines werden sie in diesem Kampf gewinnen, und das ist die Freiheit – aufzuwachen „mit einem Lächeln im Gesicht“ und dem Wissen, „dass jeder deiner Schritte richtig sein würde.“ Und ist es nicht eben die Freiheit, um derentwillen sie den Kampf geführt haben? Aus dieser Sicht betrachtet beantwortet sich die Frage nach Sieg oder Niederlage anders, erweist sich der vermeintliche Sieg der Kamoraner als wertlos. Die Furcht vor dem Tod ist kein Grund, nicht zu kämpfen, denn „wir sind ohnehin nur für kurze Zeit hier“. Entscheidend ist die Art, wie man lebt, und, einmal wenigstens, wirklich frei zu sein. Ganz im Sinne des sartreschen Existenzialismus ist Freiheit für Dotschanaschwili eine Verantwortung, vor der der Mensch entweder fliehen, oder der er sich stellen kann.
Virtuos ist im Roman die Darstellung von Details, wenn man beispielsweise an die im Innenfutter eingenähten Orden des großen Erfinders oder die diamantenfressende Ehefrau des Marschalls denkt, das sind Dinge, die so originell sind, dass sie noch lange nach der Lektüre im Gedächtnis bleiben. Vieles weist über sich hinaus, als der Hauptvollstrecker des Systems seine knochenlosen Arme aufrollt und sie wie Epauletten auf seine Schulter legt, wird klar, dass er tatsächlich kein Mensch, sondern ein Wesen mit schlangenhaften Zügen ist. Im Übersteigerten wird das Exemplarische deutlich, Kadima ist sowohl Personnage als auch Symbol für die Unmenschlichkeit des totalitären Systems. Die Schlange taucht als Bild wiederholt auf, im Sertao beobachtet Manuelo, wie eine Maus wie hypnotisiert völlig wehrlos auf eine Schlange zutaumelt (ähnlich wie zuvor Domenico auf Michinio zugetaumelt ist, dessen Augen von einem Winkel zum anderen völlig grau sind) eine Szene, die so einfach wie eingängig ist.
In Dotschanaschwilis Schreiben zeigt sich auch die Liebe zur Sprache selbst, die Freude am Klang und an der Musikalität der Sprache. Hier zeigt sich der Musiker Dotschanaschwili. Sein Stil ist ein kraftvoller, eindringlicher und zugleich feinnerviger Stil, den wir in der Übersetzung nur versuchen konnten, nachzuahmen. Seine Schilderungen sind ungeheuer anschaulich, wir möchten wegschauen, wenn Gwegwe sein Stück Wassermelone isst, der Gestank des Moloch beißt uns in die Nase, wir können Teresa im Schnee tanzen sehen, und obgleich Dotschanaschwili in der Art und Weise, wie er seine Charaktere baut, gänzlich auf psychologische Analysen verzichtet, haben wir das Gefühl, in seinen Personen Menschen aus unserer Umgebung wiederzuerkennen.
Das erste Gewand ist ein ungewöhnliches Buch, das man unterschiedlich lesen kann, so reich, dass manch einer wohl dies, ein anderer das darin finden wird, ein Buch, das mitnimmt.
Die Ermahnung des Vaters an Domenico, der nach allem, was ihm widerfahren ist, nun bereit ist, das Geschehene zu erzählen: „Und obwohl du auch fähig sein musst, zu hassen, darfst du dabei nie vergessen, was die Erde zum Drehen bringt“, ist einer der vielen Sätze, die im Ohr nachhallen, nachdem wir das Buch längst zugeklappt haben. Und die Antwort, in Georgien viel zitiert: „დედამიწას სიყვარული ატრიალებს“ (es ist die Liebe, die die Welt zum Drehen bringt) ist so einfach, dass man sich wundern kann, wie oft wir diese Wahrheit vergessen.
der Autor
Guram Dotschanaschwili wurde am 26. März 1939 in Tbilissi, Georgien, als Sohn eines Arztes geboren. Kurz vor dem Abitur wurden Dotschanaschwili und 8 weitere Jugendliche, aus denen später führende Köpfe der georgischen Intelligentsia werden sollten, wegen des Verteilens von Flugblättern gegen das kommunistische Regime festgenommen. Guram Dotschanaschwili studierte Geschichte und Archäologie und war gleichzeitig erster Geiger im Universtätsorchester. Die ersten seiner zahlreichen Erzählungen erschienen 1961, nach ihnen sind Kurzfilme, Radiohörspiele und Theaterstücke entstanden, die in Georgien sehr beliebt sind. Sein großer Roman "Das erste Gewand" kam bei einer Umfrage nach dem Lieblingsbuch der Georgier - nach dem Vorbild von BBC Big Read - mit großem Abstand auf den ersten Platz. Guram Dotschanaschwili ist am 3. April 2021 verstorben.
"Das erste Gewand", Originaltitel: Samoseli pirveli, aus dem Georgischen übersetzt von Susanne Kihm und Nikolos Lomtadse, Hanser 2018, ISBN 3446260137
ASIN/ISBN: 3446260137 |
(Edit: ISBN zur Verlinkung und Coverabbildung nachgetragen. Gruß Herr Palomar)