Judith Hermann: Daheim

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    Das Wort, das den Titel dieser Besprechung bildet, ist eines, das deutschen Rechtschreibungsregeln genügt, das theoretisch sogar einen Sinn hat oder haben könnte, und das sich dadurch auszeichnet, als einzigen Vokal das E zu nutzen. Sicherlich gibt es längere und sinnvollere Wörter dieser Art, die noch mehr Es enthalten, aber das ist möglicherweise nicht der wesentliche Aspekt bei diesem Kunstwerk. Denn, ja, dieses Wort ist ein Kunstwerk. Behaupte ich. Aber auch ohne diese Behauptung wäre es eines. Denn was wir aus uns heraus schaffen, ohne dass es einen direkten Zweck hätte, ist Kunst.


    Eine ganz ähnliche, wenn nicht dieselbe Phänomenologie betrifft Judith Hermanns Texte, seit jenem überraschenden Erfolg mit „Sommerhaus, später“, der Anthologie, die im Jahr 2000 wochenlang die Bestsellerlisten anführte und das gesamte deutsche Feuilleton total kirre gemacht hat. Wer sich ein wenig in der Verlagsbranche auskennt, der weiß, dass Kurzgeschichtensammlungen nicht sonderlich weit über Lyrik rangieren, was die Verkäuflichkeit und also ihre Akzeptanz in den Programmsitzungen anbetrifft, wobei Lyrik als nahezu völlig unverkäuflich gilt. Was Frau Hermann da seinerzeit geschafft hat, gelingt normalerweise nur Nobelpreisträgern. Und ich gehörte auch zu den Lesern. Ich weiß noch ziemlich viel über die nicht wenigen Bücher, die ich außerdem im Jahr 2000 gelesen habe, aber fragte man mich, wovon die Storys in „Sommerhaus, später“ handelten, müsste ich passen.


    Ich fürchte, in weitaus kürzerer Zeit wird es mir ebenso gehen, wenn jemand von mir wissen will, worum es in „Daheim“ geht. Wenn ich mein Ich in, sagen wir, acht Monaten antizipiere, dann erinnert sich dieses Ich vielleicht noch an eine Frau, die in einem sehr heißen Sommer alleine am Deich wohnt. Möglicherweise weiß ich noch, dass sie Briefe an ihren Ex-Mann schreibt und auf Nachrichten von ihrer Tochter wartet.

    Aus der Nähe betrachtet erzählt „Daheim“ von einer Frau, die siebenundvierzig Jahre alt ist und mehr als zwanzig Jahre zuvor in einer Zigarettenfabrik gearbeitet hat. Eines nachts wurde sie an einer Tankstelle, wo sie sich in jenem auch sehr heißen Sommer allnächtlich Eis gekauft hat, von einem Zauberer gecastet, der sie für den Trick mit der zersägten Dame auf ein Kreuzfahrtschiff mitnehmen wollte. Sie ist damals allerdings nicht nach Singapur mitgefahren. An diese Sache erinnert sie sich jetzt, weil ihr Nachbar, der eigenbrötlerische, aber attraktive Bauer Ardil, eine Marderfalle anschleppt, weil die Frau im einsamen Haus irgendwo hinterm Deich Tiergeräusche hört, und der Schweinebauer vermutet, es wäre ein Marder - die Falle ähnelt jener Vorrichtung, in der Zauberer Damen zersägen. Der Bauer ist der Bruder von Mimi, der Nachbarin und bald besten Freundin, die nackt Rasen mäht. Der Bruder der erzählenden Frau betreibt eine Kneipe namens „Shell“, in der die Frau kellnert, während der Bruder nur die Kaffeemaschine anstarrt - oder sein Telefon, weil er hofft, dass sich Nike (Turnschuh oder Siegesgöttin oder bedeutungslos) meldet, die zwanzig Jahre alte, klapperdürre und äußerst eigenartige Frau, mit der dieser Bruder, der sechzig Jahre alt ist, eine Art Beziehung hat. Es geht in „Daheim“ möglicherweise um das Verhältnis zwischen Geschwistern. Es geht um Missbrauch, um Selbstverletzung, es gibt feministische Töne, aber eigentlich passiert in diesem eigenartigen, spröden, verkopften, langweiligen und hyperartifiziellen Text so gut wie nichts, das nachvollziehbar wäre, und all die Figuren mit ihren dick aufgetragenen, überdramatischen Eigenschaften tapern aneinander vorbei wie groteske Zombies in einem billigen Splatterfilm. Das plättet die Themen und Ambitionen; der Roman verströmt so viel Empathie wie der jüngst abgewählte Präsident der U.S. of A.. „Daheim“ ist reinste Reißbrettliteratur, ist ausgedachter Konflikt, zugekleistert mit dick aufgetragener Metaphorik, einer Flut von Andeutungen und Symbolen, all das vermengt mit kalter, übernüchterner und trotzdem manirierter Sprache. Ein Fest für Deutschlehrer der ausgehenden Siebziger, aber nicht unbedingt für die Leser. Erdbeercremebecherherstellwerkschefchefsessellehnenseelenklempner eben.



    ASIN/ISBN: 3103970358