Simon Urban - Wie alles begann und wer dabei umkam

  • Titel: Wie alles begann und wer dabei umkam

    Autor: Simon Urban

    Verlag: Kiepenheuer und Witsch

    Erschienen: Februar 2021

    Seitenzahl: 544

    ISBN-10: 3462055003

    Preis; 24.00 EUR


    Das sagt der Klappentext:

    Wo endet ein inselbegabter Jurastudent, der an den starren Regelwerken des Gesetzes verzweifelt und beschließt, das Recht selbst in die Hand zu nehmen? In einer Gefängniszelle! Was aber zwischendurch geschieht, ist so unglaublich und derart gnadenlos und witzig erzählt, dass einem die Luft wegbleibt. Bereits als Kind findet der Held dieses Romans zur Juristerei: Er bereitet ein Verfahren gegen seine Großmutter vor, den Drachen der Familie – und verurteilt sie im Wohnzimmer in Abwesenheit zum Tode. Berufung: nicht möglich. Dass ein Jurastudium im beschaulichen Freiburg einem solchen Charakter nicht gut bekommt, ahnt man schnell. Auch hier kann er die Finger nicht von den Gesetzen lassen, und nimmt das Recht in die eigene Hand.


    Der Autor:

    Simon Urban, geboren 1975 in Hagen, Studium der Germanistik und Komparatistik in Münster, Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sein Roman »Plan D« (2011), in dem die DDR heute noch existiert, wurde in elf Sprachen übersetzt. 2014 erschien der Roman »Gondwana«. 2013 war er Writer in Residence beim International Writing Program der Universität Iowa. Für die ARD schrieb er die Erzählvorlage zum Spielfilm »Exit« (2020). Er lebt in Hamburg und Techau (Ost-Holstein).


    Meine Leseeindrücke:

    Es gibt Romane die sind einfach gut. Sie versprühen ein ganz besonderes Flair, nicht nur inhaltlich sondern auch sprachlich. Diese Roman gehört auf jeden Fall dazu. Ein moderner „Schelmenroman“? Das mag jede/jeder für sich entscheiden.

    Aber es wird eben auch die Juristerei persifliert – ohne sie jedoch lächerlich zu machen. Juristen haben oftmals die Gabe sich in Höhen zu begeben – wo ihnen kaum jemand folgen kann – und sie selbst oftmals auch nicht. Nur ist die Juristerei für eine funktionierende Ordnung eben unverzichtbar. Mögen es viel auch anders sehen, weil sie oftmals nicht begreifen warum diese oder jene Vorschrift, dieser oder jene Rechtsgrundsatz notwendig und wichtig ist.

    Juristen müssen abstrahieren, dabei aber immer exakt am Gesetzestext bleiben, sie müssen ohne Emotionen beurteilen können. Jeder Sachverhalt muss korrekt und akribisch subsumiert werden.

    Aber in diesem Roman geht es nicht nur um die Juristerei – sie ist wohl eher Mittel zum Zweck. Im Vordergrund stehen die Eitelkeiten und Selbstzweifel von Menschen.

    Ein sehr lesenswerter Roman, an dem gerade auch Nicht-Juristen ihre echte Freude haben dürften.


    ASIN/ISBN: 3462055003

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • ... und gelesen:


    Die beste deutschsprachige Erstveröffentlichung des Jahres


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    Vorweg: Diese großartige Erzählung wird hier und da als „Juristenroman“ bezeichnet, was erstens grundfalsch ist und zweitens den Eindruck erweckt, Spaß an der Lektüre könnten nur Robenträger und Kanzleikandidaten haben. Dieses Etikett sollte man tunlichst ignorieren. Recht und Justiz spielen zwar wesentliche Rollen in dieser kuriosen und fantastisch erzählten, turbulenten, funkelnden und augenzwinkernden Geschichte, aber es ist nicht nötig, selbst Rechtswissenschaften studiert zu haben, um Simon Urban auf diesem Galoppritt folgen zu können. Oder auch nur juristaffin zu sein (falls es so etwas gibt).


    „Menschlichkeit“ ist ein paradoxer Terminus. Menschlich im direkten Wortsinn ist alles, was Menschen tun, das nicht dem Überleben und der Arterhaltung dient, von der altruistischen Selbstaufopferung bis zur brutalen, eine zweifelhafte Lust befriedigenden Gräueltat, denn nur Menschen sind zu solchem Verhalten und allen Abstufungen davon fähig. Die positive Konnotation, die der Begriff „Menschlichkeit“ in aller Regel hat, verneint also letztlich seine unmittelbare Bedeutung - und sie orientiert sich an durchaus vergänglichen ethischen Paradigmen, denn was noch gestern richtig gut war, kann schon morgen ziemlich schlecht sein. Wenn wir von freundlichem, über die Notwendigkeit hinaus sozialem, gar von Nächstenliebe gekennzeichnetem Umgang sprechen und ihn „menschlich“ nennen, dann trifft wohl zu, dass er einigen Menschen zueigen ist, aber das gilt für sein Gegenteil ebenso. Wenn man jemanden als „Unmenschen“ bezeichnet oder ihn mit dem entsprechenden Adjektiv versieht, sollte man sich gelegentlich fragen, wie es sein kann, dass jemand etwas fraglos ist, nämlich faktisch ein Mensch, und zugleich nicht, weil er ja soeben als Unmensch bezeichnet wurde. Dieses Paradoxon der Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Merkmale ist übrigens tatsächlich – menschlich.


    Aber von vorne. Simon Urban erzählt die Geschichte von J. Hartmann, dessen Vorname, meine ich, nur einmal erwähnt wird, und möglicherweise „Jonas“ lautet, aber ich bin nicht sicher - mehr als 550 Seiten, die sprachlich, inhaltlich und intellektuell so dicht gepackt wie diese sind, schleifen das Kurzzeitgedächtnis ein wenig. Jedenfalls - dieser Mann, der als Ich-Erzähler auftritt, hat in einer Gefängniszelle seine eigene Geschichte aufgeschrieben, die sehr bald - er ist Mittzwanziger - enden wird, und zwar mit der Hinrichtung dieses Erzählers, also seiner selbst. Wo er in der Todeszelle sitzt und warum genau, das erfährt der Leser aber erst gute 500 Seiten später.


    Bis dahin erleben wir zuerst mit, wie der Junge mit seinen Eltern im muffigen Souterrain jenes Hauses aufwächst, das der Mutter des Vaters gehört. Diese Oma ist eine böse, giftsprühende, herrische und brutale Frau, was sie vor allem der Mutter des Jungen gegenüber auslebt, die das stoisch hinnimmt und sich wie eine Sklavin behandeln lässt, während der Vater schweigt oder unterwegs ist. Aber der Enkel beginnt schon früh damit, aufzuzeichnen, was er miterleben muss, und irgendwann im Teenageralter führt er einen einsamen Schauprozess gegen die Oma, die er für all das Ungemach, das diese der Mutter zudachte, in Abwesenheit zum Tode verurteilt.


    Denn der Junge ist einerseits hochbegabt und andererseits bestenfalls mäßig empathisch. Er ist einer, der alle Details sieht, ein genauer, akribischer Beobachter, ein schneller Lerner mit hoher Auffassungsgabe, und er ist jemand, der Zusammenhänge erkennt und fortspinnen kann. Das Recht – das faktische, in Gesetze gegossene, aber auch das moralische, das ethische, und das individuelle - wird deshalb zu seinem Steckenpferd. Er studiert in Freiburg, wo er rasch als brillantes Faktotum gilt, aber auch als a-sozialer Außenseiter. Dort lernt er die kluge Sandra kennen, die seine Interessen teilt, und die attraktive Barbara, die seine Spielgefährtin wird, und er entdeckt seine große Lust daran, von anderen Menschen Dinge zu erfahren, die sie bis dahin als intimste Geheimnisse gehütet haben. Vor allem aber entwickelt er sein eigenes Rechtssystem, ein auf Rache und Sühne basierendes, kompliziertes, intelligent-archaisches, aber sehr nachvollziehbares Modell, dem zuerst das „Ne bis in idem“-Prinzip zum Opfer fällt, also die Tatsache, dass ein mit Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbares Urteil endgültig ist und dass niemand in gleicher Sache zweimal angeklagt werden kann, selbst wenn er einmal freigesprochen wurde und anschließend den Mord freimütig gestanden hat. Doch Hartmanns Ideen sind noch weitaus vielschichtiger und radikaler, wobei der Anreiz durch die Neubesetzung einer Dozentenstelle erhöht wird, ausgerechnet durch eine Juristin, die energische Anhängerin des Resozialisierungsgedankens ist, gedanklich also Hartmanns Ideen diametral entgegengesetzt.


    Doch das ist alles nur die Ouvertüre. Urbans kluge, unfassbar eloquente, sehr zynische, politisch mehr als nur unkorrekte, aber enorm sachliche und eben deutlich psychopathische Hauptfigur, die auch noch als Ich-Erzähler auftritt, wirbelt durch eine so wunderbar aufgebaute Geschichte, dass es ein reines Vergnügen ist. Selten habe ich so viel komprimierte zustimmungsfähige Klugheit erlebt, die auch noch in eine tolle Erzählung verpackt war, wobei „zustimmungsfähig“ nicht die Ideen der Hauptfigur betrifft, sondern das gerüttelt Maß an gehobener Weisheit, das diese Geschichte mit sich herumträgt.


    Und damit zurück zur Menschlichkeit. Urbans Protagonist betrachtet Umstände und Systeme nicht kategorisch, sondern umfassend, mit einer sachlichen und emotionsarmen Nüchternheit, die Moral und Ethik zwar als Aspekte akzeptiert, aber nicht in den Vordergrund stellt, sondern bestenfalls als Einflüsse bewertet. Anders gesagt, und davon handeln vor allem die beiden letzten Teile dieses anbetungswürdigen Werks: Hartmann stellt alles in Frage (auch das Infragestellen), und er torpediert dabei einiges, das als quasi-axiomatisch und zivilisationsstiftend angenommen wird, aber (nicht nur aus seiner Sicht) längst keiner Überprüfung mehr standhalten würde. Dass man das nicht gefahrlos und nicht ohne Gefahr für sich selbst tun kann, das stellt sozusagen die Klammer der Geschichte dar.


    Aber „Wie alles begann und wer dabei umkam“ ist nicht so aufgesetzt-larmoyant-gewollt-klugschwätzend wie diese Rezension, sondern ein fantastisches Buch, in dem großartige Ideen mit einer spektakulären Geschichte verwoben sind, es ist kluge und spannende Lektüre – und für mich eine der besten deutschsprachigen Erstveröffentlichungen des Jahres. Lesen Sie es! Und, ja, verschenken Sie es ruhig auch an Juristen.