Mädchen, Frau etc. – Bernardine Evaristo

  • Mädchen, Frau etc. – Bernardine Evaristo

    Titel der Originalausgabe: Girl, Woman, Other



    Inhalt (von Amazon):

    Die Dramatikerin Amma steht kurz vor dem Durchbruch. In ihrer ersten Inszenierung am Londoner National Theatre setzt sie sich mit ihrer Identität als schwarze, lesbische Frau auseinander. Ihre gute Freundin Shirley hingegen ist nach jahrzehntelanger Arbeit an unterfinanzierten Londoner Schulen ausgebrannt. Carole hat Shirley, ihrer ehemaligen Lehrerin, viel zu verdanken, sie arbeitet inzwischen als erfolgreiche Investmentbankerin. Caroles Mutter Bummi will ebenfalls auf eigenen Füßen stehen und gründet eine Reinigungsfirma. Sie ist in Nigeria in armen Verhältnissen aufgewachsen und hat ihrer Tochter Carole aus guten Gründen einen englischen Vornamen gegeben.


    Auch wenn die Frauen, ihre Rollen und Lebensgeschichten in Bernardine Evaristos Mädchen, Frau etc. sehr unterschiedlich sind, ihre Entscheidungen, ihre Kämpfe, ihre Fragen stehen niemals nur für sich, sie alle erzählen von dem Wunsch, einen Platz in dieser Welt zu finden.


    Mein Eindruck:


    Das Buch ist keine fortlaufende Geschichte, sondern eher eine Sammlung von einzelnen, Geschichten von zwölf Figuren, hauptsächlich Frauen, aus verschiedenen Generationen. Manchmal besteht zwischen Geschichten eine direkte Verbindung (man liest beispielsweise die Geschichte einer Frau und anschließend die ihrer Tochter oder Großmutter), manchmal stolpert man über die Erwähnung einer Person, deren Geschichte man bereits gelesen hat.


    Evaristo schafft es, jeder dieser Figuren eine ganz eigene Stimme zu verleihen. Man hat dadurch das Gefühl, als würde einem jede Figur ihre Geschichte selbst erzählen, als säße sie einem gegenüber und berichtete aus ihrem Leben. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass Evaristo Interpunktion nur spärlich einsetzt, aber Zeilenumbrüche und Absätze verwendet, was an einigen Stellen an eine Mischung aus Prosa und Lyrik erinnert und einen tollen Flow und Rhythmus ergibt.


    Die Geschichten der einzelnen Figuren sind sehr vielfältig, wodurch es nie langweilig wird. Gemeinsam ist ihnen, dass Evaristo sie mit viel Zuneigung und Respekt erzählt und die Entscheidungen und Handlungen der Personen weder rechtfertigt noch verurteilt.


    Mir hat dieses beeindruckende Buch außerordentlich gut gefallen.



    ASIN/ISBN: 3608504842

  • Bis Sonntag Abend ist das Interview mit ihr der kostenlose Film der Woche.


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    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")


    "An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die Schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern."

    Erich Kästner.

  • Bernadine Evaristo - Mädchen, Frau etc.

    Übersetzerin: Tanja Handels


    Inhalt:


    12 weibliche, nicht-weiße Lebensläufe, die sich an verschiedenen Stellen kreuzen. Alle diese Frauen leben oder lebten in England zu verschiedenen Zeiten, von Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute. Und jede dieser Frauen hat oder hatte ihre eigenen, schönen und bitteren Erfahrungen zu sammeln und ihre eigenen Kämpfe auszufechten.


    Meine Meinung:


    Ich war selten von einem Buch so geflasht wie von diesem, das wird mein absolutes Jahreshighlight werden.


    Das Buch hatte ich auf meiner Wunschliste, seit es den Booker Prize 2019 gewonnen hatte und ich war ziemlich verärgert, weil ich so lange auf die Übersetzung warten musste. Aber nun bin ich froh, dass man sich für die Übersetzung Zeit ließ und ich halte die Arbeit von Tanja Handels für ganz hervorragend. Es war sicherlich eine Herausforderung, denn Evaristo setzt in ihrem Buch keine Punkte am Satzende, sondern setzt Abschnitte, manchmal auch mitten im Satz. Dadurch hat sich für mich beim Lesen ein starker Fluss entwickelt und so ließ ich mich durch die Kapitel treiben - von mir aus hätte es auch noch weiter so gehen können.


    Die Beziehungen zwischen den 12 Frauen sind mehr oder weniger eng. Es gibt enge Verbindungen, z. B. wird das Leben der Tochter beschrieben und später das der Mutter, oder auch lockere Verbindungen, wie die zwischen Lehrerin und Schülerin. Spannend fand ich, dass sich die Lebensläufe auch unerwartet kreuzen, z. B. wenn sich herausstellt, dass die Putzfrau der einen Frau vorher schon mal als Mutter einer anderen Frau vorgestellt worden war. Zum Schluss hätte ich gerne die Beziehungen der Frauen untereinandermal in einer Grafik gesehen - allerdings dürfte man diese Grafik aber wirklich nur ganz am Ende anschauen, sonst nimmt man sich ein paar Überraschungen weg.


    Spannend waren auch die unterschiedlichen Blickwinkel. Ich lerne eine Person aus den Augen einer anderen Person kennen und habe entweder Sympathie oder Antipathie ihr gegenüber. Später erfahre ich dann den Lebenslauf dieser anderen Person näher und mein Eindruck von vorhin wird sofort in Frage gestellt. Das ging mir vor allem so bei der Lehrerin Shirley/Mrs King. Zuerst lernte ich sie als unbarmherzige Antreiberin in den Augen der Schülerin Carole kennen, später jedoch, als ihr eigenes Leben erzählt wurde, habe ich mein Bild von ihr schnell revidieren müssen.


    Interessant sind natürlich auch die unterschiedlichen Epochen, in denen die Lebensläufe erzählt werden, von Anfang 1900 bis heute. Und der Wandel der Zeiten: z. B. als Winsome mit ihrem Mann in den 1950er-Jahren auf den Scilly-Inseln Arbeit sucht, werden sie von dort mehr oder weniger verjagt - später macht Bummi auf den Scilly-Inseln Flitterwochen und ist begeistert von den netten Menschen dort.


    Auch sprachlich unterscheiden sich die Personen. Z. B. Amma: sie hat ihre Sturm-und-Drang-Zeit in den 1980er-Jahren, ist eine lesbisch-feministische Aktivistin und Theaterfrau, sie stört, sie provoziert, ist penetrant und redet in einer Art Ghetto-Slang, der sie sehr gut repräsentiert. Ganz im Gegensatz dazu steht Carole, Tochter einer alleinerziehenden Nigerianerin, die es mit einem Begabten-Stipendium nach Oxford bringt und alles tut, um sich sprachlich und von der ganzen Lebensweise her ihrer neuen, englisch-weißen Umgebung anzupassen und in ihr zu verschwinden.


    Sprachlich interessant fand ich auch das Kapitel um Megan/Morgan. In der zweiten Hälfte des Kapitels, als Megan zur/zum (?) nicht-binären Morgan wird, verwendet die Autorin auch nicht-binäre Pronomen, was mich am Anfang total irritiert hat. Das war für die Übersetzerin sicher auch enorm anspruchsvoll.


    Die Klammer um die 12 Lebensläufe ist die Premiere von Ammas Theaterstück am National Theatre in London - hier treffen sich etliche der vorher beschriebenen Frauen, teilweise ist es ein Wiedersehen nach langer Zeit ohne Kontakt. Ich habe das Ende des Buches als versöhnlich empfunden.


    Tolles Buch!

    Von mir gibt es eine Leseempfehlung.

  • Mädchen, Frau etc – Bernardine Evaristo


    Mein Eindruck:

    Die Schriftstellerin Bernradine Evaristo zeichnet mit viel Einfühlungsvermögen das Leben einer Vielzahl von Figuren. Diese Fähigkeit schätze ich hoch ein und das macht diesen Roman zu so etwas Besonderen.


    Schon der erste Abschnitt mit Amma zeigt, wie die Autorin auf kurzen Raum ein ganze Lebensentwurf zeigt. Nachdem die junge Amma nach sexueller Orientierung sucht, wird sie schließlich Mutter von Yazz, die als 19jährige den zweiten Abschnitt übernimmt. Es wird viel vom zeitgenössischen Leben einer jungen Person of Color in England gezeigt.

    Dann folgt Ammas gute Freundin Dominique, die sich in Nzinga verliebt.Doch das wird eine unheilvolle Beziehung, die in Gewalt endet.

    Und weiter geht der Reigen.

    Bewegend sind da z.B. die Abschnitte um die leichtsinnige LaTisha, die 3 Kinder von 3 verschiedenen Männern bekommt, die enttäuschte Lehrerin Shirley und die Passagen mit Megan/Morgan.


    Grandios, wie die Autorin die Abschnitte mit den vielen Figuren folgelogisch miteinander verbindet. Die Figuren tauchen immer wieder auf. Ein Zusammenhalt bindet als End- und Höhepunkt eine Theater-Premierenfeier.


    Liest man Evaristos neues Buch Manifesto findet man zu einigen der hier beschriebenen Passagen einen Schlüssel.


    Sprachlich ist das ganze außergewöhnlich, mit nur wenigen Satzzeichen fließend gestaltet und sehr gelungen.

    Erfreulich, dass dieser Roman den Booker Award gewonnen hat.