Es ist eine Form von Respekt, andere so zu nennen wie sie genannt werden möchten.
Genau wegen solcher Argumente ziehe ich mich inzwischen schnellstmöglich aus Diskussionen wie diesen zurück.
Diese Argumentation, die eigentlich eine rhetorische Figur ist, impliziert nämlich zweierlei:
1. Du bist respektlos gegenüber "anderen" (meistens ist eine irgendwie geartete, mehr oder weniger heterogene Gruppe gemeint, die sich von der ebenfalls heterogenen Metagruppe - also der Gesellschaft - durch bestimmte Merkmale unterscheidet), wenn Du dem nicht folgst. Das fällt in eine ähnliche Sparte wie das schillernde Bild von den religiösen Gefühlen, die man verletzt, wenn man sich z.B. als Atheist blasphemisch (oder auch nur religionskritisch) verhält, was eine oxymorotische Verhaltensweise wäre (einen nicht existenten Gott kann man nicht lästern), und außerdem gehen einem, wenn man Atheist ist, sämtliche Gottheiten und Religionen am Gesäß vorbei, während es für solche, die ihnen zugeneigt sind, jeweils eine Gottheit oder Religion weniger ist. Diese Behauptung, man wäre respektlos gegenüber der Gruppe, wenn man sich nicht an die Regeln hält, deren Einhaltung die Gruppe (vermeintlich, tatsächlich stimmt das beim Gendern nicht) verlangt, kommt einer soziologischen Armutserklärung zumindest nahe, denn Einseitigkeit verneint Diskurse und Konsensfindung. Außerdem lädt sie emotional auf, wie man quasi in Sekundenschnelle erleben kann, wenn man Begriffe wie "gendern" nur fallen lässt, und das ist eben der Tatsache geschuldet, dass es einen Anspruch auf elementare Wahrheit zu geben scheint, dass selbsternannte Vertreter einer Gruppe etwas einfordern, dessen Verneinung sie als Verneinung der Gruppe(nrechte) insgesamt auslegen. Außerdem vermengt dieses Argument Sprachgebrauch und -bedeutung.
2. Dieses Argument entstammt der Diskriminierungsdiskussion, die indigene Völker, afrikanischstämmige Menschen und ähnliche Gruppen betrifft, für die es tatsächlich diverse explizite Bezeichnungen gibt, davon tatsächlich nicht wenige, die diskriminierend und herabwürdigend sind oder waren. Wenn Menschen mit dunkler Hautfarbe einfordern, bitte nicht mit dem N-Wort bezeichnet zu werden, bin ich vollständig auf der Seite dieser Argumentation, denn wenn es schon nötig ist (woran ich tatsächlich meine Zweifel habe), Menschen einen Gruppenbegriff aufzupflanzen, weil sie ein körperliches Merkmal teilen, dann sollten diese Menschen bitteschön auch (mit)bestimmen dürfen, wie diese Begrifflichkeiten ausfallen, konnotiert sind, historisch-linguistisch einzuordnen sind usw. usf. - aber auch hier sei der Verweis auf 1. zumindest vorsichtig gestattet. Es ist meiner Überzeugung nach nicht so, dass jemand sofort ein Rassist, Ableist, xenophob oder ähnlich unterwegs ist, nur weil er eine Begrifflichkeit verwendet, die inzwischen als gebrandmarkt gilt, was heutzutage manchmal eine Sache von nur wenigen Minuten ist.
Anders als beim Gendern, denn hier geht es nicht um einzelne Bezeichnungen, sondern um die gesamte Sprache, der man Ungerechtigkeit unterstellt, weil bei vielen (übrigens längst nicht allen) Oberbegriffen vermeintlich nur Männer angesprochen werden. Das leitet man davon ab, dass der männliche Singular in der Konkretisierung des Begriffs dem generischen Plural entspricht. Ich halte diese Behauptung für falsch, denn es ist eben die Aufgabe von Oberbegriffen, alle zu meinen, zu abstrahieren und eben nicht zu konkretisieren. Es sind auch viele andere Gruppenunterscheidungen und Merkmale in Oberbegriffen nicht abgebildet, was daran liegt, dass das semantisch einfach keinen Sinn hat - Oberbegriffe sind semantische und syntaktische Kompromisse. "Ärzte" aber sind einfach alle Menschen, die dieser Tätigkeit nachgehen, gleich welchen Geschlechts diese Menschen sind, wo sie herkommen, was sie glauben, welchen Alters sie sind, welche körperlichen, geistigen und weiteren Merkmale sie haben, wo sie gerade wohnen oder vorher gewohnt haben. Wenn man der Argumentation folgt, dass der Begriff "Ärzte" eigentlich nur weiße, alte Männer bezeichnet, die im strahlenden Chirurgenkittel für tausend Euro pro Sekunde ästhetische Operationen an Milliardärsgattinnen vornehmen, wohingegen alle anderen Menschen, die dieser Profession nachgehen, vor allem, wenn sie keine Männer sind, höchstens gönnerhaft "mitgemeint" werden, eröffnet man nicht nur ein Problemfeld, das für die meisten Menschen keines ist, sondern nimmt auch etwas als wahr an, über das sich sehr intensiver Streit zumindest lohnt. Vor allem aber ist die Perspektive dieser Denkrichtung eine sehr problematische, denn wenn der Versuch unternommen wird, (erst) eine Sprache zu schaffen, die angeblich immer alles mitmeint (statt das den Sprechenden zu überlassen), verlagert man das Mehrheitsprinzip, das der Sprachgestaltung vermeintlich zugrundelag, nur zu Gunsten derjenigen, die jetzt eine Lobby haben. Alle anderen werden nachrücken, und am Ende streiten wir intensiv und bis aufs Blut über Formalitäten (die allerdings alle Menschen im Alltag behindern), während die gelebte Diskriminierung gemütlich weiterkocht und den misogynen Arschlöcher*innen Kanonenfutter für ihre Stammtische geliefert wird.
Unter anderem aus diesen Gründen nehme ich an solchen Diskussionen nicht mehr teil, und ich rechtfertige meine Überzeugungen auch nicht mehr so häufig. Denn in den Repliken wird höchstens auf einen kleinen Teil der Argumentation eingegangen, wenn überhaupt. Es ist ein hochemotionales Thema, und das ist auch die Absicht der Menschen, die das propagieren. Gegen Gefühle, ob nun echte oder behauptete, sind keine Argumente möglich.
Ich verweise noch einmal auf den guten Kommentar, den ich weiter oben verlinkt habe. Und noch einmal zur Klarstellung: Es ist sehr, sehr wichtig, dass Strukturen aufgebrochen werden, dass der stark in der Gesellschaft verankerten Misogynie, die es immer noch gibt, entgegengetreten wird, aber diese "Ach so, Frauen können das auch"-Sprachum- und -fehlgestaltung ist (nicht nur) meiner Überzeugung der falsche Weg dorthin.