Jedes Instrument, das dafür verwendet werden kann, um Rassismus (aber auch Sexismus, Ableismus, Homophobie, Misogynie usw. - also eigentlich jede Form von Marginalisierung) zum Ausdruck zu bringen, wird selbst als rassistisch kategorisiert. Letztlich gilt das für jedwede auch nur annähernd hierarchische Situation, für jede Bewertungssituation, für jedes Macht- und Abhängigkeitsverhältnis. Es gilt aber, wenn man diesen absurden Gedanken weiterdenkt, für sämtliche sozialen, kulturellen, politischen und überhaupt gesellschaftlichen Strukturen, für alle Formen und Varianten menschlicher Interaktion. Es wird vorgegeben, Rassismus sichtbar zu machen, aber tatsächlich und, vor allem, im Effekt dient es einer Erhebung und Stigmatisierung - und der kategorischen Aburteilung: Das Menschsein, so, wie es im Moment ist, ist in allen Facetten rassistisch, weil es durch die Bank Ergebnis einer vorwiegend weißen Entwicklungsgeschichte ist. All das soll aber vor allem die Opferrolle unangreifbar gestalten, und die Verneinung des Aspekts stärken, Nichtbetroffene Position in solchen Fragen beziehen oder überhaupt zu Wort kommen zu lassen. Nur die marginalisierten Gruppen selbst haben Recht und Anspruch, die Marginalisierung und ihre Folgen und Instrumente zu thematisieren. Das ist eine verdrehte Verstärkung genau des Vorgangs, den man vermeintlich bekämpft. Seiteneffekt: Es ist nicht mehr möglich oder zulässig, Angehörige irgendeiner marginalisierten Gruppe aus zulässigen Gründen zu kritisieren. Arschlöcher sind weiß und männlich, Punkt.
Was ist eigentlich mit Dicken und Dünnen, mit Hässlichen und Dummen, mit Minderbegabten und Inselunfähigen, oder, einfacher gesagt, mit all den Menschen, die aufgrund weniger kategorischer und eher gruppenübergreifender Aspekte diskriminiert, gemobbt, beleidigt, benachteiligt, ausgegrenzt und einem tragischen Schicksal überlassen werden und wurden? Der zuweilen lebenslange Ausgrenzungseffekt ist absolut vergleichbar (ich habe in mindestens drei österreichischen Orten, die ich auf Reisen besucht habe, ungefragt erfahren, wer der "Dorfdepp" ist), aber der Unterschied schwierig und kristallklar: Die Angehörigen marginalisierter Gruppen werden vermeintlich aufgrund dieser Zugehörigkeit diskriminiert, während dieser andere Vorgang ... äh, schwierig.
Dass es absurde Züge annimmt, ist natürlich beabsichtigt und strategisch klug. Je krasser man an eine solche Thematik herangeht, je fundamentaler der Angriff auf die fundamentierten Strukturen ist, umso größer könnte möglicherweise ein positiv verändernder Effekt ausfallen. Wer wenig fordert, bekommt wenig. Leider ist der Kollateralschaden enorm, und die zulässige Frage, ob die zugrundeliegenden Gedankengänge nicht möglicherweise bereits auf falschen Annahmen basieren, gerät immer mehr aus dem Blick. Diskurs ist völlig unmöglich, aber auch nicht mehr erwünscht.
Letzteres erleben wir derzeit in der guten, alten SPD, die ihre "Kandidierendenplakate" für die Bundestagswählenden vorbereitet. Nicht erst von Thierse angestrengt, wird hier schon länger das Thema diskutiert, das diesen Thread ausgelöst hat. Aber man hat sich längst so ungeheuer weit von der Grundfrage entfernt, nämlich ob es tatsächlich überhaupt eine wirkende Ungleichbehandlung darstellt, wenn man "Kunden" oder "Abonnenten" oder "Patienten" als Oberbegriff verwendet, und ob, was bislang lediglich eine Behauptung ist, die noch niemand verifiziert hat, Frauen und Nichtbinäre höchstens etwas herablassend "mitgemeint" sind, was, mit Verlaub, in meinen Augen totaler Bullshit ist.