Der 1. Dezember von Annabas
Das Zausinger Weihnachtswunder
Als Arthur Bitzer an einem sonnigen Sommermorgen aufwachte, wurde ihm schlagartig bewusst: Er war ein Weihnachtsmann! Bisher war er Besitzer und Betreiber des Gemischtwarenladens in Zausingen auf der Schwäbischen Alb gewesen. Noch am gleichen Tag begann er, seinen Warenbestand zu verramschen und die Regale nach und nach mit weihnachtlichen Glaskugeln, Baumschmuck, Lichterketten, Kerzen und glitzernden Geschenkartikeln aufzufüllen. Er ließ sich Bart und Haare wachsen, ersetzte die Kontaktlinsen durch eine goldene Nickelbrille und trug nur noch rote Anzüge mit weißem Plüschbesatz.
Arthur Bitzer war nicht auf der Schwäbischen Alb und schon gar nicht in Zausingen geboren. Deswegen galt er bei den Einheimischen schon immer als etwas verrückt. Arthur Bitzer war ein reicher Maschinenbauunternehmer aus Stuttgart, der vor ein paar Jahren per Zufall den leer stehenden Tante-Emma-Laden in Zausingen entdeckt hatte. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihn wieder zum Leben zu erwecken und stand seither jeden Werktag hinter dem Ladentisch, obwohl er sich einen sorgenfreien Ruhestand am Starnberger See oder im Tessin hätte leisten können. Also wunderten sich die Zausinger nur wenig über Arthur Bitzers Weihnachtsladen, der ihrer Meinung nach sowieso bald pleite sein würde.
Vielleicht hätten sie sogar damit recht gehabt, wenn nicht ein Reiseblogger aus Milwaukee auf seiner Deutschlandtour ausgerechnet in Zausingen eine Autopanne gehabt hätte. Um das Warten auf die Reparatur unterhaltsamer zu machen, besuchte er Arthur Bitzer in seinem Laden. Dieser hatte sein Sortiment laufend durch absonderliche und ausgefallene Weihnachtsartikel ergänzt, besonders begeistert war er von seinem erotischen Christbaumschmuck. Der Blogger schrieb einen amüsierten Artikel mit vielen Bildern über den „Crazy Christmas Shop“ und seinen Inhaber, dessen Haare und Bart inzwischen eine stattliche Länge erreicht hatten. Durch fleißiges Teilen verbreitete sich der Reisetipp in der Welt. Bald kamen die ersten Neugierigen, um Arthur Bitzer in seinem Weihnachtsladen zu besuchen, schnell wurden es mehr. Als der Laden schließlich in Reiseführern als „Hot Spot“ gefeiert wurde, fanden auch die ersten Reisebusse nach Zausingen.
Die Zausinger hielten Arthur Bitzer inzwischen mehr denn je für einen Spinner, aber eine Möglichkeit zum Geld verdienen ließen sie niemals ungenutzt. Sie packten die Gelegenheit beim Schopf und bauten Imbiss- und Verkaufsbuden auf. Mit der Zeit freuten sie sich sogar über die vielen Übernachtungsgäste, die Leben ins Dorf brachten und ihre von Hand gehäkelten Topflappen und Mützen kauften - und die zu jeder Jahreszeit gebrannte Mandeln, Schnitzbrot, Christstollen und Gänsekeule mit Knödeln und Blaukraut essen konnten.
So hätte es noch lange weitergehen können, wenn Arthur Bitzer nicht an einem verschneiten Wintermorgen verschwunden wäre. Er hatte seinen Laden nicht geöffnet und als besorgte Zausinger die Tür aufbrechen ließen, fanden sie keine Menschenseele dahinter. Geheimnisvoll blieb die Spur von neun Rentieren und einem Schlitten im Schnee hinter dem Haus, denn sie war schon nach wenigen Metern nicht mehr sichtbar. Arthur Bitzers Verschwinden blieb für immer ein Geheimnis.