Der Büchereulen-Adventskalender 2020

  • Der 1. Dezember von Annabas



    Das Zausinger Weihnachtswunder


    Als Arthur Bitzer an einem sonnigen Sommermorgen aufwachte, wurde ihm schlagartig bewusst: Er war ein Weihnachtsmann! Bisher war er Besitzer und Betreiber des Gemischtwarenladens in Zausingen auf der Schwäbischen Alb gewesen. Noch am gleichen Tag begann er, seinen Warenbestand zu verramschen und die Regale nach und nach mit weihnachtlichen Glaskugeln, Baumschmuck, Lichterketten, Kerzen und glitzernden Geschenkartikeln aufzufüllen. Er ließ sich Bart und Haare wachsen, ersetzte die Kontaktlinsen durch eine goldene Nickelbrille und trug nur noch rote Anzüge mit weißem Plüschbesatz.


    Arthur Bitzer war nicht auf der Schwäbischen Alb und schon gar nicht in Zausingen geboren. Deswegen galt er bei den Einheimischen schon immer als etwas verrückt. Arthur Bitzer war ein reicher Maschinenbauunternehmer aus Stuttgart, der vor ein paar Jahren per Zufall den leer stehenden Tante-Emma-Laden in Zausingen entdeckt hatte. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihn wieder zum Leben zu erwecken und stand seither jeden Werktag hinter dem Ladentisch, obwohl er sich einen sorgenfreien Ruhestand am Starnberger See oder im Tessin hätte leisten können. Also wunderten sich die Zausinger nur wenig über Arthur Bitzers Weihnachtsladen, der ihrer Meinung nach sowieso bald pleite sein würde.


    Vielleicht hätten sie sogar damit recht gehabt, wenn nicht ein Reiseblogger aus Milwaukee auf seiner Deutschlandtour ausgerechnet in Zausingen eine Autopanne gehabt hätte. Um das Warten auf die Reparatur unterhaltsamer zu machen, besuchte er Arthur Bitzer in seinem Laden. Dieser hatte sein Sortiment laufend durch absonderliche und ausgefallene Weihnachtsartikel ergänzt, besonders begeistert war er von seinem erotischen Christbaumschmuck. Der Blogger schrieb einen amüsierten Artikel mit vielen Bildern über den „Crazy Christmas Shop“ und seinen Inhaber, dessen Haare und Bart inzwischen eine stattliche Länge erreicht hatten. Durch fleißiges Teilen verbreitete sich der Reisetipp in der Welt. Bald kamen die ersten Neugierigen, um Arthur Bitzer in seinem Weihnachtsladen zu besuchen, schnell wurden es mehr. Als der Laden schließlich in Reiseführern als „Hot Spot“ gefeiert wurde, fanden auch die ersten Reisebusse nach Zausingen.


    Die Zausinger hielten Arthur Bitzer inzwischen mehr denn je für einen Spinner, aber eine Möglichkeit zum Geld verdienen ließen sie niemals ungenutzt. Sie packten die Gelegenheit beim Schopf und bauten Imbiss- und Verkaufsbuden auf. Mit der Zeit freuten sie sich sogar über die vielen Übernachtungsgäste, die Leben ins Dorf brachten und ihre von Hand gehäkelten Topflappen und Mützen kauften - und die zu jeder Jahreszeit gebrannte Mandeln, Schnitzbrot, Christstollen und Gänsekeule mit Knödeln und Blaukraut essen konnten.


    So hätte es noch lange weitergehen können, wenn Arthur Bitzer nicht an einem verschneiten Wintermorgen verschwunden wäre. Er hatte seinen Laden nicht geöffnet und als besorgte Zausinger die Tür aufbrechen ließen, fanden sie keine Menschenseele dahinter. Geheimnisvoll blieb die Spur von neun Rentieren und einem Schlitten im Schnee hinter dem Haus, denn sie war schon nach wenigen Metern nicht mehr sichtbar. Arthur Bitzers Verschwinden blieb für immer ein Geheimnis.

  • Der 2. Dezember von Jeanette



    Wichtelfreuden


    22. Dezember, 19 Uhr, eine Wohnung in Berlin


    Kim betrat den Flur und warf erleichtert die Tür hinter sich zu. Der Chef hatte heute besonders viele Spezialaufgaben auf Lager gehabt, dabei wollte Kim früh nach Hause, um endlich das Paket vom Eulenwichteln zu öffnen. Wegen der Weihnachtsfeier gestern Abend war leider keine Zeit für den gemeinsamen Entwichtelchat geblieben. Vorbei an den prall gefüllten Bücherregalen, die jede verfügbare Wand in der Wohnung bedeckten, ging Kim zum Wohnzimmertisch, auf dem der unscheinbare braune Karton stand. Hoffentlich enthielt er den neuen Thriller aus Norwegen, von dem so viele Eulen begeistert waren. Kim verspürte große Lust, den Weihnachtsurlaub mit einem nervenzerfetzend spannenden Buch zu verbringen. Ein paar gezielte Schlitzer mit dem Messer und ein neugieriger Blick in den Karton … Kim verzog das Gesicht. Das kitschige rosarote Geschenkpapier mit Glitzereffekt war Geschmackssache. Aber solange der Inhalt stimmte, war die Verpackung nebensächlich. Kim griff nach der Karte, die obenauf lag. Ein pausbäckiger Engel lächelte unschuldig von der Vorderseite. Der Text begann mit „Liebe Kim“. Kim stutzte. Seine Wichtelmama hielt ihn für eine Frau! Amüsiert schüttelte er den Kopf. Er griff nach dem Päckchen, in dem er das Buch vermutete und riss das Geschenkpapier herunter. Sekunden später starrte er auf das bunte Cover. Der violette Schriftzug „Mein knuffiger Kostümverleih in Kopenhagen“ sprang ihm förmlich entgegen.


    22. Dezember, 20 Uhr, eine andere Wohnung in Berlin


    Lena streifte ihre Lieblingsstiefel von den Füßen und begrüßte ihren Hund Flocke, der begeistert um sie herumsprang. Endlich hatte sie den letzten Arbeitstag hinter sich gebracht. Jetzt lag ein wunderbarer Weihnachtsurlaub vor ihr. Sie freute sich auf gemütliche Tage auf dem Sofa, mit ihrer herrlich flauschigen Decke, einer Tasse Tee, Plätzchen, Flocke neben sich und natürlich einem romantischen Buch. Lena las für ihr Leben gern Liebesromane, je kitschiger, desto besser. Zum Glück hatte sie bei den Büchereulen Gleichgesinnte gefunden. Dort hatte sie auch die Tradition des Weihnachtswichtelns für sich entdeckt. Gerne hätte sie ihr Paket gestern Abend zusammen mit den anderen Eulen im Chat ausgepackt, doch eine Freundin hatte sie zu einer Ballettaufführung eingeladen, was sie unmöglich ablehnen konnte. Jetzt war endlich Zeit zum Auspacken. Lena ging zur Abstellkammer und zog das Paket hinter dem Staubsauger hervor. Dort hatte sie es deponiert, um nicht schon vor dem Auspacktermin in Versuchung zu geraten. Sie trug das Wichtelpäckchen ins Wohnzimmer und stellte es auf die Couch. Dabei fiel ihr Blick auf die wackeligen Stapel mit ungelesenen Büchern, die sich in allen Ecken türmten. Einer war umgefallen. Vermutlich war Flocke drangestoßen. Lena grinste in sich hinein. War das nicht verrückt? Sie hatte so viele Bücher zur Auswahl, trotzdem freute sie sich tierisch auf das Buch, das sie gleich auspacken würde. Insgeheim hoffte sie, dass ihre Wichtelmama aus ihrer Wunschliste den neuen Roman ausgewählt hatte, der sich um das komplizierte Liebesleben der Besitzerin eines Kostümverleihs in Kopenhagen drehte. Lena wühlte sich durch das Wichtelpäckchen und suchte als erstes das Buch heraus. Sie zupfte am Tesa, um das Geschenkpapier mit den niedlichen Schneemännern nicht zu zerreißen. Endlich zog sie das Buch hervor und erstarrte. „STIRB“ stand in roten Großbuchstaben auf dem dunkelgrauen Cover.


    22. Dezember, 22 Uhr, eine PN


    Liebe Lena, lieber Kim,


    es tut mir so leid! Ich muss irgendwie eure Wunschlisten vertauscht haben. Ich weiß wirklich nicht, wie mir das passieren konnte. Aber ich habe gerade gesehen, dass ihr beide in Berlin wohnt. Vielleicht könnt ihr euch treffen, um die Bücher auszutauschen?

    Ich hoffe, ihr seid mir nicht allzu böse!


    Viele zerknirschte Grüße,

    Janina


    23. Dezember, 16 Uhr, ein Café


    Hallo, hier spricht Flocke. Ich muss euch die Geschichte weitererzählen, denn mein Frauchen Lena ist zu beschäftigt dazu. Sie sitzt schon seit einer Stunde mit diesem Kim zusammen. Vorher hat sie mir gesagt, dass sie kurz die Bücher austauscht und wir es uns dann auf dem Sofa gemütlich machen. Aber jetzt lässt sie mich auf den kalten Fliesen unter dem Tisch liegen und hat noch kein einziges Bröckchen Kuchen für mich fallen lassen. Dieser Kim gibt ihr gerade Tipps für stabile Bücherregale und sie hört gebannt zu, als hätte sie noch nie etwas Spannenderes gehört. Ich sage euch, da bahnt sich was an. Mein Frauchen benimmt sich wie ich, wenn ich beim Gassigehen dem verboten gutaussehenden Labrador aus dem Nachbarhaus begegne …

  • Der 3. Dezember von belladonna



    Ein Adventskalender für Opa

    Sepp schrak hoch, die Türklingel hatte ihn aus seinem leichten Dämmerschlaf geholt. Wer konnte das sein? Sicher wieder nur eine Lieferung für die Nachbarn, die ständig im Internet bestellten, aber nie zu Hause waren, um die Sachen auch in Empfang zu nehmen. Er rappelte sich hoch und schlurfte zur Tür. Seit Beginn der Pandemie war er kaum noch aus dem Haus gegangen und er spürte, wie seine Knochen Tag für Tag mehr einrosteten.


    Er öffnete die Tür einen Spaltbreit, doch statt eines gestressten Paketzustellers stand sein Enkelsohn Alex vor der Tür, der ihm einmal die Woche die Einkäufe nach Hause brachte und auch sonst treu zur Seite stand. Aber heute war doch gar nicht Einkaufstag? „Servus, Opa!“ Alex hielt ihm zur Begrüßung den Ellenbogen hin. „Grüß dich, Alex, das ist ja eine Überraschung! Komm doch erstmal rein!“


    Alex betrat die Wohnung, zog Jacke und Stiefel aus und folgte seinem Großvater ins Wohnzimmer. „Schau mal, Opa, ich hab dir was mitgebracht!“ Er stellte ein Paket auf den Tisch, das in alte Werbeprospekte für Adventskränze und Weihnachtsschmuck verpackt war. Opa Sepp runzelte die Stirn: „Was ist das denn? Ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk?“ „Mach doch einfach auf!“, Alex wurde langsam ungeduldig.


    Also öffnete Sepp die Verpackung und zum Vorschein kam eine Miniatur-Kommode mit 24 kleinen Schubfächern. „Das ist dein Adventskalender!“, strahlte Alex, „und weil heute der erste Dezember ist, darfst du gleich das erste Fach aufmachen!“ Sepp war völlig verblüfft – was sollte er denn mit einem Adventskalender?


    Vorsichtig öffnete er das Fach mit der 1. Darin befand sich ein zusammengefalteter Zettel, darauf eine merkwürdige Folge von Zahlen und Buchstaben. Irgendwo hatte er so etwas doch schon mal gesehen, nur wo? „Was ist das?“, fragte er Alex, „deine Version von Gehirnjogging für mich?“ „Opa, das sind doch Koordinaten!“, meinte Alex kopfschüttelnd, „das müsstet du doch eigentlich erkennen!“ „Und was soll ich damit?“, fragte Sepp. „Da fahren wir jetzt hin!“, erwiderte Alex. „Komm, zieh dich an, du musst auch mal an die frische Luft!“


    Im Auto zog Alex sein Smartphone aus der Tasche, und öffnete eine App: „Da geben wir jetzt die Koordinaten ein und dann weißt du, wo es hingeht!“ Während Opa Sepp mit dem Handy beschäftigt war, fuhr Alex los und nach etwa zehn Minuten hatten sie ihr Ziel auch schon erreicht. „Weißt du jetzt, wo wir sind?“ fragte Alex. „Natürlich!“, antwortete der Opa, „hier war ich schon ewig nicht mehr!“ Sie waren im Nachbarort, auf dem Parkplatz vor einem großen Park. Hier war Sepp früher gern spazieren gegangen, auch mit seinem Enkelsohn, als der noch klein war, denn im Park gab es neben einem See auch einen großen Abenteuerspielplatz. „Komm, wir laufen eine Runde um den See!“, ermutigte Alex seinen Großvater. Langsam gingen sie los und mit jedem Schritt merkte Sepp, wie gut ihm die Bewegung an der frischen Luft tat und wie sehr er solche Ausflüge vermisst hatte.


    Wieder daheim machten die Beiden es sich bei Tee und Lebkuchen, die Alex aus seinem Rucksack hervorzauberte, im Wohnzimmer gemütlich. „Das war richtig schön!“, meinte Opa Sepp, „da hattest du echt eine tolle Idee, Alex!“ Alex strahlte. Er hatte es zuletzt kaum noch mit ansehen können, wie sein geliebter Opa Sepp immer trauriger und einsamer wurde, und das alles nur, weil er sich wegen der Pandemie kaum noch aus dem Haus traute. So war ihm die Idee gekommen, seinen Opa mittels eines Adventskalenders nach draußen zu locken. Er hatte sich Ziele überlegt, mit denen sein Opa positive Erinnerungen verband und wo man doch den Menschenmengen aus dem Weg gehen konnte. Jetzt freute er sich, dass seine Idee offensichtlich gut bei seinem Großvater ankam. „Warte nur, morgen geht’s weiter!“ grinste er seinen Opa an.


    Als er am nächsten Nachmittag bei seinem Großvater klingelte, wartete der schon ungeduldig auf seinen Enkel; den Zettel mit der Nummer 2 hatte er bereits ausgepackt. „Gib mir dein Handy, ich will selber schauen, wo es heute hingeht!“, rief er. „Ja, ja, schon gut, lass uns gehen!“, meinte Alex. Diesmal gingen sie zu Fuß los, denn das Ziel war nicht allzu weit entfernt: eine Bäckerei, die noch über eine eigene Backstube verfügte und wo es in der Adventszeit den leckersten Gewürzkuchen der ganzen Gegend gab.


    So ging es die ganze Adventszeit weiter. Alex und Opa Sepp besuchten Orte aus Opas Leben, machten Ausflüge in die Umgebung und einmal besuchten sie auch Omas Grab auf dem Friedhof. An den Tagen, an denen Alex keine Zeit für einen Ausflug hatte, fand Opa in seinem Kalender von Alex selbst erdachte Rätsel, die ihm Hinweise auf das Ziel des kommenden Tages gaben.


    Am 24. Dezember öffnete Opa Sepp beinahe wehmütig das letzte Fach. „Schade, dass es schon vorbei ist!“, dachte er bei sich. So gut hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt, die vielen Ausflüge der letzten Wochen hatte ihm nicht nur körperlich gut getan, sondern seinen Tagen auch wieder einen Sinn gegeben und er fühlte sich längst nicht mehr so niedergeschlagen. Als Alex ihn abholte und er die letzten Koordinaten in die Handy-App eingab, staunte er nicht schlecht: das Ziel war Alex‘ Zuhause! „Du feierst mit Papa und mir Weihnachten!“, meinte Alex, „der Papa freut sich schon und zur Mama und ihrem Neuen fahre ich dann am 2. Feiertag. Und zu dritt haben wir auch kein Problem mit dem Abstand-Halten, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen!“


    Es wurde ein sehr schöner Heiligabend. Alex und sein Vater hatten sogar einen kleinen Weihnachtsbaum aufgestellt und es gab wie früher Würstchen mit Kartoffelsalat. Nach dem Essen, als sie gemütlich bei Tee und Stollen im Wohnzimmer saßen, überreichte Alex seinem Großvater ein Paket. „Frohe Weihnachten, lieber Opa!“ sagte er. „Oh, für mich? Das wäre doch gar nicht nötig gewesen!“ Opa Sepp war ganz verlegen. „Du machst doch eh schon so viel für mich!“ „Natürlich ist es nötig und jetzt pack schon aus!“, drängelte Alex ungeduldig. Also öffnete Opa Sepp das Papier und fand darin ein Fotoalbum. Da Alex sowieso ständig sein Smartphone in der Hand hatte, war dem Opa gar nicht aufgefallen, dass er heimlich immer wieder Bilder gemacht hatte. Da war der See im Park, Omas Grab mit dem Weihnachtsstrauß, den sie ihr gebracht hatten, die Wirtschaft im Nachbarort, wo Alex „Schweinsbraten to go“ bestellt hatte, und noch viele Bilder mehr. Opa Sepp war zu Tränen gerührt. „Alex, du bist der beste Enkel, den man sich nur wünschen kann!“ „Das ist ja eh klar!“, grinste Alex. „Und weißt du was, Opa? Mir hat das auch richtig Spaß gemacht und deshalb machen wir das jetzt öfter! Und an den Wochenenden nehmen wir den Papa mit, dem täte etwas mehr Bewegung nämlich auch gut!“


  • Der 4. Dezember von SiCollier



    Große Männer und kleine Züge*


    Zu der Zeit, in der es weder (Heim-) Computer noch drahtlose Telefone gab, als ein Winter noch ein Winter war, in dem man sich Hände und Füße abfrieren konnte, eine Zeit, in der Mensch wie Maschine noch das Rauchen erlaubt und ganz und gar selbstverständlich war: in jener guten alten Zeit also geschah es jedes Jahr, wenn die Bäume ihre Blätter verloren hatten, die Tage länger und dunkler wurden und es somit unweigerlich auf den alljährlichen Höhepunkt des Winters (die Advents- und Weihnachtszeit) zuging - zu dieser Zeit also bekamen die Augen der meisten kleinen und großen Männer einen besonderen Glanz, wurden die Spielwarengeschäfte und -abteilungen der Kaufhäuser doch ihrer jährlichen Umgestaltung unterzogen: die Modelleisenbahn verdrängte Vieles und nahm den ihr zustehenden Platz ein. Bis hin zur Vorführanlage, auf der (seinerzeit) aktuelle Züge, mit Dampf-, Diesel und Elloks bespannt, unermüdlich ihre Runden drehten. Gar manche Eltern wurden an den Rand der Verzweiflung gebracht, wollten die Sprößlinge doch gar nicht mehr weiter gehen. Obwohl es auch das Gerücht (und bisweilen auch Anzeichen dafür) gab, daß auch die Väter sich nicht losreißen konnten und der Sohn nur als Begründung für längeres eigenes Verweilen vorgeschoben wurde...


    Zu der Zeit also fand das Kind, an das hier gedacht wird, eine Modellbahnstartpackung unter dem Weihnachtsbaum vor. Dies hatte ungeahnte Folgen, hält sich doch hartnäckig das Gerücht, daß solche Startpackungen virenverseucht sind. Viren von einer Art, daß es bis heute weder ein Gegenmedikament oder gar eine Impfung gibt. Wieder und wieder taucht es in der einschlägigen Fachliteratur auf, ohne daß eine Heilungsmöglichkeit gefunden würde. Immerhin hat es, im Gegensatz zu so manch anderem Virus, einen treffenden Namen: in Fachkreisen ist es bekannt als virus mibanicus (frei übersetzt „Modellbahnvirus“). Einmal infiziert, wird man es nicht mehr los. Zumindest wurde bis heute noch keine Heilung dieser „Krankheit“ vermeldet.


    In der oben erwähnten Zeit fand dieses Virus besonders häufige Verbreitung, war der „Krankheitsverlauf“ in vielen Fällen, fragt man heute bei den „Überlebenden“ nach, ähnlich: Zur Adventszeit wurde im Kinderzimmer geräumt, um etwa zwei mal ein Meter Fläche frei zu bekommen. Da hat sich dann der Vater „ausgetobt“ und eine Saisonanlage aufgebaut - mit Schienen, Häuschen (was damals identisch mit Faller-Häuschen war) und einer Landschaft - selbstverständlich nur und ausschließlich, um dem Sohn eine Freude zu bereiten. War die Weihnachtszeit vorbei, wurde die Anlage - unter Protest und Tränen des Kindes - abgebaut und weggeräumt. Monate später zu Anfang der nächsten Adventszeit begann das „Spiel“ von vorne. Leider existieren von diesen Anlagen weder Fotos noch Zeichnungen, nur wenige Faller-Häuser haben bis heute - teils heftig ramponiert - überlebt und halten so die Erinnerung an die frühe Kinderzeit wach.


    Hatte man Glück, reichte es irgendwann zu einem Eisenbahnzimmer, in der Wohnung oder auch in einem trockenen Kellerraum. Hier wurden dann viele Stunden verbracht und, wenn man rückblickend an die seinerzeitigen Möglichkeiten denkt, hatte man doch eine ganz ordentliche Anlage im Bau - die aber meist nie fertig wurde. Vermutlich hat damals das Spielen - ähm ich meine natürlich das Fahren lassen der Züge nach einem (allerdings nicht vorhandenen) Fahrplan - mehr Freude bereitet als langwieriges Bauen.


    Irgendwann ist auch die schönste Jugend vorbei, und es heißt von zuhause auszuziehen. Und plötzlich gibt es ein sehr wirkungsvolles Gegenmittel zum virus mibanicus: es nennt sich „das Leben“ und wirkt ganz einfach, in dem selbiges andere bzw. neue Prioritäten setzt. Es reicht zu keiner „richtigen“ Anlage mehr, sei es, weil kein Platz vorhanden ist, sei es, weil im passenden Moment umgezogen wird, sei es, weil einfach die Familie ihren Tribut fordert. So gehen Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte dahin; aber mibanicus hat Geduld, viel Geduld. Bis, ja bis das Pendel zurückschwingt, Verdrängtes aus dem Vergessen auftaucht, vielleicht in Form eines alten Fotos, vielleicht durch Auffinden eines der erwähnten Faller-Häuschen in einem Karton, vielleicht durch einen Zeitschriftenartikel oder was es alles an Erinnerungshilfen gibt.


    Jedenfalls geht es nun wieder von vorne los; nun ja, nicht ganz von vorne. Trotz allem hat man mehr Erfahrung, und - hat man Glück - ist ein Grundstock in Form der aus der Kindheit stammenden Züge sowie Zubehör vorhanden, der sich weiter verwenden und erweitern läßt. Vieles hat sich verändert, und verwundert reibt man sich die Augen, wo sie denn hin ist, die gute alte Zeit, als man an der Hand der Eltern ins vorweihnachtliche Geschäft ging und mit großen Augen den Zügen auf der Vorführanlage nachsah, Wunschzettel mit ganz bestimmten Modellwünschen schrieb, und dann sehnlichst den Heiligen Abend erwartete, ob sich das denn auch unter dem Weihnachtsbaum einfinden würde. Wunschzettel schreibt man schon lange nicht mehr, die Geschäfte gibt es nicht mehr, und wer heute hat schon noch eine Dampflok in vollem Betrieb erlebt und kann die Gedanken nachfühlen, die man darob beim Betrachten eines fahrenden Modellzuges hat?


    Nichts lebt lang. Nichts bleibt bestehen. Außer der Erde und den Bergen.** Es mögen solche Gedanken sein, die irgendwann unwillkürlich ins Gedächtnis strömen, wenn man die Jahre zurück blickt und sich dabei sicher sein kann, daß nicht noch einmal so viele Jahre folgen werden. Aber: so Gott will, wie meine Oma zu sagen pflegte, kommen deren noch viele. Jahre mit der Gelegenheit und Möglichkeit, die aus der Kindheit ins Alter mitgenommenen Wünsche und Träume zu verwirklichen. Vermutlich nicht in so großen Dimensionen, wie man in jungen Jahren überschwenglich phantasiert, sondern kleiner, bescheidener - eben altersgemäß gereift. Jahre, in denen es zu einer kleinen, aber feinen Anlage mit Gleisen, Zügen, Häusern und einer richtigen Landschaft reicht. Angesiedelt möglicherweise in einer Zeit, die man selbst erlebt hat, damals, als man selbst noch jung war, das Leben in unbekannten Fernen vor einem lag, unendliche Möglichkeiten zu bieten schien, und man mit großen Augen den kleinen Zügen nachsah. Damals, als man sich draußen noch Hände und Füße abfrieren konnte, als die Loks noch rauchten und Weihnachten eine Stimmung mit sich brachte, die man heute kaum noch nachfühlen kann. Als man nach dem Christkind oder dem Weihnachtsmann Ausschau hielt, die man, so sehr man sich auch anstrengte, nie zu Gesicht bekam, um dann später doch das Gewünschte unter dem Tannenbaum vorzufinden.


    Nichts lebt lang. Nichts bleibt bestehen. Außer der Erde und den Bergen.** Und vielleicht der Modellbahn, die ruhig ihre Kreise zieht, und Gedanken an eine bessere Welt und Zeit aufkommen läßt.



    * = Der geneigten Leserin sei erklärt, daß seit Jahrzehnten das hier behandelte Thema fast ausschließlich nur Männer (kleine wie große) interessiert, wenige erfreuliche Ausnahmen bestätigen (leider) diese Regel; zahlreiche Appelle im Laufe der Jahre zur Änderung dieses Zustandes haben daran bisher nichts geändert.


    ** = vgl. Rosanne Bittner „Ride The Free Wind“, Zebra Books New York 1996, S. 208 und weitere, eigene Übersetzung, im Zusammenhang des Buches Todeslied der Cheyenne

  • Der 5. Dezember von breumel



    Lichterketten


    11. November

    Sankt Martin! Heute hat die Grundschule ihren Laternenumzug, mit anschließendem Martinsfeuer und Glühweintrinken. Für mich jedes Jahr der Startschuss für die Adventsdekoration. Nur ein wenig, aber so, dass die Kinder wissen, hier können sie mit ihren Laternen klingeln und ein Lied singen um Süßigkeiten einzusammeln. Ich fülle Sand in ein Einmachglas, stelle eine dicke Kerze in die Mitte und lege kleine Christbaumkugeln darum. Hübsch glänzend, aber schlicht. Das Glas stelle ich auf die Treppe und drapiere noch ein paar Tannenzweige dahinter. Kerze anzünden, fertig!


    Eine Stunde später:

    Frau Müller von gegenüber hat meine Kerze gesehen. Jetzt steht auf jeder Stufe ihrer Treppe ein ähnliches Glas, mit noch mehr Kugeln dekoriert.


    Fünf Stunden später:

    Meine Kugeln sind aus Glas und nur am Boden. Frau Müllers Kugeln waren wohl aus Kunststoff und viel zu hoch geschichtet. Zum Glück sind die Weckgläser stabil genug, um das schmelzende Inferno in Schach zu halten. Ich puste meine friedlich brennende Kerze aus und gehe zu Bett.


    18. November

    Die dunkle Jahreszeit ist mir zu dunkel. Ich beschließe, die erste Lichterkette anzubringen. In einigen Vorgärten leuchten schon Lichterschläuche und -ketten, also warum nicht.

    Eine warmweiße 100er Lichterkette wird um den nur noch spärlich belaubten Baum vor dem Haus geschlungen. Nicht viel, aber das Funkeln der kleinen LEDs gefällt mir.


    Eine Stunde später:

    Das war dann wohl auch für Frau Müller das Signal zur Saisoneröffnung. Vom Küchenfenster aus sehe ich, wie sie immer wieder um ihren Baum herumläuft und die Lichterkette darum windet. Das müssen mindestens 400 Lichter sein. Autsch! Der Ast hing tief…


    19. November

    Meine Lichterkette kommt mir mickrig vor. Ich fahre in den Baumarkt und kaufe eine 400er warmweiße Lichterkette. Dazu noch eine 100er kaltweiße Lichterkette mit acht verschiedenen Programmen. Zuhause wickele ich beide um den Baum. Dann stelle ich die kaltweiße Lichterkette auf zufälliges Blinken. Die kalten Lichtfunken zwischen den warmen Lichtern sehen toll aus. Ha!


    Eine Stunde später:

    Frau Müller beginnt, ein riesiges Lichternetz über den Büschen in ihrem Vorgarten auszubreiten. Die Laterne im Hauseingang wird nicht mehr benötigt. Bei der Beleuchtung lässt sich sogar das Klingelschild lesen. Dann steckt sie kleine Stecker mit LED-Figuren in den Boden. Als sie den Stecker einsteckt, sehe ich, dass es leuchtende Tannenbäumchen sind.


    21. November

    Endlich hatte ich Zeit wieder in den Baumarkt zu fahren. Jetzt habe ich einen ein Meter hohen "Tannenbaum" aus Lichterschlauch, der auf meinem Rasen vor sich hin leuchtet. Wozu brauche ich Büsche? Es ist schon nach 20 Uhr, Frau Müller wird also nicht mehr in den Baumarkt fahren können und sich mit ihrer Deko begnügen müssen!


    23. November

    Was zu Hölle ist das??? Ein leuchtender Schneemann steht im Müller'schen Vorgarten. Über zwei Meter hoch, mit einem Bauch als wäre er mit einer Lawine schwanger. Leise rauscht ein Gebläse hinter ihm und hält das Gebilde in Form. Von wegen stille Nacht!


    24. November

    Ich musste drei Märkte abklappern, aber jetzt stehen zu meinem Lichterschlauchbaum passende Rentiere und ein Schlitten auf dem Rasen. Hier hat man schließlich Stil.


    25. November

    In allen zur Straße zeigenden Fenstern der Müllers stehen neuerdings Schwibbögen. Ich überlege noch, ob ich Lichterketten mit hängenden Schneeflocken, Filzlandschaften mit integrierter Lichterkette oder große Leuchtsterne aufhängen soll. Am Schluss machen die Leuchtsterne das Rennen.


    28. November

    Endspurt, morgen ist erster Advent! Am Haus der Müllers lehnt eine lange Leiter. Herr Müller hat eine Lichterkette um den Hals geschlungen, seine Frau hält die Leiter und gibt Anweisungen, wie er sie anzubringen hat. Hat schon was von einem alten Buster Keaton Film. Lichterketten an der Regenrinne sehen schon interessant aus, aber wer hält meine Leiter?


    Gebannt stehe ich am Küchenfenster. Fast wird mir der Kaffee kalt. Die ersten zwei Meter sind befestigt, jetzt muss die Leiter versetzt werden. Herr Müller steigt abwärts und vergisst dabei die Lichterkette um seinen Hals. Erst als sie sich spannt bemerkt er, dass ein Kabel um den Hals gefährlich enden kann. Ob es wohl reißen würde falls er fällt? Ich sollte weniger Darwin Awards lesen…


    Die nächsten zwei Meter, dann wieder verrücken. Und wieder, bis Herr Müller fast am Ende des Daches angelangt ist. Einmal müsste er die Leiter noch weiter bewegen. Oder kommt er so dran? Es sieht aus als wolle er es versuchen. Er streckt sich immer weiter. Schließlich steht er nur noch mit einem Fuß auf der Leiter und streckt den Arm zur Ecke, wo er die Lichterkette einhängen will. Wenigstens ist kein Kabel mehr um seinen Hals geschlungen.


    Die Leiter kippt!!! Herr Müller hält sich an der Dachrinne fest. Frau Müller will die Leiter auffangen und bekommt sie auf den Kopf. Der Müllershund springt aufgeregt um sein Frauchen herum und bringt Frau Müller endgültig zu Fall. Herr Müller schreit panisch. Meine Kaffeetasse fällt auch.


    Ich renne zu den Müllers und versuche die Leiter aufzurichten. Lange wird sich Herr Müller nicht mehr halten können, und die Dachrinne gibt schon bedrohliche Geräusche von sich. Frau Müller hat sich wieder aufgerichtet und gemeinsam bringen wir die Leiter in Position, keine Sekunde zu früh. Herr Müller hat wieder eine Sprosse unter den Füßen und lehnt sich schweratmend gegen die Wand. Frau Müller zittert und sieht aus, als würde sie jeden Moment umfallen. Mein Herz erinnert mich daran, dass ich das Fitnessstudio lange nicht mehr von innen gesehen habe.


    Als Herr Müller wieder sicheren Boden unter den Füßen hat, bedanken sich die Müllers bei mir. Ich schlage vor, Lichterketten in luftiger Höhe zukünftig zu dritt anzubringen: zwei halten die Leiter, einer klettert. Sie sind einverstanden und bieten mir sogar an, ihre Leiter auszuleihen, falls ich auch eine Lichterkette am Haus befestigen möchte. Sie würden die Leiter auch für mich halten. Und wir könnten ja mal gemeinsam einen Glühwein trinken, aber erst danach!


    Ich muss noch mal zum Baumarkt…

  • Der 6. Dezember von Marlowe



    Fridolar und Troll Zumbur oder Der entführte Weihnachtsmann


    Es war Anfang Dezember, endlich Adventszeit und ich sehnte mich nach Ruhe und Besinnlichkeit. Mein Hauswichtel Kasimir war an vielen Tagen des Jahres sehr anstrengend gewesen, hatte mir aber versprochen nun mal etwas ruhiger zu sein.


    Er hielt sich auch wirklich brav daran und der Tag klang mit leiser Musik im Hintergrund aus, während ich in meiner Illustrierten blätterte, ab und zu in die Dunkelheit vor dem Fenster schaute und meinen Tee genos


    Plötzlich hörte man von Draußen ein Rauschen und Brausen und Stimmen, die langsam lauter wurden. Ich konnte aber nichts verstehen, denn die Geräusche wurden zwar lauter aber dann wieder leiser und wieder lauter.


    „Was kann das sein,“ fragte ich Kasimir, der auf meiner rechten Schulter saß und sich interessiert die Bilder in der Zeitschrift ansah. Er zucke mit den Schultern. „Vielleicht Wildgänse. Schauen wir halt mal nach.“


    Er hielt sich an meinem Ohr fest, während ich aufstand und die Terrassentür öffnete. Ich ging ein paar Schritte raus auf den Rasen und starrte in den Himmel. Dann sahen wir es beide gleichzeitig und Kasimir rief entsetzt: „Oh nein!“


    Der Himmel bot uns eine wunderbare, aber bizarre Kulisse. Es war Vollmond, das Mondlicht schien hell durch Wolkenfetzen und beleuchtete so einen gerade durch die Wolken herab stoßenden großen Schlitten mit Rentieren davor, wild schaukelnden Laternen an jeder Ecke und einem großen, mächtigen Troll auf der Sitzbank vorne, der die Rentiere mit Hohorufen anfeuerte,während sich mehrere kleinere und größere Trolle krampfhaft wo sie nur konnten festklammerten und schrill jauchzend jubelten oder Angstschreie ausstießen, je nachdem, ob der Schlitten zu kippen drohte oder wieder gerade stand. Ich wollte mich schon auf den Boden werfen, aber die wilde Horde zog über uns vorbei, machte einen großen Bogen, stieß durch die Wolken und kam dann wieder auf uns zu.


    „Das darf doch nicht wahr sein,“ rief Kasimir und zupfte aufgeregt an meinem Ohr. „Die sind doch verrückt!“


    „Das sehe ich auch,“ sagte ich, „aber was wollen die hier?“ „Das werden wir gleich wissen,“ schrie Kasimir und sprang mit einem gewaltigen Wichtelsatz auf das vorderste Rentier, hielt sich an seinem Ohr fest und brüllte etwas hinein. Das Tier warf den Kopf hoch, bäumte sich und es war, als bremse es mit den Hufen mitten in der Luft den Schlitten, alle anderen Rentiere machten gehorsam mit. Es gab einen Ruck, der Schlitten klatschte auf den Boden und etliche Trolle fielen grölend und lachend vom Schlitten in meinen Garten.


    „Das war SUPER,“ rief ein Wichtel, der auf einmal aus dem großen linken Ohr des Kutschertrolls hervorschaute. Er klatschte begeistert in die Hände, dann entdeckte er Kasimir auf dem Rentier und jubelte laut: „Kasimir, mein lieber Junge, da bist Du ja, lass Dich umarmen!“


    Aber Kasimir sprang mit einem Satz zu mir zurück und sagte wieder: „Das darf doch nicht wahr sein!“


    „Kannst Du mir das irgendwie erklären?“ Ich war fasziniert und fassungslos zugleich. Kasimir zeigte auf den Obertroll. „Das ist Zumbur, der Troll, von dem ich Dir schon mal erzählt habe, die anderen da sind seine Gang und der Wichtel in seinem Ohr, das ist Fridolar, der Zwillingsbruder von Fridolin, der uns besucht hat und in Bayern lebt, wie Du weißt.“


    Ich nickte, wusste aber noch immer nicht, worauf das jetzt hinauslief. „Aha,“

    murmelte ich deshalb, „und was wollen die hier?“


    „Fridolar, kannst Du das bitte erklären, was wollt ihr hier und wieso mit dem Schlitten vom Weihnachtsmann, das hat der doch niemals erlaubt?“


    „Erstens soll ich Dich von Deiner Mama grüßen, das habe ich ihr versprochen und damit jetzt erledigt und zweitens, wir haben den Weihnachtsmann gefragt,“ antwortete der Wichtel, „er hat nicht nein gesagt.“


    In diesem Augenblick fassten zwei weiß behandschuhte Hände das Schlittengeländer, ein Gesicht mit Vollbart, roter schief sitzender Mütze auf dem Kopf tauchte auf und zwei sehr glasige Augen starrten uns an.


    „Hoho, wo sind wir?“ fragte er und zum ersten Mal in meinem Leben stand ich dem Weihnachtsmann gegenüber. Der schien allerdings sehr benommen zu sein und ich tippte mal auf zu viel Schnaps. Aber das war ein Irrtum, wie sich schnell herausstellte.


    Zumbur drehte sich zu ihm um und rief: „Wir sind in Deutschland, bei Kasimir, dem Wichtel und bringen Fridolar nach Bayern, zu der freien Wichtelwohnung bei Julian, erinnerst Du Dich?“ Der Weihnachtsmann schüttelte langsam den Kopf. „Nein, ho, nein, was ist passiert?“


    „Weihnachtsmann, Du wolltest wissen, wie man mit den Baseballschlägern spielt und ich hab Dir das gezeigt, aber schon beim ersten Schlag auf dem Kopf warst Du leider bewusstlos. Also das ist wirklich kein Spielzeug für Dich oder für kleine Kinder, wirklich. Aber Fridolar musste ja pünktlich nach Bayern gebracht werden und weil Du ausgefallen bist habe ich mich bereit erklärt, das für Dich zu erledigen.“


    „Gut gemacht, Zumbur,“ meinte der Weihnachtsmann, aber ich war mir sicher, er hatte das noch gar nicht richtig verarbeitet oder verstanden. Und er machte einen echten neuen Fehler. „Wie war das noch mal mit dem Schläger?“


    Zumbur packte einen Baseballschläger, der neben ihm gelegen hatte. „So,“ sagte er und haute dem Weihnachtsmann damit auf den Kopf. Die glasigen Augen schlossen sich wieder und er fiel wohl auf den Schlittenboden.


    „Seid ihr verrückt,“ fragte ich, „ das tut doch weh!“ „Nö, tut es nicht, er ist schon so oft vom Schlitten gefallen, das merkt er gar nicht.“ Mir fiel dazu nichts ein.


    „Ich will ja nicht hetzen,“ sagte Kasimir,“ aber ich glaube, Euer Zwischenstopp hier dauert schon zu lange.“ Er lauschte in die Nacht hinein und wir hörten ein tiefes Brummen, ein flatterndes Geräusch, das langsam näher kam.


    „Hört sich nach einem Hubschrauber an,“ meinte ich. Zumbur lachte laut auf. „Ja klar, die Polizei sucht uns, ein unbekanntes Flugobjekt über Berlin, lustig. Na gut, wir hauen ab. Trolle, auf den Schlitten, halt Dich fest, Fridolar, auf nach Bayern!“


    Er knallte mit den Zügeln auf die Rücken der Rentiere, die gehorchten und sausten sofort los in Richtung Wolken und nach Süden. Aus der Ferne hörten wir noch einen Satz: „Ich komme Euch mal besuchen!“


    „Muss nicht sein,“ murmelte ich und während der Polizeihubschrauber über uns hinwegflog gingen wir wieder hinein, ich schloss die Terrassentür und sah Kasimir an. „Kein Kommentar,“ sagte er, „das wird sicher noch ein Nachspiel haben.“


    Dann lachte er und sein Lachen war total ansteckend, irgendwie war das ein wirklich verrückter Abend gewesen.

  • Der 7. Dezember von Batcat



    DER WEIHNACHTSPLAN


    Seit Susannes Mann bei einem Unfall so plötzlich gestorben war, kam ihr kein Mann mehr ins Haus. Ihr Herz war noch immer fest verschlossen vor Trauer. Nur Lilli und Lena, ihre beiden 12-jährigen Zwillinge hatten noch Platz darin. Doch die beiden, die sich kaum mehr an ihren eigenen Papa erinnern konnten, hatten andere Pläne. Ihre Mama war immer so traurig und alleine. Bei allen ihren Freundinnen lachten die Mamas viel mehr. Und sie mußten auch nicht so viel arbeiten, denn sie hatten alle Papas, die auch einen Teil der Arbeit leisteten. Bei manchen ihrer Freundinnen waren die Eltern geschieden, aber selbst da kam nach einer Weile mit einem neuen Partner das Glück zurück.


    Es war Oktober und die beiden hatten keine Lust mehr auf ein weiteres Weihnachten wie in den letzten 6 Jahren: Mama heulte unter dem Weihnachtsbaum und sie trauten sich gar nicht so recht, sich über die dennoch vorhandenen und liebevoll verpackten Geschenke zu freuen. So konnte es also nicht weitergehen. Der Plan stand fest: Weihnachten sollte dieses Jahr nicht nur wieder ein Baum her, sondern auch ein Mann für Mama.


    Die beiden guckten sich also um. Es war nicht so einfach. Alle Männer, die sie einer genaueren Beobachtung unterzogen, hatten irgendeinen Makel: Der Bäcker war unfreundlich zu Kindern. Der Postbote hatte schon eine Frau (eigentlich schade, er war immer nett zu den beiden, wenn er Post ablieferte!). Der niedliche Obsthändler mochte Männer lieber (damit schied leider auch der Friseur ums Eck aus). Langsam wurde das Kandidatenfeld dünner. Blieb also nur Herr Möller, der supernette neue Klassenlehrer. Daß er Single war, hatte er ihnen bei seiner Vorstellung sogar selbst erzählt. Und daß er gerne las und Tiere mochte. Außerdem schien er gerne zu kochen, denn sie hatten ihn schon etliche Male beim Einkaufen gesehen. Doch leider blieb es außer beim obligatorischen Elternabend immer nur bei ein paar höflichen Floskeln, wenn Susanne und die Mädels ihm zufällig im Viertel über den Weg liefen.


    Lilli und Lena beschlossen: da müssen andere Maßnahmen ergriffen werden. Zuerst einmal begannen sie, ihre Hausaufgaben nicht mehr zu machen. Nach dem dritten Mal wurde ihre Mutter endlich zu Herrn Möller beordert. Er sprach lange mit Susanne (und er fand sie auch wirklich sehr sympathisch!) und Susanne anschließend sehr lange und eindringlich mit den Zwillingen. Mehr passierte nicht. Als die beiden bemerkten, daß die Hausaufgaben keinen Erfolg gebracht haben, versuchten sie es anders: sie schwätzten und zankten ständig im Unterricht. Wieder wurde Susanne bei Herrn Möller einbestellt. Das Gespräch dauerte noch länger als das erste Gespräch und Herr Möller bot ihr auch seine Unterstützung an, doch letztlich blieb Susanne hilflos zurück.


    Wenn sie doch nur einen Partner hätte, mit dem sie diese Sorge teilen könnte. Was war nur in die Kinder gefahren? Sie waren doch bisher so problemlose Kinder gewesen. Doch nun mußte sie ständig zu ihrem Klassenlehrer, Rede und Antwort stehen. Verfluchte Pubertät!


    Dazu kamen noch Sorgen um ihren Arbeitsplatz, die sie bisher vor den Mädels verheimlicht hatte. Kein Wunder, daß sie beim 4. (oder war es gar schon der 5.?) Termin mit Herrn Möller in Tränen ausbrach. Es war einfach alles zuviel für sie. Sie verging fast vor Peinlichkeit, doch Michael – bei dieser Gelegenheit bot er ihr das Du an – reichte ihr sein Taschentuch und lud sie zu Kaffee und Kuchen ein, denn ein Stück selbstgebackenen Kuchens soll ja bekanntermaßen sehr gut zur Bewältigung von kleinen und größeren Krisen sein.


    Jetzt saß sie staunend in seinem Wohnzimmer, das urgemütlich und voller Bücher war. Zwei Katzen strichen ihr um die Beine und schnurrten sie vertraut an. Jetzt – in seinem Zuhause - war er plötzlich nicht mehr nur „der Lehrer ihrer Töchter“, sondern sie sah ihn jetzt mit anderen Augen und als den Mann, der er war: ein lebensfroher und belesener Kerl; attraktiv , tierlieb und voller Humor. Sie bemerkte erstaunt ein leises Flattern in ihrer Herz- und Magengegend, von dem sie dachte, sie würde es nie mehr erleben und sie freute sich still darüber.


    Fast freute sie sich darüber, als sie schon wieder zu Herrn Möller einbestellt wurde, weil die beiden Mädels wieder irgendeinen Streich verübt hatten. Und diesmal schien auch er dieses Flattern zu verspüren, denn sein Blick war viel weicher und sein Ton viel weniger förmlich als bei den letzten Terminen dieser Art.


    Diesmal hielten sie sich auch kaum mit den üblichen Themen auf… Michael lud sie zu einem Abendessen ein, um „in etwas weniger förmlichen Rahmen“ zu erörtern, wie man die Situation wieder in den Griff bekommen könnte.


    Das Abendessen verlief rundum erfolgreich: Susanne und Michael gestanden sich ihre Sympathie füreinander ein und beschlossen, sich künftig regelmäßig zu treffen, um zu sehen, ob es eine Zukunft für sie geben könnte.


    Natürlich erst einmal heimlich, denn man konnte den beiden armen vaterlosen Kindern ja nicht plötzlich von heute auf morgen einen neuen „Vater-Kandidaten“ präsentieren. Vor allem jetzt, wo ihre Pubertät ihnen scheinbar so viele Probleme bereitete.


    Die beiden armen vaterlosen Kinder hingegen spionierten ihrer Mutter heimlich nach, hatten ihre Ohren an Wänden und ihre Augen an Orten, wo sie nicht hingehörten, und waren mit dem Lauf der Dinge sehr zufrieden: die Treffen häuften sich und ihre Mutter war sehr erfinderisch darin, sie vor den Kindern zu verheimlichen, allerdings natürlich ohne jeden Erfolg.


    Und als ihre Mutter sie nach ihren Weihnachtswünschen fragte und ganz nebenbei einfließen ließ, ob sie etwas dagegen hätten, daß sie Herrn Möller an den Weihnachtsfeiertagen zum Essen einlud, weil „er auch immer alleine wäre und an Weihnachten doch niemand allein sein soll“ antworteten sie einstimmig: „Nein, wir sind wunschlos glücklich!“ (was ihre Mutter angesichts der vergangenen Monate doch sehr erstaunte…).


    Sie konnte ja nicht wissen, daß sich der einzige Weihnachtswunsch der Kinder schon zu Dezemberbeginn vor Weihnachten erfüllt hatte…

  • Der 8. Dezember von Ben Vart



    Uwe rettet die Katze


    Bevor Emma und Uwe Anfang März nach Korsika aufbrachen, um

    einerseits ihre Beziehung abseits des Alltags auf den Prüfstand zu

    stellen und andererseits den einmaligen korsischen Frühling zu

    erleben und dabei in den Kampf um das »Korsische Erbe« verwickelt

    wurden, feierten sie Weihnachten bei Emmas jüngerer

    Schwester Carla. Es war das letzte Weihnachtsfest von Uwe.


    Er war naturgemäß wenig begeistert von der Idee, war ihm doch

    klar, er musste wie in den Vorjahren ins Kostüm des Weihnachtsmannes

    schlüpfen, um Carlas aufdringliche Zwillinge Franziska und

    Albert weihnachtlich zu beschmusen.


    Er mochte die Kinder, aber die beiden Fünfjährigen konnten echt

    nerven. Irgendwann hatte Carla ein Buch ihrer Mutter über

    antiautoritäre Erziehung aus den frühen 70ern in die Finger

    bekommen und sich den Teil herausgepickt, der sich mit der

    autonomen Entwicklung eines Kindes befasste. Gleiche Rechte für

    Kinder wie für Erwachsene war dabei ihr Lieblingsthema. Uwe fand,

    aus den Kindern hatten sich seither rechte Rotznasen ohne Respekt

    und erkennbare Werte entwickelt.


    Eines Tages – Emma und er waren erst knapp ein halbes Jahr

    zusammen – hatte er gewagt, sich gegen die aufdringliche Bevormundung

    der Kinder zu wehren und sie in scharfem Ton aufgefordert,

    gefälligst Nachbars Katze in Ruhe zu lassen, die sie in die

    Enge getrieben hatten und mit Steinen bewarfen.


    Heulend liefen die Kinder zu ihrer Mutter und petzten, Uwe habe

    sie angeschrien, woraufhin Carla ihn in ebenso scharfen Ton wie er

    zuvor die Kinder belehrte, dass diese durchaus das Recht hätten,

    ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Und ihren Kindern habe er

    schon mal gar nix zu sagen.


    Ausgerechnet in dem Moment, als Uwe Carla fragte, ob sie die

    wenigen Tassen in ihrem Schrank noch in der richtigen Reihenfolge

    sortiert habe, kam Emma dazu. Ohne die Vorgeschichte zu kennen,

    stellte sie klar, dass Uwe sich ihrer Schwester gegenüber ja „sowas

    von schräg“ benommen habe. Das ginge ja nun gar nicht. Uwe

    beging dann den Fehler, sich verteidigen zu wollen. Was Emma

    abtat mit der Bemerkung: „Meine Schwester hat ihre Erziehungsstrategie

    und sich diese sehr wohl überlegt. Es steht daher weder

    dir noch mir zu, uns einzumischen.“ Als Uwe dann konterte: „Du

    hast ja denselben Knall wie deine dussliche Schwester“, war der

    Tag tatsächlich gelaufen.


    Er fuhr nach Hause. Zwischen ihm und Emma herrschte sechs

    Wochen lang Funkstille. Dann fand er eines Tages ein kleines Päckchen

    vor seiner Tür. Darin ein Buch: „Der Hund aus Terrakotta“ von

    Andrea Camilleri. „Es tut mir leid. Entschuldige bitte!“ hatte Emma

    in ihrer zügigen, gereiften Handschrift auf eine Karte geschrieben.

    Ein Weihnachtsmann lag einsam auf einer Couch mit einem welken

    Strauß Blumen in der Hand; dabei starrte er erwartungsvoll auf das

    daneben auf einem kleinen Tisch stehende Telefon. Seine Rentiere

    zupften in einem grünen Garten welkes Gras.


    Er überlegte, ob er der unverblümten Aufforderung folgen sollte.

    Schließlich hätte sie, statt ein Buch vor seiner Tür abzulegen, auch

    selbst klingeln oder wenigstens anrufen können. Dann überwand

    er seinen Stolz. An diesem Abend liebten sie sich wie noch nie

    zuvor.


    Weihnachten rückte näher. Und damit auch die Frage: Gibt es im

    antiautoritären Erziehungsschema einen Weihnachtsmann? Nein,

    sagte Carla im Juni. Vielleicht, sagte Carla im November. „Würdest

    du den Weihnachtsmann geben?“ fragte Carla Uwe Mitte Dezember.

    Ihre Zwillinge nervten sie schon seit Wochen damit, dass die

    anderen Kinder im Kindergarten davon schwärmten, bald käme der

    Weihnachtsmann, der ihnen Geschenke bringe - das wollten sie

    auch.


    Okay. Der Weihnachtsmann war weniger wichtig als die Geschenke.

    Aber wenn nunmal er sie brächte, müsste man der Geschenke

    wegen den Weihnachtsmann in Kauf nehmen. Dumme Sache das,

    aber offenbar auch nicht zu ändern.


    Uwe besorgte sich die übliche Weihnachtsmann-Ausstattung.

    Kostüm, eine Rute aus zusammen gebundenem Reisig, einen alten

    Sack und einen Wattebart, den er sich mit einem Gummi umband.

    Die verpackten Geschenke mit den Namen daran brachte ihm

    Emma kurz vor seinem Auftritt.


    Hinter der Tür hörte er das aufgeregte Geplapper der Kinder, das

    schlagartig verstummte, als er den Klingelknopf drückte. Carla öffnete,

    er trat schwer stampfend ein. Die Lichter am Weihnachtsbaum

    brannten, die Kinder standen schweigend davor und starrten ihn mit

    großen Augen und unsicher an.

    „Los!“ forderte Carla sie auf. „Ihr seid dran.“

    Etwas stockend begannen sie:


    „Lieber, guter Weihnachtsmann,

    hast schon deine Stiefel an,

    hast gekämmt den weißen Bart,

    bist wieder auf der Weihnachtsfahrt.


    kamst nun auch in unser Haus,

    jetzt packe die Geschenke aus.

    Ach, erst das Sprüchlein willst du hören?

    Ja, ich kann es, hör mal zu:


    Lieber, guter Weihnachtsmann,

    guck mich nicht so böse an.

    Stecke deine Rute ein,

    will auch immer artig sein!“


    Carla hatte das Gedicht ein wenig umformuliert und Uwe nahm seine

    Rute, legte sie auf den Boden und fragte:

    „Ihr ward immer artig?“

    Die Kinder nickten heftig.

    „Seid ihr sicher?“

    Die Kinder nickten noch immer und pressten ein unsicheres „Ja ...“

    heraus.

    „Dann wollen wir mal nachsehen“, meinte der Weihnachtsmann, griff in

    die Tasche seines weiten Mantels und zog ein gefaltetes Papier heraus.

    „Hier steht: Die Zwillinge haben gepetzt.“

    „Das stimmt nicht!“ schrie Franziska. In ihrer Stimme schwang die Angst,

    nun doch keine Geschenke zu erhalten.

    „Und hier steht auch, dass Albert und Franziska Steine auf eine Katze

    geworfen haben. Nennt ihr das artig?“

    „War doch bloß eine Katze.“ Albert versuchte, die Situation irgendwie zu

    retten.

    „Dann nehm ich eben alles wieder mit“, sagte der Weihnachtsmann.

    „Sind doch bloß Geschenke.“

    Er hörte Carla im Hintergrund vor Schreck japsen. Das war nicht

    abgesprochen.

    „Nein!“ Das Entsetzen in den Stimmen der Kinder war unüberhörbar. „Wir

    werden nie mehr eine Katze ärgern.“

    „Und was ist mit den anderen Tieren?“ Die Stimme des Weihnachtsmannes

    ließ sie aufhorchen.

    Aber Franziska war nicht nur ein kluges, sondern auch ein mutiges Mädchen.

    „Was ist, wenn mir eine Fliege über die Nase kriecht?“

    „Die darfst du verjagen.“

    „Gut!“ Sie stemmte beide Arme in die Hüfte. „Kriegen wir jetzt die

    Geschenke?“


    Und Uwe packte aus. Die Zwillinge nahmen die Pakete, rissen die Verpa-

    ckung auf, während dessen der Weihnachtsmann seine Sachen packte.

    Auf dem Weg zur Tür hörte er, wie Franziska sagte: „Der Weihnachtsmann

    ist doof. Mama, nächstes Jahr holst du den richtigen.“

  • Der 9. Dezember von Dorit



    Der Berg


    Es piepte. Fein, kontinuierlich, unauffällig und leise. Das Piepen, welches zunächst nur ein Fiepen war, drang sehr langsam in mein Bewusstsein. Es schlich sich in mein Gehirn wie ein Wicht, an der Tür der Vorderfront meines Verstandes vorbei. Nein, nicht wie ein Wicht. Das Geräusch rieselte auf das Dunkel meiner Gehirnrinde wie Schnee, den man zunächst nicht bemerkt, weil man nicht hinsieht. Aber dann merkt man es doch. Am Licht. Es wird heller und der Widerschein weicher. Das Fiepen wurde drängender und mein Gehirnschnee schmolz dahin mit der Erkenntnis, was dort seit über zehn Minuten fiepte. Nein. Bitte nicht. Es drang aus dem massiven Geschenkhaufen, drüben in einer sichtgeschützten Ecke meiner Wohnung. Farblich aufeinander abgestimmt türmten sich dort die aufwendig verpackten und verklebten Kartons an sämtliche Kinder, Enkelkinder und Urenkel. Stapelweise Nachfahren, die ich bzw. die Kinder meiner Kinder hervorgebracht hatten. Diese Geschenkhalde symbolisierte auf verborgene, glitzernde Weise meine Vermehrungssucht. Ingelore hätte ihre Freude daran gehabt. Ich nicht. Heiligabend sollte dieses Jahr bei mir stattfinden; alle hatten sie das untereinander so beschlossen. „Um dich zu schonen“, wie man mir mitteilte, um mir beschwerliche Wege abzunehmen, mich vor zu fremden, zu harten oder zu weichen Matratzen zu bewahren, vor zu falschen Kissen, vor zu lauten Nachbarn, sprich vor allem, was nicht meine gewohnte Umgebung war. Dabei mochte ich meine gewohnte Umgebung gar nicht. Ich liebte es sehr, in Zügen zu sitzen, die wegfuhren und mich die verhasste gewohnte Umgebung vergessen ließen. Es gibt ein Sprichwort: die Seele brauchte drei Tage, um hinterher zu kommen, sobald man verreiste. Bei mir war es nicht die Seele, sondern das Gebrechen. War ich fort, war mein Körper plötzlich jung. Es gab keine zu harten oder zu weichen Liegestätten, keinen nervenden Anwohner, kein zu frühes Licht. Jenseits von daheim schlief ich wie ein Stein, wie ein Baby, wie ein russischer Bär, wie der Weihnachtsmann im Sommer. Exakt drei Nächte. Dann trudelte alles hinterher, die Arthrose, das Rheuma, mein Asthma. Und mit alledem die Verdrießlichkeit, die meine Verwandtschaft nicht vergrößern wollte, indem sie mich in meinem gewohnten Umfeld beließ. Meine Kinder und Kindeskinder hörten einem alten Mann wie mir nicht mehr zu. Oder sie glaubten mir nicht. Dachten vielleicht, ich wolle nur höflich sein und sie wären aufgefordert, meine wahren Bedürfnisse zu erahnen. Dabei war ich nie höflich. Brummig, aber ehrlich. Weshalb ausgerechnet meine Kinder mir nicht glauben, weiß ich nicht. Vermutlich, weil Ingelore ihnen immer mit ihrem „er meint es gar nicht so“ über den Mund gefahren war, wenn sie sich mit mir anlegten. Vielleicht haben sie aber auch die außerhäusigen Erziehungsstätten verdorben und jene Höflichkeitsmonster aus ihnen gemacht.


    Weihnachten nun also bei mir. Punkt. Zusammen mit meinen Leiden, meinen Gebrechen, meinem gewohnten Umfeld. Sie werden kommen, kochen, Kinder hüten, Klingelkrams an Bäume hängen, Kekse aufschichten, Kugeln zertreten, Koriander suchen (vergeblich), Kiffen (heimlich), kreischend krabbeln und Kalender verschenken. Den drei großen K´s sind sie entwachsen. Es sind inzwischen die neun großen K´s. Potenziert durch die Generationen. Allesamt konventionell hoch drei. Bis auf den kleinen Kiffer: Adrian. Aber selbst der tut es heimlich. Bei mir in der Speisekammer, die ein Fensterchen nach draußen hat. Und die nach etwa 100-jährigen Lebensmittelresten duftet, dass der kleine Kiffer glaubt, sein kleines, verbranntes Gummigrasgestinke würde den Speck auch nicht mehr fett machen. Beleidigt hatte ich ihn, weil ich ihm sagte, sein Stoff wäre schlecht und würde wie alte Autoreifen riechen.


    Nun gut. Weihnachten also bei mir. Der Haufen da drüben. Die Geschenke. Das Piepen wird gnadenlos. Es dringt aus dem Fundament des Geschenkgebirges. Ich will es nicht hören, seit mir klar ist, was es bedeutet. Aber ignorieren kann ich das Geräusch auch nicht. Ich weiß, dass es nicht aufhören wird. Ich weiß, was es ist, denn ich habe es selbst verpackt. Bzw. mitgeholfen es zu verpacken. Bzw. ich saß eigentlich nur daneben, habe ab und an ein missmutiges Brummen von mir gegeben oder die Hand mit den Tesastreifen hingehalten, die Bettina zum Verpacken brauchte, da sie ja nur zwei Hände hätte, wie sie mehrfach betonte, als wäre ich blind oder senil. Es klang wie ein Vorwurf, an mich: als einen Vater, der seiner Tochter nur zwei Arme mit nur zwei Händen vererbt hätte, während alle anderen Väter, Töchtern mit multiplen Gliedmaßen, sprich: Krakentöchtern oder Mulinetten, das Leben geschenkt hatten. Bettina lamentierte darüber, als wäre sie mit ihren hübschen, runden zwei Armen eine Missgeburt, eine Benachteiligte, eine Diskriminierte, die ihr Leben nicht schaffen könnte. Niemals. Mit so einer Behinderung. Sie hätte ja nur zwei Hände! – Ja, Betty, ich auch, erwiderte ich irgendwann, worauf hin meine Tochter schwieg, mir einen verächtlichen Blick zuwarf und meine mit Altersflecken übersäten Handrücken mit abgetrennten Tesastreifen bepflasterte, als hätte ich Hautkrebs, den man unter weißroten Sternchen verschwinden lassen müsste. Ich war zu einer Tesastreifen-Abholtstation mutiert. Irgendwann befreite sie mich von diesen bunten Schnipseln und verschloss damit die sorgsam verpackten Geschenke. Bettina ist „Sammelstellenbeauftragte“, die Sammelstelle ist meine Wohnung. Und Bettina ist zugleich Verpackungsbeauftragte. Obwohl sie ja nur zwei Hände hatte. Aber sie kann es exzellent. Das Verpacken. Ich habe mich nie für Verpackungen interessiert. Vermutlich hat Betty es von Ingelore. Aber Lore ist fort. Fern aller gewohnten Umgebungen. Schade, sehr schade. Sie hätte Betty sicher gern dabei zugesehen, wie sie das Papier falzt, dass auch immer die Innenseite (die ja neuerdings auch bedruckt ist) zur Geltung kommt. Als aparte Streifen, quer zur passenden Schnur. Noch nicht einmal schmucklose Innenseiten gibt es mehr. Diese perfide Gleichmacherei. Vielleicht auch politisches Statement. Die Zeit ist zugemüllt von politischen Statements. Und jetzt auch noch die Innenseiten! Durch eine goldbedruckte Außenseite fühlt sich die Innenseite diskriminiert. Diskriminierte Innenseiten können zum Problem werden. Sie werden zickig, spröde und irgendwann reißen sie. Verursachen hässliche Einsichten in das, was verborgen bleiben sollte. Auch diskriminierten Innenseiten muss man auch eine Chance geben. Sie entdiskriminisieren. Sprich: sie bedrucken. Und falzen, dass auch sie zur Geltung kommen! Und das macht Betty. So wie Lore es auch immer getan hat. Niemand darf zu kurz kommen. Noch nicht einmal die Innenseiten von Weihnachtspapier. Merkwürdig! - Dabei ist das Einzige, womit ich mich zu Weihnachten am meisten identifiziere, graubraunes, schmuckloses, ornamentfreies Papier. Ich interessiere mich nicht für Verpackungen. Ich liebe es pur. Einfach sein. Schlicht sein. Da sein. Braun sein. Aber selbst das hat schon wieder politische Bedeutung.


    Es piept. Ja! Nein! Schluss damit! Aber es wird nicht aufhören. Ich weiß es. Betty hat diesen Wecker - dieses himmelteure Teil! - für ihre Enkeltochter Matti nach langem Hin und her im Netz gekauft. Ein digitales Vintage-Gebilde, das aussieht als wäre es Anfang dieses Jahrhunderts aus einem Detektivbüro in England gestohlen worden, aber ein Innenleben besitzt, das der Urenkel vom Terminator aus dem Jahr 2050 hergeschickt haben könnte. Alte Hülle, moderner Kern. Wieder so ein Verpackungswahnsinn. Eine Krankheit. Irgendwann werden sie Müllhalden herstellen, die von innen vergoldet sind. Das ist dann schick. Oder Kunst. Und dieses himmelteure Ding, das da jetzt am Boden dieses Wunderbergs aus Falt- und Kartonkunst piept, um Matti (Mathilde, 16 Jahre alt) zum Aufstehen zu bewegen, tut überpünktlich seine Dienst. Nur ist Matti noch nicht da. Erst in drei Tagen. Schlaksiges dünnes, weißblondes Ding. Hat einmal mit Adrian gekifft und es dann wieder bleiben lassen. Weil ihr schlecht wurde, nicht vom Kiffen, sondern vom Rauch und ihrer Länge samt Blutdruck. Hat auf meine eingeweckten Pflaumen von 1996 gekotzt, die letzten von Lore, bevor sie umgefallen ist. Und nun ist ihr säuerlicher Jungmädchen-Magensaftgeruch zum Bestandteil der Düfte von Jahrzehnten in meiner Kammer geworden. Hat sich dazu gesellt und eingereiht in die absonderlichen, olfaktorischen Kuriositäten eines 89-jährigen, der keinen Hunger mehr hat. Matti steht nie von alleine auf. Selbst damals in der Speisekammer brauchte sie Ewigkeiten. Muss an ihrem Kreislauf liegen. Dieser Hang zum Liegen. Bleiches Ding. Braucht unbedingt einen Wecker, einen Wecker wie diesen, einen, der hartnäckig ist und nie aufgibt, einen, den Matti, so Betty, über alle Wecker hinweg hört. Man kann ihn nicht zum Schweigen bringen. Irgendwann hören ja alle Wecker auf. Nur dieser nicht. Man kann ihn gegen die Wand werfen, herunterdrücken, anbrüllen, es hilft nichts, er ist ein Stehaufmännchen, so hat es Betty mir beim Einpacken erläutert. Es gibt eine komplizierte Abfolge von Dingen, die man tun muss, um ihn auszuschalten. Aber dafür muss man wach sein, hellwach, und man muss Fingerfertigkeit besitzen. Zuerst legt man ein Hebelchen um, welches man ertasten muss. Es versteckt sich unter einer Klappe, die man nur mit etwas längeren Fingernägeln aufbekommt. Die hat Matti. Darauf hatte Betty beim Kauf geachtet. Wenn das Hebelchen einrastet, drückt man zeitgleich einen Knopf, der sich oben zwischen den Glocken befindet, die keinen Sinn haben, außer: Vintage. (Winntitsch. Windkitsch.) Ich finde das diskriminierend. Glocken ohne Sinn und Verstand. Nun gut. Damit muss

    man sich abfinden. Weihnachten also bei mir. Was man danach machen muss, habe ich vergessen. Bin eingeschlafen, als Betty es mir erklärte und erst wieder wach geworden, als sie mir die letzten Tesafitzel von den Handrücken riss. Da war der Berg dann fertig. Das Monstrum. Steht jetzt da drüben. Brütet auf dem kleinen Quader in Sternchenpapier. Der immer noch piept. Ein Küken, das zu früh geschlüpft ist, lange bevor es Heiligabend wurde. Verbannt in seine Verpackung. Eingesperrt in seine gewohnte Umgebung. Die es nicht verlassen darf. Vor der Zeit. Damit es ihm gut geht. Mir geht es nicht gut. Nicht mit diesem Ding da unter dem Berg. Ich stehe auf, gehe hinaus, nehme den Mantel von der Garderobe, den Hut von der Ablage, den Rollator vor der Tür, schließe sie. Hinter mir piept es gedämpft weiter. Das Ding schreit um Hilfe. Ich schließe die Tür wieder auf und gehe zurück. Zerstöre den Berg. Zerreiße die Verpackung und hole es hervor. Es ist das Signal zum Aufbruch geworden. Die Musik meines Fortgangs. Ein einziger Ton nur. Staccatoartig. Er wird mich begleiten. Drei Tage werde ich fort sein mit ihm: dem unzerstörbaren Weckruf kurz vor Heiligabend.



  • Der 10. Dezember von Voltaire



    Traum


    Es war sein erstes Weihnachten ohne Frau und Tochter. Beide waren vor sechs Monaten tödlich mit dem Auto verunglückt. Sie waren einem illegalen Autorennen in die Quere gekommen. Von einer Sekunde auf die andere war sein Leben zerstört und das Leben der Menschen, die er am meisten liebte, ausgelöscht.


    Seit diesem Tag lebte er in einer absoluten Leere – obwohl von leben eigentlich keine Rede sein konnte. Er existierte – mehr war da nicht.


    Und nun saß er hier am Heiligen Abend allein im dunklen Wohnzimmer – ein Zimmer in welchem immer das Leben zuhause war, ein Zimmer der Ruhe, des Glückes und der engen Verbundenheit mit den Menschen die er liebte.

    Und nun?

    Nun war dieses Zimmer nichts weiter als ein dunkles seelenloses Loch.


    Auf dem Tisch hatte er eine Flasche Whiskey und ein Glas deponiert. Ohne Alkohol würde er diesen Tag, diesen Abend ganz sicher nicht überstehen.

    Nach dem zweiten Glas wurde er sehr müde und so kam es, das er im Sessel einschlief.


    Dann ein Geräusch – als würde die Eingangstür geöffnet.

    Er schreckte hoch und schaute zur Zimmertür. Und was er da sah glaubte er nicht, offenbar spielte sein Verstand ihm einen üblen Streich. In der Tür stand seine Frau und seine Tochter. Bei lächelten ihn an.


    „Wieso.....ich dachte.......“, er konnte nur noch stammeln.

    „Wir waren nicht weg, wie waren nur woanders,“ seine Frau schaute ihn liebevoll an

    „Aber ihr seid doch tot, der Unfall......“, es war einfach zu viel für ihn.

    „Ja, das war nicht schön – aber man sollte die Dinge einfach geschehen lassen.“ Sie lächelte.

    „Und bleibt ihr denn nun hier?“

    „Es gibt Fragen auf die es keine Antworten gibt und wenn es eine Antwort gibt, dann wird man merken wenn die Frage beantwortet wird.“

    Sie sah ihn ernst und durchdringend an.


    Seine Tochter ging auf ihn zu und gab ihm einen kleinen Playmobil-Polizisten.

    „Der soll jetzt auf dich aufpassen. Und wenn jemand böse zu dir ist, dann steckt er ihn ins Gefängnis. Ich hab dich lieb, Papa.“

    „Ich dich auch, meine Kleine,“ sagte er mit belegter Stimme.


    Er nahm die kleine Figur und steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes.


    Ruckartig wachte er auf. Er war halbwegs von seinem Sessel gerutscht. Niemand war da – nur er selbst. Seine Frau und seine Tochter waren verschwunden.


    „Doch nur ein Scheisstraum“, murmelte er und goss sich ein weiteres Glas ein.

    Langsam machte ihn der ungewohnte Alkohol schläfrig. Er trank normalerweise keinen Alkohol. Doch heute ging es eben nicht anders.


    Etwas benommen erhob er sich und wankte ins Schlafzimmer. Er warf sich angezogen wie er war auf das Bett und spürte dann so etwas wie einen Stich auf seiner Herzseite, als wenn sich dort etwas ein wenig ins Fleisch gebohrt hätte.

    Er griff in seine Hemdtasche und zog etwas heraus.

    Es war diese Playmobil-Figur, dieser Polizist aus Plastik.

    Dabei gab es in diesem Haus kein Playmobil-Spielzeug. Seine Tochter hatte immer mit anderen Sachen gespielt.


    Schlagartig war er nüchtern.

    War vielleicht alles doch kein Traum gewesen? Aber so ist das eben – auf manche Fragen gibt es eben keine Antworten. Und Weihnachten ist eben nicht nur das Fest des hemmungslosen Konsums, es kann auch das Fest der Wunder sein. Und wenn man ganz aufmerksam ist, dann kann man vielleicht auch ein solches Wunder erleben.


    Ich wünsche allen ein besinnliches Weihnachtsfest und Gottes Segen.

  • Der 11. Dezember von Joachim Off



    Türglöckchen kling!


    Hangabwärts.

    Ein verschneites Dorf, sub-sub-suburban, die Straßen von Schneeketten angefressen, Flöckchen und Weißröckchen rieseln leise. Eingesunken in Weiß, mehrstöckige Großhütten unter paffenden Kaminen, Dachkanten und Fensterrahmen sind mit Buntfunzeln behangen. Still und starr ruht der See weit unten, die Eisplatte ist von Kufen zerkratzt.

    Heiligabend. MEZ.

    Santa hängt auf seinem roten Schlitten ab, der über dem nahen dunklen Wäldchen schwebt. Er nuckelt an seiner Pfeife. Das Christkind tritt hinter einem der Häuser hervor, stapft barfuß durch üppiges Weiß, hebt ab und fliegt in Glitzerschleifen zu Santa auf den Schlitten, Sternchen klimpern zwischen Bäumen.

    „Und?“, fragt er.

    „Nope“, erwidert es.

    „Kein Fenster offen?“

    „Nicht mal eins.“

    „Kamine?“

    „Feinstaubfilter, kein Durchkommen.“

    Santa lugt über die Schulter, der Schlitten ist voller bunter Geschenke, groß, klein, rund, eckig. Zwei Rentiere tauschen müde Blicke, eines studiert seinen Vorderhuf, ein anderes gähnt, lauthals und mit ausgerollter Zunge.

    „Dann bleibt halt mehr für die anderen“, brummt Santa.

    Das Christkind legt die Füße hoch und steckt sich eine Zimtstange an. „Versteh mich nicht falsch, Dicklicher, aber da gibt’s keinen mehr. Wir sind abgemeldet. Sogar hier draußen in der Provinz.“

    „Gibt überall noch Löcher unter Christbäumen.“

    „Am Nordpol vielleicht.“

    „Und woanders, garantiert. Ich sag dir, wenn sich ein Türchen schließt, ploppt immer irgendwo ein anderes auf. Adventskalender-Weisheit.“

    Das Christkind quarzt ein paar Züge. „Was waren das für Zeiten, als nur wir zwei um den Weihnachtsabend konkurriert haben. Ich hab meine Päckchen unter den einen Baum geschoben, du unter den nächsten. Jetzt machen mir höchstens noch Bibeltreue und Reichsbürger ihre Fenster auf, und dir setzen die Leute Ölheizungen, Holzpelletöfen und Passivhäuser vor die Nase.“

    Scheinwerferlicht flackert im Schneegestöber, von Ferne rollen quaderförmige Schatten an, Motoren flüstern.

    „Kann mir nicht vorstellen, dass es ernsthaft keine Wünsche mehr auf der Welt gibt“, erklärt Santa.

    „Doch, doch. Sind halt mehr so für das Weihnachtsfeeling, den Bäckground, das dingbums-Narrativ. Ihre Geschenke wählen die Leute heute aber selbst aus, genau angepasst und optimiert auf ihren Hype, verstehst, ihre scheiß Konsumlaune, plus Rückgaberecht und Umtauschgarantie. Wir sind raus, Alter.“

    „Sagst du.“

    „Ist Fakt.“

    „Glaub ich nicht.“

    Santa und das Christkind beobachten, wie die Weihnachtsflotte aus dem Amazonasgebiet zur Haustürbescherung anrückt, Sprinter für Sprinter in bunten Farben. DHL-gelb. HERMES-weiß. UPS-braun. Jeff Bezos' betriebsratsfreie Arbeitswichtel steigen aus den Karren, hetzen durch den Schnee und verteilen die Päckchen, an ihren Nasen hängen Eiszapfen, ihr Lächeln ist festgefroren.

    Schließlich wirft das Christkind den Zimtstangenstummel weg und zieht einen kleinen, schlichten Becher unter dem Kleidchen hervor. „So sieht's aus, Santa Claus. Süßer die Türglöckchen nie klingeln, da kannst glauben, was du willst.“

    „Du und dein katholischer Fatalismus“, brummt Santa, holt den Flachmann aus der Innentasche und füllt den heiligen Gral des Christkinds bis zum Rand auf.

    Beide stoßen an.

    „Was wünschen wir dem undankbaren Pack diesmal?“

    „Natürlich eine allseits frohe Weihnacht und ein schönes, gesundes, neues Jahr!“

  • Der 12. Dezember von Dieter Neumann



    Wie ich eine Adventsgeschichte schrieb


    Churchill ist erbarmungslos, wenn es um den Eulen-Adventskalender geht. Jedes Türchen braucht eine Story, da kennt er keine Gnade. Als es noch Herbst-Eulentreffen gab (vor der Seuche), hatte man erst Ruhe, wenn man zähneknirschend einen Beitrag zugesagt hatte. Dann – und nur dann – konnte man sich endlich mit Hingabe seinem Kaltgetränk widmen.

    In diesem Jahr standen die Chancen gar nicht so schlecht, sich um die vorweihnachtliche Kurzgeschichte herumzudrücken.

    Hatte ich gedacht. War aber nichts.

    Ansgar hat seine Schäfchen einfach virtuell eingefangen.

    Also gut, es ist wie in jedem Jahr: Erst Hirnzermartern auf der Suche nach dem zündenden Einfall für eine kleine adventliche Geschichte – und plötzlich ist sie doch wieder da. Nein, nicht die Story, aber immerhin die Lust, für den Eulenkalenden eine zu schreiben. Und mit ihr steigt wie ein weihnachtliches Wunder aus der Ödnis des gequälten Geistes auch ein Einfall auf: Ja, das wär was, das könnte ich schreiben!

    Also hingesetzt und angefangen.

    Äh … Was schreibe ich denn da? Blöde Geschichte. Die ganze Idee war doof. Passt hinten und vorne nicht in den Adventskalender.

    Los, noch mal überlegen. Ich hab zugesagt, und der Termin ist der zwölfte Dezember! Nicht mehr lang hin, aber, verdammte Hacke, mir wird doch wohl noch was einfallen, irgendwas … na, was Vorweihnachtliches eben. Was Rührendes vielleicht wie Last Christmas (würg), was mit Nickimaus, Atzventzkrantz, Leberkuchen und dergleichen. Auf jeden Fall was fürs Herz. Das kommt immer gut. Na los, hat doch früher immer geklappt – irgendwie.

    Telefon. Der Verlag ist dran. „Wir können den Erscheinungstermin für das neue Buch von August auf den Juni vorziehen!“

    Wow, das wäre klasse. Vorausgesetzt, die ‚Pandamie‘, wie mein Enkel das Virendesaster nennt, ließe es zu, hätte ich nämlich schon im Frühling wieder die ersten Lesungen im Land. Dann könnte ich auch den neuen Roman kurz vorstellen, damit die Leute ihn schon mal vorbestellen.

    Begeistert sage ich zu.

    „Ein kleiner Haken ist dabei“, sagt die nette Dame vom Verlag. „Sie müssen das Manuskript sechs Wochen früher abgeben, sonst kriegen wir die Lektoratsdurchläufe und das Korrektorat nicht mehr rechtzeitig hin. Schaffen Sie das?“

    Na klar schaffe ich das. Über hundert Seiten hab ich schon. Also nur noch knapp zweihundert Seiten in sechs Wochen. „Machen wir!“

    Aber erst mal schnell die Geschichte für den Eulen-Adventskalender dazwischenschieben. Was war das noch, was mir da gestern eingefallen ist? Ein betrunkener Weihnachtsmann kam drin vor, der einem Romanautor am Punschstand aus seinem Leben erzählt hat, glaub ich. Oder war das anders – der Autor besoffen und der Weihnachtsmann ein Finanzbeamter im Tarnanzug?

    Egal, wär sowieso eine bescheuerte Story geworden. Muss mir was anderes einfallen lassen, hab ja Zeit. Nichts überstürzen. Sechs Wochen für zweihundert Romanseiten sind schließlich …

    Das sind fast fünf Normseiten pro Tag, du Idiot, schreit da plötzlich jemand in jenem Teil meines Kopfes, der seit dem Abi vor mehr als einem halben Jahrhundert mit dem Rechnen, mit Mathematik und derlei Zeug (Physik und Chemie gehören auch dazu) eine Art Nichtangriffspakt geschlossen hat.

    FÜNF SEITEN!

    JEDEN TAG!

    Boh äh! Das ist … na ja, ziemlich ambitioniert. Artet in Arbeit aus, das steht mal fest.

    Verdammt, die Adventsgeschichte für die Eulen muss ich ja auch noch …

    Quatsch, die hab ich ja schon.

    Hier isse! :)


    Euch allen eine stressfreie Zeit und passt gut auf euch auf!

  • Der 13. Dezember von Booklooker



    Aus dem Leben eines Rentier-Azubis


    Hej, mein Name ist Keijo und ich wohne in Rovaniemi, das liegt in Finnland, genauer gesagt in Lappland, direkt am Ohrenberg. Auf Finnisch nennt man ihn auch Korvatunturi. Es mag seltsam klingen, dass man mich „Elf“ genannt hat, aber wenn ihr mich sehen würdet, würdet ihr wissen warum. Wie Rudolf, das Rentier mit der roten Nase (ihr wisst schon, der mit den Liedern und Geschichten), habe auch ich ein Markenzeichen. Ich habe besonders spitze Ohren, daher hatte ich erst den Spitznamen Keijo. Jetzt weiß aber leider niemand mehr, wie mein richtiger Name lautet und ich war noch zu klein um ihn mir zu merken. Ah, ich schweife ab… Wie immer. Was wollte ich euch denn nur erzählen… Ah, ich weiß es wieder: Ich wollte euch vom schönsten und phänomenalsten Erlebnis erzählen, das ich je erlebt habe.


    Erst mal muss ich euch aber ein paar Hintergrundinformationen liefern. Ich bin vier Jahre alt und habe mein erstes Lebensjahr im Rentierkindergarten verbracht. Das war das Leben noch einfach und lustig. Wir durften spielen, wild umher rennen und den ganzen Tag Unsinn machen ohne Ärger zu bekommen. Ab meinem zweiten Lebensjahr ging es dann etwas ernsthafter zu. Rudolph (ja, der von dem ich weiter oben schon erzählt habe), hat meine Ausbildung als Schlittenrentier des Weihnachtsmanns übernommen. Man munkelt, dass Rudolph unsterblich ist. So genau weiß ich das allerdings nicht, denn ich bin ja erst vier Jahre alt und kenne ihn daher schon mein ganzes Leben lang. Was wenige Menschen wissen: Der Weihnachtsmann geht seinem Job auf dem Korvatunturi das ganze Jahr nach. Er hat sogar eine eigene Homepage, auf der er genau erklärt, wie man mit ihm Kontakt aufnehmen kann. Es können sogar Besucher ins Weihnachtsmanndorf in Napapiiri kommen und den Joulupikki (also jenen Weihnachtsmann) treffen. Für ganz Verrückte gibt es noch einen Freizeitpark , der sich Santa Park nennt. Mir ist es dort aber zu laut und zu wuselig, daher bleibe ich lieber bei meinen Freunden in Rovaniemi. Könnt ihr euch vorstellen, dass Joulupikki sogar ein eigenes Postamt hat, das nur die Wünsche derer bearbeitet, die ihm schreiben? Der Joulupikki ist ein sehr freundlicher und fleißiger Mann, trotzdem schafft er es nicht ganz alleine an einem Tag im Jahr alle Menschen zu beschenken und hat einige Helfer. Unter anderem helfen ihm wir, die Rentiere und auch die Tonttus , das sind Wichtel. Sie leben auch das ganze Jahr hier bei uns. Es ist ein tolles Leben, denn wir sind tagtäglich von Weihnachtsdekoration, Weihnachtsmusik und oft auch von Schnee umgeben. Wer würde da schon gerne gegen das normale Leben wie ein gewöhnlicher Mensch es kennt, tauschen wollen?


    Zurück zu meiner Ausbildung: Im ersten Jahr musste ich nur auswendig lernen. Flugrouten, wie man das Wetter für anstehende Reisen analysiert und wo welche Orte der Welt liegen. Das war soooo langweilig! Die beiden nächsten Jahre waren dann endlich genau mein Ding! Wir durften das ausüben, was wir vorher theoretisch gelernt haben. Ich durfte das erste Mal einen Schlitten ziehen (gar nicht so einfach synchron zu den anderen Rentieren zu ziehen) und wie man richtig abbremst ohne direkt alle Geschenke zu verlieren. Das hat mir sehr viel Spaß gemacht und ich habe in der Zeit sehr viel gelernt.

    Letzte Woche war es dann endlich soweit: Ich durfte das allererste Mal dabei sein als der Joulupikki und die Tonttus Geschenke an die großen und kleinen Menschen verteilt haben. Die Tonttus basteln das ganze Jahr Geschenke und backen Weihnachtsplätzchen, damit das nicht alle Menschen alleine machen müssen. Ich war so aufgeregt bevor es los ging, so aufgeregt, dass ich nicht mal frühstücken konnte. Ich konnte alles, das ich in meiner Ausbildung gelernt habe, problemlos umsetzen und ich fühlte mich, als wäre ich genau für diesen Job geboren worden. Was für ein glückliches Schicksal. Manche Rentiere stehen ja in Zoos oder sonst wo rum und dürfen nie ihrer Bestimmung nachkommen. Ich frage mich, ob denen nicht irgendwas Wichtiges im Leben fehlt.


    Ihr könnt euch gar nicht vorstellen was das für ein großartiges Gefühl ist voller Vorfreude auf all die glücklichen Gesichter seine Arbeit auszuüben. Ich fühlte mich die ganze Zeit als würde ich von innen heraus leuchten, ein Wunder, dass wir nicht von einigen naseweisen Kindern erwischt wurden. Viele glauben ja immer noch, dass der Joulupikki alles allein schafft. Dieses tolle Gefühl wurde von all den schönen Träumen verstärkt, die ich von denen spüren konnte, die wir beschenkt haben. Ihr müsst wissen, dass viele Menschen zur Weihnachtszeit glückliche Träume haben. Viele Erwachsene wollen das aber nicht wahr haben und verdrängen diese Träume. Irgendwie schade, denn das würde ihnen wahrscheinlich viel Stress aus der Weihnachtszeit nehmen, wenn sie wüssten, dass jeder Mensch fähig ist Glück im Überfluss zu empfinden. Rudolph meint, dass ich zu denen gehöre, deren Berufung das Geschenke austragen ist. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich das nie verstanden. Jetzt weiß ich genau, was er meint.


    Ich hoffe, dass ich euch von diesem besonderen und glücklichen Gefühl , das ich euch hier geschildert habe, ein wenig abgeben konnte. Ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, dass jeder Weihnachten so sehr liebt wie meine Freunde und ich. Genießt die schöne Adventszeit und denkt dran: Im nächsten Jahr könnte ich derjenige sein, der euch die Geschenke bringt. Ich hoffe, ihr verschwendet dann einen kleinen Gedanken an mich.


    Ich wünsche euch allen ein ganz besonders tolles und entspanntes Weihnachten.


    Euer Keijo

  • Der 14. Dezember von Tilia Salix



    Kamingeschichten


    Den Rentieren war es schon länger aufgefallen und auch ihm selbst hätte es etwas früher bewusst werden können, wie er sich eingestehen musste. Angefangen hatte es mit einem gelegentlichen Keks, hier und da, dazu ein Glas Milch oder Kakao. Die Arbeit war anstrengend: die Tiere wollten versorgt sein mit Futter, Pflege und Streicheleinheiten, die Ställe mussten ausgemistet werden, dazu die Jahresplanung, der Einkauf, das Planen der Touren, das rauf und runter Klettern, schweres Heben und Tragen, die langen Reisen – nein, das war wahrlich kein Zuckerschlecken und wer konnte es ihm da verdenken, dass er sich dann und wann den Arbeitstag versüßte.

    Natürlich wurde das „Dann und Wann“ in den letzten Jahren immer häufiger. Auch das konnte er schwerlich abstreiten. Und wenn ihm die Leute ein Stück Kuchen oder ein leckeres Sandwich anboten – wie konnte er da nein sagen? Das wäre doch im höchsten Maße unhöflich und respektlos gewesen, und so bemühte er sich stets, die ihm zugedachten Aufmerksamkeiten auch entsprechend zu genießen. Und außerdem hatte er dann, als ihn an beinahe jeder Station eine kleine kulinarische Überraschung erwartete, schließlich den rettenden Einfall, von den meisten Leckereien nur einen Bissen zu nehmen. Ging ja auch viel schneller so – immerhin war seine Tour lang und er hatte eigentlich immer die Zeit im Nacken. Die Hosen spannten trotzdem, ja, doch, das hatte er durchaus schon bemerkt. Aber, verflixt und zugenäht, es war nun doch wirklich nicht seine Schuld, dass Großbritannien mit seinen dämlich-engen Kaminen erst am 25. Dezember dran kam, verdammich noch mal!


    Auf dem Dach begannen die Rentiere, ungeduldig mit den Hufen zu scharren. Er hätte schon längst wieder zurück sein müssen, dabei war er noch nicht mal dazu gekommen, die Strümpfe unten am Kaminsims zu füllen. Genau genommen war er noch nicht einmal bis nach unten gekommen. Er steckte fest – irgendwo zwischen Dachboden und erstem Stock, genau konnte er es nicht sagen. Wenn er nach oben schaute, und ihm die rote Mütze dabei nicht ins Gesicht rutschte, konnte er ein Stück vom Mond und den klaren Sternenhimmel sehen. Immerhin – gutes Wetter, das war selten auf seiner Tour durch England. Half ihm jetzt natürlich nicht weiter. Während er noch missmutig nach oben starrte und sich die Mütze zurechtrückte, schob sich ein gehörnter Schatten vor den Mond. Der Schatten schnüffelte schnaufend und schnaubte dann ungläubig.


    „Ja verflixt, du Schlauberger, das hab‘ ich auch schon gemerkt, dass das jetzt ungünstig ist!“ fauchte der Weihnachtsmann. Der Schatten am Schornsteinende schüttelte das gehörnte Haupt, begleitet von einem feinen Glockenklingeln. Erneutes Schnauben.


    „Nein, nach oben komm ich auch nicht – glaubst du denn, ich sitz hier seit 10 Minuten im Kamin, weil’s so schön kuschelig ist?!“


    Mit einem leisen Röhren entfernte sich der Schatten vom Kamin, und der Weihnachtsmann hatte wieder freien Blick auf den Mond, aber der interessierte ihn gerade herzlich wenig. Die Glöckchen entfernten sich, und das war das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen konnte. Hektisch versuchte er sich zappelnd nach oben zu schieben und bewegte sich doch keinen Millimeter.


    „Anton! ANTON! Verdammt, halt! Wag es ja nicht! ANTON – ich warne dich! BLEIB HIER, DU HORNOCHSE!“


    Mit puterrotem Gesicht starrte der Weihnachtsmann in den klaren Himmel und lauschte in die Stille. In weiter Ferne bellte ein Hund.

    Eine Eule schuhute in den Wind.


    Das schrille Geschrei zweier zankender Katzen zerriss die Ruhe.


    DA! Endlich! Das feine Klingeln zarter Glöckchen …


    „AAAANTON! Du saudämliches Rentier, ich warne dich, wehe du hast - “


    Ein goldener Lockenkopf schob sich vor den Schornsteinausgang. Ein unwirklicher Glanz lag im hellen Mondlicht auf den Locken und einen Augenblick sah es so aus, als schwebte ein Heiligenschein über dem Kinderkopf.


    „He, alter Mann, steckste fest?“


    Der Weihnachtsmann verdrehte die Augen. Das war echt das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen konnte.


    „Toll, Anton! Jetzt weiß also auch das Christkind, dass ich hier fest stecke. Klasse. Dann kannst du ja eigentlich noch beim Nikolaus und beim Osterhasen vorbei schauen und dann weiß es auch schon bald die ganze Welt! Ganz großes Kino, Anton, ehrlich!“


    „Nun sein mal nicht so unfreundlich, alter Mann! Kann ja der Anton nichts dafür, dass du da drin festhockst! Hättste man lieber nicht so viele Plätzchen genascht!“


    „Ja großartig! Das ist genau die Hilfe, die ich mir von einem neunmalklugen

    Naseweis erhofft hatte!“


    „Wenn’s dir lieber ist, dann geh ich wieder. Soll der Anton doch die Befana holen, damit sie dir hilft!“


    „Ja, verflixt, ICH KANN ABER GERADE GAR NICHT ERKENNEN, DASS DU MIR IRGENDWIE WEITERHILFST!“ Brüllen half auch nicht, aber immerhin fühlte sich der Weihnachtsmann danach ein wenig besser.


    „Fühlst du dich jetzt besser?“


    „Orrr!“


    Der Lockenkopf verschwand vom Schornsteinende, die Glöckchen bimmelten hektisch und Anton schnaubte. Dann klatschte ein Seil auf die Weihnachtsmannmütze.


    Der Lockenkopf schaute wieder in den Schornstein herunter.


    „Kannst du das Seil greifen, alter Mann?“


    Grummelnd griff der Weihnachtsmann zum Seil. Zufrieden nickte das Lockenköpfchen, verschwand und kurz darauf schnaubte und scharrte es ganz kräftig auf dem Dach. Im Kamin hingegen tat sich gar nichts. Der Weihnachtsmann fluchte wie ein LKW-Fahrer im Stau vor dem Elbtunnel.


    „Zieh den Bauch ein!“ befahl das Lockenköpfchen mit zartem, aber bestimmten Stimmchen.


    Der Weihnachtsmann zog den Bauch ein. Und hielt die Luft an. Und klammerte sich am Seil fest. Und verwünschte jedes Plätzchen, das er in den vergangenen Stunden von bereitgestellten Tellerchen genascht hatte und jeden Schluck Milch, den er dazu getrunken hatte. Und bewegte sich. Nicht.


    „Es bringt nichts“, keuchte er enttäuscht nach oben. „Da bewegt sich nichts!“


    Das Lockenköpfchen erschien rechts am Schornstein, der gehörnte Rentierkopf links. Beide schauten sie auf den traurigen Weihnachtsmann herunter, der immer verzweifelt zappelnd versuchte, wenigstens den festgeklemmten Sack loszubekommen. Leise tuschelten sie miteinander. Dann verschwand zuerst der gehörnte, dann der gelockte Kopf.


    Dem Weihnachtsmann wurde es etwas unwohl. Die beiden heckten da was aus, und er war sich keineswegs sicher, dass es ihm gefallen würde.


    Auf dem Dach scharrte es erneut. Die Glöckchen bimmelten. Es raschelte.


    „He ihr zwei! Was macht ihr da? Ihr holt aber auf gar keinen Fall die Befana!

    Hört ihr! Die alte Hexe will ich hier nicht sehen! Verstanden? Das könnt ihr mir nicht antun, hört ihr mich!“


    Von rechts erschien der gehörnte Rentierkopf, links der Lockenkopf. Beide schauten sie auf den ängstlichen Weihnachtsmann herunter, der das Zappeln mittlerweile aufgegeben hatte.


    „He, alter Mann! Halt dir mal die Augen zu!“


    „Eh – was?“


    „Nun mach schon!“ Schnauben. Ungeduldiges Rascheln vom Schornsteinrand.


    Zögernd hielt sich der Weihnachtsmann mit beiden Händen die Augen zu.


    Ein leises Klirren, dann ein samtiges Platschen. Eine Duftwolke ungeahnten Ausmaßes traf die unvorbereitete Nase des Weihnachtsmanns. Erschrocken riss er die Augen auf.


    „Was zur Höl-“ Weiter kam er nicht, denn mit einem schmatzenden Schlurfen begann er langsam, im Kamin nach unten zu rutschen. Unten angekommen, hatte er einige Schwierigkeiten, auf die Füße zu kommen, so glitschig war alles. Trotzdem schaffte er es, die Weihnachtssocken in Rekordgeschwindigkeit zu füllen. Für den Aufstieg brauchte er dann noch einmal die Hilfe vom Christkind und Anton. Mit vereinten Kräften zogen sie den von Kopf bis Fuß gut eingeölten Weihnachtsmann nach oben. Das Christkind verabschiedete sich und widmete sich wieder seinen eigenen Verpflichtungen. Der Rest der Tour verlief dann ohne Zwischenfälle.


    Und wenn ihr Weihnachten nach britischem Brauch am 25. Dezember feiert und euch am Morgen ein intensiver Duft auffällt, der euch irgendwie an das Lieblingsbadeöl eurer Mutter erinnert, nur dass das nicht ganz so penetrant stinkt, dann, liebe Büchereulen, ja dann ist ganz sicher der Weihnachtsmann bei euch gewesen!

  • Der 15. Dezember von Sinela



    Der Streuner


    „Verschwinde!“

    Der Mann trat nach dem struppigen Hund und traf ihn an der Hüfte. Aufjaulend humpelte der Streuner so schnell es ihm möglich war von dannen.

    „Und lass dich hier nie wieder blicken!“, rief ihm der Mann noch hinterher, bevor er in seinem Laden verschwand. So etwas würde er gar nicht erst einreißen lassen, sonst hätte er bald mehr Hunde als Menschen als Kundschaft. Zufrieden mit sich ging er hinter die Verkaufstheke und fragte den nächsten Kunden:

    „Was darf es denn sein? Ein Stück Sauerbraten vielleicht?“


    Der Streuner war nicht weit gelaufen, dazu schmerzte ihn die Hüfte zu sehr. Im nahen Park lag er unter einem Busch. Seine Rippen standen weit hervor, er war mager, erschreckend mager sogar. Er wusste, seine Zeit würde bald kommen, lange würde er nicht mehr durchhalten. Sein Magen war ein einziges großes Loch, seit er vor vier Tagen die Maus gefangen hatte, hatte er nichts mehr gefressen. Er schloss die Augen, schlief ein und träumte von früher.


    „Hey Max, komm her!“

    Freudig wedelnd rannte der Mischling zu seinem Herrchen und legte den Tennisball vor ihm ab. Erwartungsvoll schaute er ihn dann an.

    „Ach, du willst, dass ich ihn noch einmal werfe? Na gut, das ist aber wirklich das letzte Mal, dann müssen wir nach Hause.“

    Manfred Brundelius hob den Ball auf, holte mit seinem Arm weit aus und warf ihn mit so viel Schwung, dass er in einem großen Bogen weit in die Wiese hinein flog. Max rannte mit Feuereifer hinterher, schnappte den Tennisball aus der Luft und rannte zurück zu seinem Herrchen.

    „Nein, jetzt ist Schluss, wir müssen zurück, Allina wartet bestimmt schon.“

    Der Mann bückte sich, steckte die kleine grüne Kugel in seine Jackentasche und nahm den Hund an die Leine.

    „Komm, wir machen uns auf den Heimweg.“

    Mit großen Schritten ging Herr Brundelius hinunter zur Straße, Max lief brav neben ihm her.


    „Ich bin der glücklichste Mensch auf Erden“, sagte Manfred zu der jungen Frau, die neben ihm im Bett lag. Diese schmiegte sich an ihn und begann seinen Bauch zu streicheln, um dann mit ihrer Hand weiter nach unten zu rutschen. Beider Atem ging schneller, die Herzen hämmerten im Gleichtakt und kurz darauf vereinigten sich ihre Körper. Genau in diesem Moment kratzte Max an der Türe und fing zu bellen an.

    „Das kann doch jetzt nicht wahr sein“, rief Allina und stieß Manfred von sich.

    „Was soll das denn jetzt werden? Ignoriere ihn doch einfach!“

    „Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn der Köter so einen Affenzirkus macht. Ich halte das nicht mehr lange aus!“

    Manfred setzte sich auf. Er verstand seine Freundin einfach nicht. Als sie hier eingezogen war, wusste sie von Max und er dachte eigentlich, sie hätte Hunde gern. Da war er wohl einem Irrtum erlegen.

    „Ganz wie du willst.“

    Er zog sich an, öffnete die Schlafzimmertüre. Max war total aus dem Häuschen, sprang an ihm hoch und jaulte vor Freude.

    „Komm, wir gehen spazieren“, sagte sein Herrchen zu ihm und schlug die Türe hinter sich zu.


    Die Sonne brannte von einem strahlend blauen Himmel. Das Kalenderblatt erzählte einem, dass der August Einzug gehalten hatte. Manfred und Allina trugen die gepackten Koffer zu ihrem Wagen, während Max im Garten saß und ihnen aufmerksam zuschaute.

    „Komm Max, wir fahren los.“

    Kräftig wedelnd lief der Hund zum Auto, stieg hinten ein und legte sich – so wie er es gelernt hatte – gleich hin. Herr Brundelius setzte sich hinter das Steuer und fuhr los. Der Flughafen, von dem aus sie in den Urlaub fliegen wollten, war etwa 200 km weit von ihrem Wohnort entfernt, da wären sie eine Weile unterwegs. Und dann war da noch – nein, er wollte nicht dran denken, es brach ihm sonst das Herz.


    „Fahr hier runter, wir sind fast da. Es ist an der Zeit, sonst verpassen wir noch unser Flugzeug.“

    Manfred setzte den Blinker, verließ die Autobahn und bog auf die Landstraße ab. Nach mehreren Kilometern wies Allina ihn an, auf den kleinen Feldweg abzubiegen, umzudrehen und anzuhalten.

    „Ich kann das nicht tun, ich kann es einfach nicht“, schluchzte Manfred. „Er vertraut mir, ich kann ihn doch nicht verraten!“

    „Du weißt, was passiert, wenn du es nicht machst. Du musst dich entscheiden – entweder ich oder der Köter.“

    Manfred drehte sich zu Max um. Dieser hatte sich aufgesetzt und schaute interessiert nach draußen.

    „Wir hätten ihn ins Tierheim bringen sollen, das wäre das einzig Richtige gewesen.“

    „Hast du sie noch alle? Weißt du, wie viel Geld die für einen abgegebenen Hund haben wollen? Die Kohle können wir im Urlaub viel besser gebrauchen. Nun schmeiß den Köter endlich raus! Es wird ihn schon jemand finden und dafür sorgen, dass er ins nächste Tierheim gebracht wird.“

    Schweren Herzens stieg Manfred aus. Nie hätte er für möglich gehalten, dass er so etwas tun würde. Nur Verachtung hatte er für die Menschen, die Tiere aussetzten, übrig gehabt. Er müsste sich für Max entscheiden, Allina den Laufpass geben, aber er ging einfach nicht. Ohne sie, ohne ihre Liebesspielchen, den aufregenden Sex, den er mit ihr hatte, konnte er nicht mehr leben. Manfred atmete tief ein und aus, ging dann um das Auto herum, öffnete die hintere Türe, nahm Max das Halsband ab und ließ ihn hinaus. Der Mischling lief sofort zu einem kleinen Busch, der am Wegrand stand, hob sein Bein und kam dann um Auto zurück. Allina reichte ihrem Freund einen Tennisball durch das geöffnete Fenster des Wagens und Manfred warf ihn ganz weit ins Feld hinaus. Max rannte sofort hinterher.

    „Los, schnell jetzt!“

    „Ich kann das nicht tun! Es tut mir leid, aber es geht einfach nicht!“

    „Das gibt es jetzt doch nicht!“

    Die junge Frau öffnete die Beifahrertür und stieg aus.

    „Los, setz dich ins Auto, ich erledige das.“

    Der Mann ließ den Kopf hängen und setzte sich auf Allinas Platz. Er warf keinen Blick mehr nach draußen, sondern ließ seinen Tränen freien Lauf. Allina hatte unterdessen den Ball, den Max in der Zwischenzeit zurückgebracht hatte, erneut geworfen und der Rüde rannte ihm abermals hinterher. Schnell lief Allina um das Auto herum, warf sich regelrecht auf den Fahrersitz, startete den Wagen und gab Gas. Eine Staubwolke hinterlassend bog sie auf die Landstraße ein und bald war das Fahrzeug nur noch ein kleiner Punkt am Horizont. Max indessen verstand die Welt nicht mehr. Wo war sein Herrchen? Ratlos stand er auf dem Feldweg, der Ball lag unbeachtet vor ihm im Staub.


    Der Herbst war sonnig und mild gewesen, doch pünktlich zum meteorologischen Winteranfang war es kalt geworden und der Deutsche Wetterdienst sagte für die kommenden Tage starke Schneefälle voraus. Max war immer noch alleine unterwegs. Viele Kilometer war er seit dem Sommer umhergewandert, immer auf der Suche nach seinem Herrchen. Er hatte sich mehr schlecht als recht von Mäusen, Hasen, Äpfeln und ab und zu mal einen Napf Nassfutter, das jemand für die Igel hinausgestellt hatte, ernährt. Er war dünn geworden, sein Fell war verfilzt und voller Kletten. Zweimal hatte man versucht ihn einzufangen: Beim ersten Mal war er vertrauensvoll auf die Menschen zugegangen, aber dann er war voller Panik geflüchtet, als man ihn mit einem Kescher fangen wollte; beim zweiten Mal hatte man ihn mit Gewalt festhalten wollen und er konnte sich nur befreien, weil er um sich gebissen hatte. Seither mied er die Menschen, er blieb auf den Feldern und übernachtete in verfallenen Scheunen oder, wenn es nicht anders ging, im Freien. Jetzt aber war er am Ende seiner Kräfte, weshalb er auf wackeligen Beinen langsam durch den kleinen Ort schlich. Sein Hunger trieb in zu der Metzgerei, es duftete dort so verlockend, dass er seine Vorsicht vergaß - und mit Schmerzen dafür bezahlte.


    Melanie Binder verließ das Kaufhaus und seufzte. Es war erneut später geworden als ursprünglich geplant. Es war mal wieder die Hölle los gewesen, alle Welt wollte Weihnachtsgeschenke kaufen, da hatte sie nicht pünktlich Feierabend machen und gehen können. Die junge Frau lief los und setzte schnell die Kapuze ihres Mantels auf, denn es hatte angefangen zu regnen.

    „Na klasse“, murmelte sie in ihren Schal, „das hat mir gerade noch gefehlt zu meinem Glück“. Während sie durch die dunklen Straßen, die verlassen in der Winternacht lagen, ging, frischte der Wind auf und der kalte Regen wurde stärker. Als sie am Eingang des Parks vorbeikam, blieb sie stehen und überlegte. Sie vermied es eigentlich, im Dunkeln durch den Park zu gehen, aber sie sparte damit fast eine Viertelstunde. Und bei dem Wetter würde doch bestimmt sonst niemand dort unterwegs sein. Melanie gab sich einen Ruck und ging mit selbstbewussten Schritten den Weg entlang, der sie mitten durch die Grünanlage führte. Nach fünf Minuten sah sie bereits die kleine Straße am anderen Rand des Parks, als es geschah – es raschelte in dem Gebüsch neben dem Weg, dann wurde sie von hinten von zwei starken Armen umfasst und eine Hand hielt ihr den Mund zu.

    „Keinen Mucks, oder du bist tot.“

    Melanie zitterte vor Angst: Das konnte nicht sein, so etwas konnte doch nicht ihr passieren!

    „Wenn du schreist, bist du tot, hast du das kapiert?“

    Die junge Frau nickte langsam, worauf der Mann seine Hand von ihrem Mund nahm.

    „Komm mit, wir wollen ein wenig Spaß haben.“

    „Nein, bitte nicht! Ich gebe Ihnen alles, was ich habe, aber tun sie mir nicht weh.“

    „Keine Sorge, ich werde dir nicht weh tun, du wirst es genießen“, sagte der Mann selbstgefällig.

    „Und jetzt komm!“

    Melanie war wie paralysiert, zu keiner Gegenwehr fähig, sodass der Mann keine Mühe hatte, sie hinter sich her in Richtung einer großen Tanne, unter der es relativ trocken war, zu zerren.

    „Los, zieh dich aus!“

    Nun erwachte doch ein wenig Widerstandsgeist in Melanie und sie versuchte den Mann mit ihrer Handtasche zu schlagen. Doch dieser hatte aufgepasst, versetzte ihr eine Ohrfeige, nahm die Handtasche und warf sie in ein Gebüsch in der Nähe. Ein leises Jaulen war die Folge. Doch der Mann ignorierte dieses und wandte sich wieder der jungen Frau zu.

    „Ausziehen, ich sage es nicht noch einmal!“


    Der Mischling jaulte erschreckt auf, als die Handtasche in das Gebüsch, unter dem er geschlafen hatte, fiel und ihn am Kopf traf. Zum Glück war der Aufprall nicht stark, da sie von den Ästen abgebremst worden war. Max hörte, dass Menschen in der Nähe waren und verharrte regungslos. Als er die Panik in der weiblichen Stimme hörte, wusste er instinktiv, dass etwas nicht stimmte. Der Wachhund in ihm machte sich bemerkbar und er versuchte zu bellen. Aber es kam nur ein etwas heiseres leises „Wuff“ aus seiner Kehle, das außer Max bestimmt niemand gehört hatte. Der Rüde nahm all seine verbliebene Kraft zusammen und versuchte es noch einmal. Und diesmal gelang es, ein lautes und tiefes Bellen erfüllte die Luft und erreichte auch das Ohr des Vergewaltigers. Er ergötzte sich gerade an dem nackten Körper der jungen Frau, die zitternd auf dem Boden lag. Der Mann drehte sich um und sah, dass ganz in der Nähe ein Busch wackelte und ein großer Hundekopf zwischen den Zweigen erschien. Ein erneutes Bellen sorgte dafür, dass er seine Hose blitzschnell hochzog und sich ohne noch einmal umzudrehen weglief. Max kroch indessen mit letzter Kraft zu der jungen Frau und legte sich neben sie. Er wusste, sie brauchte Hilfe, doch er konnte ihr außer etwas Wärme nichts mehr geben.


    Die große Nordmanntanne, die im Wohnzimmer stand, war festlich geschmückt. Christbaumkugeln in Rot und Gold hingen ebenso an den Zweigen wie kleine Engel; LED-Kerzen sorgten für Licht, und auf der Spitze thronte ein großer Stern. Vor dem Baum lagen viele Geschenke, alle unterschiedlich groß und wunderschön eingepackt. Am Klavier, das gegenüber von dem Baum stand, saß eine junge Frau und spielte weihnachtliche Lieder; ihre Eltern standen neben dem Instrument und sangen zu ihrem Spiel.

    „Wuhuhuhuuuuu!“, erklang es da vom Sofa und alle fingen an zu lachen.

    „Ich glaube, Niko gefällt nicht, was wir hier fabrizieren“, sagte Melanie. Sie drehte sich um und schaute den Hund liebevoll an.

    „Tja, da muss er sich dran gewöhnen, wenn er hier bleiben möchte.“

    „Paps, du weißt genau, dass ich Niko nie wieder hergeben werde! Wäre er an diesem Abend nicht gewesen, wer weiß, ob ich dieses Weihnachtsfest noch erlebt hätte.“

    Der ältere Mann strich seiner Tochter sanft über das Haar und flüsterte ergriffen:

    „Das weiß ich doch. Ich bin so dankbar, dass er damals im Park war.“

    „Der arme Kerl war ja halbtot, als ihr gefunden wurdet“, sagte Melanies Mutter. „Der Tierarzt meinte, noch eine Nacht hätte er im Freien nicht überlebt.“

    „Es war wirklich ein harter Kampf um sein Leben, das stimmt, aber jetzt ist alles wieder in Ordnung mit ihm. Niko ist so ein lieber Kerl, ein Traum von einem Hund, und ich werde ihn nie wieder hergeben!“

    „Das verstehe ich voll und ganz und auch wir lieben Niko sehr. Wir werden ihn verwöhnen, solange er lebt, hat er dich doch vor diesem Unhold gerettet. Jetzt aber genug davon, lasst uns weitersingen.“

    Das Klavier erwachte erneut zum Leben und Melanies Eltern sangen die erste Strophe von „Stille Nacht, heilige Nacht“ - und Niko sang fröhlich sein „Wuuhuuhuu“ dazu.

  • Der 16. Dezember von Rumpelstilzchen



    Himmelspforte, 24. Dezember 2020


    Das Telefon klingelt und klingelt. Der diensthabende Engel nimmt den Hörer genervt ab. „Ja, hier ist das Büro des Weihnachtsmanns, Engel Aloysius am Apparat…Was? Sind Sie wahnsinnig? ...Für wen halten Sie sich, Himmelkreuzdonnerwetternochmal.“ Er wirft den Hörer auf die altmodische Gabel und rauft sich verzweifelt die Haare, sodass sein Heiligenschein verrutscht und ganz schief neben dem Kopf hängt. Vielleicht liegt das aber auch am Fluchen. Heiligenscheine können da recht eigen sein.


    Was tun? Eine schlimmere Katastrophe ist kaum denkbar. Da klingelt das Telefon schon wieder.


    „Ja, hier Engel Aloysius, was ist schon wieder?“ schnauzt er in den Hörer. Er hört einen Moment zu und wird blass und blasser. „Ja doch, ich verbinde.“

    Aloysius tippt eine Zahlenkombination ein und auf der anderen Seite wird der Hörer abgenommen. „Ja, hier ist der Weihnachtsmann. Ich wollte doch nicht gestört…Was? Wer ist da? Was für ein Ding? Infektionsschutzgesetz? Coronaverordnung? Keine touristischen Reisen?“


    Im Gegensatz zum Engel Aloysius wird der Weihnachtsmann knallrot im Gesicht. Er stampft durch den Raum wie eine Herde Nashörner und ist ungefähr ebenso wütend. „Ich bin der Weihnachtsmann und nicht einer von ihren Paragraphenreitern. Sie werden den Erdenkindern doch nicht noch die Weihnachtsfreude in diesem Jahr nehmen wollen. Nein, ich bin keine Virenschleuder und auch kein Superspreader, was für eine Unverschämtheit. Was ist das überhaupt? Wie? Ich kann mich beschweren? Da können Sie sicher sein. Was? Ihr Chef? Der interessiert mich nicht. Ich wende mich an meinen Chef. Und das sofort und dann gnad ihnen…“ Die letzten Worte brüllt der Weihnachtsmann. Immerhin legt er den Hörer ganz sachte aufs Telefon und stürmt wütend aus dem Raum. Die Tür kracht ins Schloss, dass der Putz von der Wand rieselt und man hört ihn viele viele Treppenstufen hinauf trampeln.


    Nach einigen Minuten kommt er zurück, ganz leise schließt er die Tür, macht es sich auf seinem Lehnstuhl bequem und grinst voller Vorfreude. Und da klingelt auch schon das Telefon. „Jaaa, der Weihnachtsmann höchstpersönlich. Ach, der Herr Ministerpräsident… Auch höchstpersönlich… Sooo, ein bedauernswerter Irrtum…Gar nicht zuständig?...Das will ich meinen…Und für die Zukunft können Sie sich merken, dass wir Immunität genießen. Vor allem und jedem. Seuchen, Heuschrecken und den gesamten Gesetzen und Verordnungen. Genau, sämtliche himmlische Heerscharen. Alle, ohne Ausnahme. Na dann: Frohe Weihnachten.“


    Er wirft sich den warmen Mantel um, rückt dem Engel Aloysius den Heiligenschein zurecht, klopft Rudolf dem Rentier auf den Rücken und besteigt den schon angespannten Schlitten.


    Und so können wir Menschenkinder auch in diesem Jahr auf ein wenig Weihnachtsfreude hoffen.

  • Der 17. Dezember von imandra777



    Kinderaugen


    Leuchtende Kinderaugen,

    manchmal auch genervt,

    aber immer motiviert,

    über bunten Masken.


    Neugierig sehen sie sich um,

    sehen die neuen Räume,

    die neuen Sitznachbarn,

    die neuen Lehrer und Fächer.


    Begeistert lernen sie,

    verlangen nach Hausaufgaben,

    genießen den Austausch,

    wollen gehört werden.


    Die akzeptieren sie,

    die Krone dieser Zeit,

    sie leben tagtäglich damit,

    die Maskierung natürlich.


    Sie basteln Schneeflocken,

    schreiben und lesen Märchen,

    musizieren voller Spaß

    trotz kältegeprüfter Hände.


    Vor Weihnachten denken sie

    aneinander und bringen

    Wichtelgeschenke und kleine

    Verpackte Süßigkeiten.


    Leuchtende Kinderaugen,

    mit Maske und Teams

    auf der neuen Schule

    und sie blühen auf.


    Leuchtende Kinderaugen,

    eine Hälfte im Raum,

    die andere bei Teams,

    sie winken sich freudig zu.


    Ihre leuchtenden Augen

    in der Kronenzeit

    lehrt die Erwachsenen

    Lebenslust und Genügsamkeit.

  • Der 18. Dezember von Tante Li



    EW


    Eingebettet in himmlische Klänge schwebte das Wort in den Schallwellen durch die Nacht. Nur ein Mensch hörte es. Da drang es durch den Gehörgang mittels Hammer, Amboss und Steigbügel in das Bewusstsein ein. Dort assoziierte es Begriffe wie Freude, Liebe und Menschlichkeit.


    Diese guten Gedanken lösten glückliche Gefühle aus und ergossen sich mit Hilfe von Endorphinen in die Blutlaufbahn. So reiste das Wort durch den ganzen Körper, zwischendurch mit Sauerstoff aus der Lunge erfrischt, bis es sich in einem Eierstock der jungen Frau niederließ.


    Eine Weile beobachtete es die Bildung der Eier wohlwollend mit seinem allumfassenden Verständnis. Dann heftete es sich an ein besonders schönes, reifes Ei und begleitete es sorgsam durch den Eileiter. Es initiierte eine erste Zellteilung, wo die Erbinformation kopiert wurde und variierte sie nur im X-Chromoson, so dass ein Y-Chromoson entstand.


    Dann ließ es der naturgegebenen Entwicklung ihren Lauf, durchfloss nur absichernd im Blutkreislauf die Körper von Mutter und Sohn. Schließlich ließ sich das EW mit kreativen Gedanken im Gehirn des Kindes nieder und bereitete seinen wichtigen Auftritt vor.


    Ein Erleuchteter, der Johannes genannt wurde, hat später darüber geschrieben:


    1 Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.

    2 Dasselbe war im Anfang bei Gott.

    3 Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.

    4 In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.

    5 Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.

    :

    14 Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, ...


    In diesem Sinne wünsche ich allen, dass sie sich nicht von der Finsternis dieser Tage ergreifen lassen und ein schönes, freud- und liebevolles Fest feiern können.


    Eure Tante Li

  • Der 19. Dezember von polli



    Ein Weihnachtsmärchen


    Es war einmal ein kleines Land, das von einem König namens Otto regiert wurde. Er war dafür bekannt, dass er streng, ernst und geradlinig war. Und er verabscheute jeglichen Schnickschnack. Wie das oft so ist, war seine Frau Regine das ganze Gegenteil von ihm. Sie war nachsichtig gegenüber den Missgeschicken der Dienerschaft und sie war von heiterem Gemüt. So sang und trällerte sie den ganzen Tag, während sie ihrer Lieblingsbeschäftigung nachging: Sie schmückte und dekorierte nach Herzenslust sämtliche Räume des Königspalastes und wenn sie damit fertig war, fing sie wieder von vorne an.


    Jetzt in der Adventszeit glitzerte und funkelte es im Königshaus herrlicher denn je. Die Miene des Königs verfinsterte sich, als sein Blick auf den wunderschön dekorierten Esstisch fiel. Vor seinem Platz hatte Regine mit Zuckerguss und Leckereien eine Miniatur-Schneelandschaft aufgebaut, in deren Mitte acht Rentiere aus feinstem Silber einen Schlitten zogen, auf dem sich goldene Geschenke türmten. „Muss das Zeugs hier herumliegen?“, schimpfte der König. „Ich sehe vor lauter Weihnachtskram mein eigenes Essen nicht mehr. Schafft das alles weg und zwar flott!“ Ärgerlich schlug er mit der Faust auf den Tisch. Das kleinste der Rentiere fiel um und streckte die Beine von sich.


    „Bist du denn gar nicht in Weihnachtsstimmung, mein Lieber? Freust du dich denn gar nicht? Geht dir nicht das Herz auf, wenn du all diesen schönen Schmuck erblickst?“ So fragte Regine.

    „Nein, ganz und gar nicht. Das Regieren ist ein ernstes Geschäft. Meine Aufgaben als König kann ich nur erfüllen, wenn hier kein Durcheinander herrscht. Aufgeräumter Tisch, aufgeräumte Gedanken. Ich rate dir dringend, dieses Motto ebenso zu beherzigen wie ich. Und jetzt ist Schluss mit diesem Unsinn, ich werde den Bediensteten den Befehl geben, sämtlichen Schnickschnack aus dem Königshaus zu verbannen“, sagte er streng.

    „Ich verstehe“, sagte Regine traurig. Dann verließ sie leise den Raum.


    Die nächsten Mahlzeiten verliefen zur vollen Zufriedenheit des Königs. Der Esstisch war schmucklos, nichts Glitzerndes im Raume lenkte ihn ab und es war endlich still, so dass er ungestört über seine königlichen Geschäfte nachsinnen konnte. Leere und Stille herrschten in jedem Raume, den er zum Regieren nutzte. Herrlich. Obwohl, irgendetwas war nicht in Ordnung. Regine war nicht an ihrem Platz. Nicht beim Frühstück, nicht beim Mittagessen und nicht beim Abendessen. Er wies seinen ältesten und vertrauenswürdigsten Berater an, sie zu suchen und herbeizuschaffen. Dieser fand sie in einem kleinen Gemach. Sie saß an einem Holztischchen, vor sich das kleinste der silbernen Rentiere. „Ach, mein liebes Rentier, in diesem Palast ist kein Platz mehr für mich, hier herrscht keine Freude, keine Leichtigkeit. Die Strenge und die Stille hier nehmen mir die Luft zum Atmen. Wenn ich meines Lebens wieder froh werden möchte, muss ich von hier fortgehen. Ich bin hier ebenso überflüssig geworden wie du, mein kleines Rentier. Ob die kleine Hütte im Wald noch steht? Das ist der rechte Platz für mich.“

    Der Berater hatte genug gehört und zog sich zurück, um seinem König Bericht zu erstatten. „Nun, wo ist sie? Hat sie sich geweigert mitzukommen? Ich erwarte, dass bei der nächsten Mahlzeit die alte Ordnung wiederhergestellt ist und Regine an ihrem Platz sitzt. Dies ist ein Befehl!“

    „Mein König, wenn ich erwidern darf —“

    „Schluss, ich möchte keine Erwiderungen hören!“


    Regine blieb verschwunden. König Otto begann, sich insgeheim Sorgen zu machen. Auch stellte er fest, dass er seine Frau und ihre Fröhlichkeit vermisste. Das Regieren fiel ihm unerwartet schwer. Er fühlte sich allein. Fast hätte er den Befehl gegeben, wenigstens ein, zwei der silbernen Rentiere ... Nein, diesen Gedanken beendete er nicht.

    Es vergingen einige Tage, in denen der König bemerkte, dass seine Bediensteten zwar seinen Befehlen gehorchten, aber bei der Verrichtung ihrer Arbeiten recht bedrückt und lustlos wirkten. Auch sein ältester Berater hatte schon lang nicht mehr gelächelt wie manchmal früher, wenn Regine ein Lied sang oder einen Strauß mit Gartenblumen auf den Esstisch stellte. Ach, Regine.

    Als das Regieren gar nicht mehr gelang, fasste der König einen Entschluss und holte seinen Berater herbei. „Ich leide an einer Krankheit, die ich nicht in Worte fassen kann. Ich muss gestehen, dass ich so nicht weiter regieren kann. Deshalb finde für mich den besten und weisesten Heilkundigen in diesem Land. Er soll mich von meinem Leiden befreien.“

    „Es gibt eine weise Person im Wald hinter dem Königspalast. Diese ist in der Lage, sowohl euch von eurem Leiden zu befreien als auch dafür zu sorgen, dass eure Bediensteten ihre Arbeit wieder mit Freude verrichten. Allerdings müsst ihr einen hohen Preis zahlen, wenn sie euch helfen soll.“

    „Die Aussicht auf Heilung ist mir jeden Preis wert. Erkundet, was sie verlangt, und schafft diese Person sofort herbei!“

    „Mit Verlaub, mein König, das geht nicht. Diese Person kann ihre Heilkunst nur ausüben, wenn sie in ihren Handlungen frei und glücklich ist. Mit Befehlen könnt ihr in diesem Fall nichts ausrichten.“

    „Ich bin der König und alle in meinem Reich haben sich meinen Befehlen unterzuordnen. Auch diese Person im Wald! Wenn sie sich nicht befehlen lässt, so legt ihr Ketten an und bringt sie her!“

    „Mein König, wenn ich erwidern darf —“

    Irgendetwas im ernsten Blick des Beraters hielt den König dieses Mal davon ab, ihm das Wort zu verbieten.

    „Mein König, es ist bald Weihnachten. Dies ist nicht das Fest der Macht, der Befehle und der Ketten.“

    „Genug von diesem Weihnachtsgerede! Das muss ich mir jedes Jahr von meiner Frau anhören. Kind in der Krippe, heilige Familie, Engel auf den Feldern. Jeden Tag im Advent erzählt und singt sie davon. Glo-ho-horia, verdammt!“

    Der alte Berater drehte sich wortlos um und trat ans Fenster, um die Schneelandschaft draußen zu betrachten.

    „Was fällt dir ein, mich hier stehenzulassen? Ich befehle dir auf der Stelle —“

    Was nützt einem die Macht, Befehle zu erteilen, wenn niemand da ist, der gehorcht? Der König verstummte und begann zu seufzen. Und als er genug geseufzt hatte, sprach er zu sich:

    „Ich will einen Gang in diesen Wald machen. Wenn meine Befehle nichts ausrichten können, so ist es vielleicht angemessen, der Person ein Geschenk zu machen und sie damit wohlwollend zu stimmen.“

    „Das ist eine gute Idee, mein König“, sagte der Berater. „Wenn ich etwas vorschlagen dürfte ...“


    Wenig später verließ der König den Palast durch eine Hintertür und stapfte durch den Schnee. Er trug ein kleines Paket bei sich, das in rotgoldenes Weihnachtspapier eingewickelt war. Die Oberseite verzierte eine üppige Schleife. Er nahm den Pfad, der zum Wald führte, und folgte den verwitterten Wegweisern zur Hütte. Es dämmerte schon, als er einen Lichtschein sah. Die winzigen Fenster der Waldhütte waren weihnachtlich geschmückt und er glaubte, wie früher eine trällernde Stimme zu vernehmen. Ach, wenn er doch nur sein altes Leben und seine Regine zurückhaben könnte. Und den Weihnachtsschnickschnack und alles, was seine Frau so liebte.


    Natürlich ging die Geschichte gut aus: Die Tür ging auf, der König erblickte Regine und er schwor ihr unter Tränen, dass er ihr nie wieder etwas verbieten oder befehlen würde, wenn sie nur auf der Stelle mit ihm zurück in den Königspalast ginge. Und dann packte Regine das Geschenk aus: Es waren sieben silbern glänzende Rentiere und ein goldener Schlitten. Sie war gerührt. Noch nie hatte ihr der König einfach so ein Geschenk gemacht. Allerdings erinnern wir uns auch, dass der Berater von einem hohen Preis sprach, den der König für seine Heilung zahlen müsse. Und genau das fiel ihm einige Jahre später ein, als er mühsam versuchte, sich auf das Regieren zu konzentrieren, während seine Älteste zusammen mit Regine ein Weihnachtslied trällerte und sein Jüngster unbeholfen nach dem kleinsten der silbernen Rentiere aus der Schneelandschaft griff und es über den Esstisch traben ließ, bis es umfiel und die Beine von sich streckte.

  • Der 20. Dezember von Johanna



    Vier Mädchen und der Weihnachtsmann


    Dieses Jahr war es anders als sonst, Papa hatte einen schweren Unfall gehabt und durfte nicht arbeiten.

    Daher gab es jetzt auch weniger Geld und Mama hatte den vier Mädchen erklärt, daß sie viel sparen müßten und sie deswegen dieses Jahr einfach mal ohne Weihnachtsbaum feiern würden.

    Geschenke gäbe es auch weniger, aber das mache nichts, weil sie ja schon das größte und schönste Geschenk bekommen hätten, da der Papa auf dem Wege der Besserung ist und noch bei ihnen sei.


    Die Mädchen nickten, „ Ja, das wissen wir doch“, meinte Mathilda „Da sind wir auch sehr sehr froh drüber“.

    Auch Madita fiel gleich ein: „ Ich weiß das auch, Papa ist das schönste Geschenk“. Und da die Vierjährige auch Sinn für das Praktische hatte, sagte sie einfach:“ Dann bekommt Papa eben eine rote Schleife umgewickelt und wir sagen ihm, daß er unser Geschenk ist“.


    Nach dem Gespräch nahm Juliana, die immerhin schon 14 war, ihre beiden Schwestern Mathilda und Madita mit einem verschwörerischen Lächeln beiseite, bedeutete ihnen, mit in ihr Zimmer zu kommen und sagte den beiden, sie hätte eine Idee.“Eine etwas verrückte Idee, aber ungewöhnliche Zeiten bedürfen eben besonderer Maßnahmen.“

    Mathilda und Madita waren sofort gespannt, wußten sie doch, daß ihre große Schwester berüchtigt war für gute Einfälle und Ideen.


    „Was haltet ihr davon, wenn wir drei einfach einen Weihnachtsbaum besorgen?“ begann sie auch gleich. „Glücklicherweise wohnen wir ja direkt am Wald und könnten uns nachts, wenn Mama und Papa und Marianne schlafen, einfach raus schleichen, in den Wald gehen und dort einen Tannenbaum absägen. Ich mopse auch vorher Papas Säge, das merkt er gar nicht. Zu dritt schaffen wir das schon, wir sind ja stark“

    „Au ja“, rief Madita sofort, die Abenteuer einfach liebte „Dann schenken wir den Mama und Papa und haben dieses Jahr doch einen Weihnachtsbaum.“

    Mathilda zögerte etwas:“Dürfen wir das denn einfach so?“


    „Ach bestimmt“ beruhigte Juliana sie: „da stehen doch so viele Tannenbäume, das merkt schon keiner, wenn wir unseren dort holen.“


    „Na gut“, meinte Mathilda, die mit ihren sechs Jahren schon etwas vorsichtiger war, „Dann mache ich natürlich mit. Das wird ein Spaß. Wann geht’s denn los?“


    „Am besten in der Nacht vor Heiligabend“, verkündete Juliana.

    Somit war das Abenteuer beschlossen und geplant und die drei Mädchen waren die nächsten Tage sehr aufgeregt und fieberten dem 23.Dezember entgegen


    Als der besagte Tag, bzw. die Nacht, gekommen war, zogen sich die drei Mädchen schnell an und schlichen vorsichtig aus dem Haus.

    Schnell erreichten sie, wie sie ihn nannten, ihren Wald und machten sich auf den Weg.


    Plötzlich knackte es hinter ihnen. Erschrocken blieben sie stehen und drehten sich langsam um.

    „Oh nein, Marianne, wo kommst Du denn her? Du solltest doch im Bett liegen und schlafen“ rief Juliana erleichtert aus, daß es nur ihre kleinste Schwester war, die dort war und kein Gespenst oder Schlimmeres.


    Unbemerkt war Marianne erwacht von dem Getuschel ihrer Schwestern, sah sie sich anziehen und die Treppe nach unten schleichen. Da sie ihnen immer alles nachmachte, krabbelte sie aus ihrem Bett, ging ebenfalls zur Treppe, drehte sich um und robbte rückwärts runter. Laufen konnte die 1,5 Jährige zwar schon aber noch keine Treppen steigen.

    Unten angekommen, sah sie die Drei aus der Hintertür verschwinden und tabbelte ihnen einfach hinterher. Nach dem Motto, was die Drei machen, kann nur Spaß versprechen.

    So war sie also ebenfalls in den Wald gekommen und hatte ihre Schwestern fast erreicht, als sie über einen im Weg liegenden Ast stolperte und hinfiel. Das hatte das unheimliche Knacken verursacht.


    Mathilda rannte zurück und hob Marianne auf, die fröhlich gluckste und „mit, mit“ sagte


    Kurzerhand nahm Juliana sie auf den Arm, nachdem sie Madita die Säge in die Hand gedrückt hatte und meinte:“Sie hat ja noch ihren Schlafanzug an“, zog ihre Jacke aus und wickelte die Kleine darin ein.

    „Und was nun?“ fragte Juliana „bringen wir sie zurück oder nehmen wir sie mit?“

    „Zurückbringen ist zu riskant, da könnten Mama und Papa aufwachen“ meinte Mathilda

    „Ja“, sagte Madita „mitnehmen, ich nehme sie einfach an die Hand“


    Also schlichen sie zu viert durch den dunklen Wald, der ihnen aber keine Furcht einjagte, da sie ihn ja gut kannten. Allerdings wirkte er in der Nacht doch ein klein wenig unheimlich.

    Nach einer Zeit erreichten sie die anvisiert Lichtung, an deren Rand die schönsten Tannen standen.

    Der Mond stand so hell, daß sie die mitgenommenen Taschenlampen ausknipsen konnten.


    Sie wollten sich gerade auf die Lichtung begeben, als sie eine Bewegung und ein leichtes, wie schluchzen klingendes, Geräusch wahrnahmen.

    Auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung sahen sie einen Mann, der zusammengekauert auf einem Schlitten saß, den Kopf in den Händen verborgen hielt und leicht zuckte.


    „Wieso sitzt der Mann denn auf einem Schlitten?“ fragte Mathilda erstaunt “Wir haben doch gar keinen Schnee“

    „Ich weiß wer das ist“, sagte Madita:“Das ist bestimmt der Weihnachtsmann, der kommt doch immer auf einem Schlitten. Und weil er der Weihnachtsmann ist und alles kann, kann er eben auch ohne Schnee Schlitten fahren.“

    Madita sprach so überzeugend, daß Mathilda ihr sofort glaubte und daraufhin sagte:“das weiß ich doch“.

    Juliana war noch skeptisch, war es ihr doch nicht ganz geheuer, hier, in „Ihrem“ Wald einen merkwürdig gekleideten Mann in rotem Mantel mit Kapuze zu entdecken, der so gar nicht ihren Vorstellungen des Weihnachtsmannes entsprach. Der Mann hier sah verzweifelt aus und gar nicht so fröhlich und laut lachend, wie sie ihn sich vorgestellt hatte.


    Da riß sich plötzlich Marianne von Maditas Hand los und rannte auf ihren Beinchen fröhlich glucksend auf die seltsame Erscheinung zu.

    Erschrocken verharrten die drei Schwestern, starr, unfähig, sich zu bewegen.

    Dann stürmten sie los, hinter Marianne her. Diese war bereits am Schlitten angekommen und begann sogleich, daran hochzuklettern.

    Dazu muß man wissen, daß Marianne überall herauf und auf allem herum kletterte, was sie entdeckte. So eben auch hier auf diesen Schlitten mit dem komischen Mann.

    In diesem Moment schien der Mann zu bemerken, daß er nicht mehr alleine war, sah hoch und entdeckte die Mädchen.

    Juliana, Mathilda und Madita standen vor dem Schlitten und starrten gebannt nach oben, wo sich Marianne gerade daran machte, dem Mann mit dem roten Mantel auf den Schoß zu klettern, ihren Finger ausstreckte, seine Nase anstubste und mit leuchtenden Augen „Nase“ sagte.

    Das Gesicht des Mannes verlor seine Düsternis und er fragte die Mädchen “Was macht Ihr denn hier mitten in der Nacht. Gehört ihr nicht ins Bett? Wißt Ihr nicht, daß es nicht ganz ungefährlich ist, nachts im Wald herumzulaufen“



    „Aber Du bist doch nicht gefährlich“ platzte da Madita ein wenig vorlaut heraus, „Du bist doch der Weihnachtsmann und der ist lieb.“

    „Woher wißt Ihr denn, wer ich bin? fragte der Mann.

    „Das ist doch klar, das wissen wir eben.“ Antwortete Mathilda daraufhin „ Nur der Weihnachtsmann kann auf einem Schlitten fahren, wenn gar kein Schnee liegt.“

    „Na, ihr seid ja kluge Mädchen, habt Ihr mich doch gleich erkannt. Es stimmt, ich bin der Weihnachtsmann und gerade unterwegs ..zu, ..äh, in Weihnachtsgeschäften.“



    Juliana als Älteste, sah sofort, daß den Weihnachtsmann etwas bedrückte, wenn er auch freundlich lächelte, sah sie ihm das an.

    „Aber irgend etwas ist nicht in Ordnung, oder? fragte sie ihn direkt.

    „Ja“ seufzte er. „Mir ist mein Rentier abhanden gekommen. Es hat sich losgerissen, die Zügel sind leider schon etwas älter und mürbe“ gab er verlegen zu. „Nun sitze ich hier, nachdem ich es gesucht und nicht gefunden habe und weiß nicht weiter. Meine alten Knochen machen es mir nicht leicht, mich den Rest des Weges zu Fuß zu bewegen.“


    „Was“, rief Madita empört:“Rudolph ist einfach ausgebüxt? Der ist ja frech“

    Da meinte Juliana zum Weihnachtsmann:“Ich habe eine Idee. Wir helfen Dir einfach suchen. Unseren Wald kennen wir ja sehr gut und können Dein Rentier vielleicht zusammen schneller finden. Du bleibst dann einfach hier und paßt auf Marianne auf, die büxt nämlich auch gerne aus. Ist das ein Vorschlag? „


    „Ok“, sagten Mathilda und Madita. „Du kannst uns dafür ja beim Tannenbaum sägen helfen“ warf Madita noch hinterher.


    Und schon stürmten die Mädchen in drei verschiedene Richtungen los, um das verschwundene Rentier zu suchen

    Marianne lachte derweil vor sich hin und zupfte dem Weihnachtsmann am Bart.


    Eine Weile suchten die Mädchen. Juliana kletterte auf einen hohen Baum, um zu gucken, ob sie aus der Höhe eine Bewegung des Rentiers wahrnehmen konnte. Madita rannte durch die Büsche und rief immerzu „Rudolph, Rudolph, wo bist Du?“

    Mathilda ging etwas vorsichtiger durch das Unterholz auf die Stelle zu, wo sie noch vor einigen Wochen im Herbst Pilze gesammelt hatten.

    Plötzlich hörte sie ein leises Geräusch. Langsam, fast schleichend, näherte sie sich der Stelle und sah tatsächlich das Rentier dort leise mit den Hufen scharren und die Überreste der Pilze hervorholen und diese dann genüßlich zu verspeisen.


    Vorsichtig näherte sie sich dem Rentier und als sie es erreichte, nahm sie die herunterbaumelnden Zügel in die Hand und streichelte es zaghaft.

    Das Rentier wand sich Mathilda zu, schnaubt kurz freundlich auf und widmete sich wieder den Pilzen.

    Da pfiff Mathilda zweimal kurz das Geheimzeichen der Schwestern und kurz darauf rannten Juliana und Madita auf sie zu.


    Gemeinsam nahmen die das Rentier vorsichtig am Zügel und kehrten zum Schlitten zurück. Juliana klaubte schnell noch ein paar der Pilze zusammen, so daß das Rentier folgsam mit ihnen ging, während es auf dem Weg gefüttert wurde.


    Als der Weihnachtsmann sie ankommen sah, jubelte er laut auf und lachte ihnen entgegen.

    „Oh, wie wunderbar, ihr habt es tatsächlich geschafft, mein Rentier ist wieder da. Nun kann Weihnachten kommen.


    Was haltet ihr davon, wenn ich euch jetzt mit dem Schlitten nach Hause bringe, damit ihr vor morgen noch genug Schlaf bekommt?“


    „Au ja, Schlitten fahren ohne Schnee, wie cool“ jubelte Madita.

    „Aber, wir haben doch noch gar keinen Baum“, warf Juliana ein, „den müssen wir vorher noch absägen.“

    Da lächelte der Weihnachtsmann sie verschmitzt an und sagte geheimnisvoll „Das braucht ihr nicht, ich werde euch einen besorgen, versprochen. Er wird morgen bei Euch zu Hause sein.“

    „Ok, das klingt gut“, meinte Juliana erleichtert, denn mittlerweile überkam sie doch die Müdigkeit.


    „Dann rauf mit Euch, es geht los“

    Und los ging es, die Mädchen jubelten vor Freude und der Weihnachtsmann drehte eine Extrarunde, da die Mädchen so einen Spaß bei der Schlittenpartie hatten.


    Dann setzte er sie vor der Gartentür ab und bedankte sich noch einmal sehr für ihre Hilfe.

    „Bis morgen“, verabschiedete er sich und die Mädchen gingen schnell ins Haus, brachten Marianne ins Bett und fielen anschließend hundemüde in ihre eigenen.


    Am nächsten Morgen erwachten die Mädchen von einem lauten Ausruf des Erstaunens. Schnell flitzen, bzw. robbten sie in ihren Schlafanzügen die Treppe hinunter, hinein ins Wohnzimmer und blieben mit geöffneten Mündern neben ihren Eltern stehen.

    Dort stand ein herrlicher Weihnachtsbaum in strahlendem Glanz, unter dem sogar schön verpackte Geschenke lagen.


    „Was ist denn das?“ fragte die Mutter fassungslos, „Das gibt’s doch gar nicht“

    Die Mädchen brauchten einen Augenblick, um den Eindruck zu verarbeiten.

    Nur Marianne hüpfte wie ein kleiner Gummiball hoch und runter und krähte: “Wei´man, Wei´man“


    „Das“ erklärte Mathilda „ist ein Weihnachtswunder, das weiß doch jeder.“