„Ich hätte wirklich gern einen guten Freund“
Der neue Roman von Tom Liehr hat zwei ganz unterschiedliche Teile. Im ersten wird uns im Präteritum das Heranwachsen des jungen Tomás in der fiktiven Kleinstadt Metting in der niedersächsischen Provinz erzählt. Mit der für ihn typischen Lust am Fabulieren reißt Liehr den Menschen, die sich in diesem öden Kaff mit seiner dumpf-typischen Atmosphäre der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mehr oder weniger komfortabel eingerichtet haben, lustvoll die Maske der Gutbürgerlichkeit vom Gesicht, analysiert messerscharf, bisweilen auch verzweifelt humorvoll, und legt treffsicher die Herrschaft der kleinbürgerlichen Banalität offen. Allein die farbigen Charakterbilder, die der Autor dabei mit gewohnt scharf geschliffener Feder zeichnet, lohnen die Lektüre dieses Buches. Niemand in Tomás´ Umfeld entkommt dieser Feder, die dominante Mutter ebenso wenig wie der schwache Vater, nicht die am Rande der Demenz dahinsiechende Population des Alten- und Pflegeheims (anbetungswürdig übrigens, diese Einrichtung „Horizont“ zu nennen), der mächtige revanchistische Autohändler nicht oder der brutale Fremdenlegionär, der seine Familie misshandelt, und schon gar nicht die gemeine Lehrerin, deren Boshaftigkeit fast ins Absurde gesteigert wird.
Im zweiten Teil des Buches lesen wir im Präsens vom fast fünfzigjährigen Tomás, der nach dreißig Jahren nach Metting zurückkehrt und erlebt, was mit dem Ort und seinen Menschen geschehen ist. Das ist mitreißend geschrieben, packend und tief bewegend erzählt. Hier zeigt der routinierte Romancier Tom Liehr sein ganzes Können. Manchmal allerdings entsteht dabei im Kopf des Lesers ungewollt das Bild des rechtschaffenen Cowboys, der durch die öde Prärie reitet und unerschütterlich Gutes stiftet. Auch die Menschen in Metting scheinen allesamt auf diesen ihren Erlöser gewartet zu haben, denn der Spätheimkehrer löst nun all ihre Probleme. Das Altenheim, das vorher ebenso dahinsiechte wie seine letzten Bewohner, wird vor dem Untergang gerettet, die hartherzige Mutter zeigt sich bald von unbekannt liebenswerter Seite, der inzwischen demente Vater darf wieder mit seiner Eisbahn spielen und sogar seinen schwulen Freund wiedersehen, der schwer vermisste Blutsbruder Filip taucht wieder auf, und was der Happy Ends noch mehr sind.
Tom Liehr beweist auch in diesem Buch seine erzählerische Meisterschaft. Wie kaum ein anderer vermag er Skurrilitäten wie die Leidenschaft am Genuss von Wurstwasser in seine Geschichten einzuflechten, und – wie schon in seinem Roman „Leichtmatrosen“ – nutzt er auch hier mit großem Schwung einen Mikrokosmos (diesmal ein fiktives Städtchen), um das Menschenleben mit all seinen Verirrungen aufzuzeigen und eine zutiefst menschliche Geschichte zu erzählen. Wir lesen hier einen literarisch unverkennbar gereiften Liehr, der sich (endlich) daran traut, seine Sprachgewalt auch an Gefühle zu wenden, ohne bei Annäherungen dieser Art rasch abzublocken oder diese gar mit ein paar Obszönitäten zu verschleiern. Im Leben des Tomás zum Beispiel spürt der Leser ganz unmittelbar die ungestillte Sehnsucht nach Nähe, nach Wärme, nach Geborgenheit. Deshalb ist dies auch ein Buch vom Vermissen, wie sich eindrucksvoll zeigt, als Tomás sich endlich entschließt, nach Metting zurückzukehren. Da sagt der mittlerweile gealterte Protagonist: „Ich habe in den vergangenen dreißig Jahren keinen Filip gehabt“. Das ist seine eigentliche Motivation, die Reise in die Vergangenheit doch noch zu wagen.
Es ist dies aber auch ein tröstliches Buch, das die Hoffnung weckt, die Zeit könne viele Wunden heilen. Zumindest erzählt uns der Autor das hier. Es sei ihm verziehen, dass er dabei zum Ende hin ein wenig kitschig und allzu belehrend wird. Seiner Bemerkung „Die Wahrheit ist, dass Metting überall ist, vor allem in unseren Köpfen“, hätte es wahrlich nicht bedurft, denn der geneigte Leser hat genau dies als Essenz des Romans längst selbst verstanden. Und die küchenphilosophische Feststellung, man wisse nicht, was werde, das wisse man nie, ist ebenfalls ein Ärgernis, stört aber das große Lesevergnügen an diesem wundervollen Roman nur marginal.
ASIN/ISBN: 3499001845 |
(Edit - ISBN nachgetragen. LG Wolke)