'Die Wahrheit über Metting' - Seiten 081 - 150

  • Der Beginn irritiert mich etwas. Tom spricht von seiner Legasthenie als wäre er ein Experte für Rechtschreibung, gleichzeitig scheint er eine Dyskalkulie zu haben, weil er sich bei einer simplen Rechnung verrechnet. Das passt zwar in gewisser Weise wieder ins Thema, aber ist es wirklich gewollt?


    War in Niedersachsen die Grundschule 6 Jahre lang?


    Ansonsten schlagen wir thematisch aus meiner Sicht eine Brücke zu Sommer-Stumpenhorst und ähnlichen Methoden. Eine Methode, die verspricht, die LRS-Quote zu senken, meiner Erfahrung nach genau das Gegenteil erreicht.

  • Nur in Metting, sonst vier. :(


    Falls noch jemand darüber stolpert, das ist mir schon zugetragen worden, und es stimmt leider: Früher war die Ziehung der Lottozahlen tatsächlich nach der Samstagabendshow.

    😄

    Sorry, wollte nicht pedantisch sein.

    Ich hab's nur als fortschrittlich gegenüber unserem heutigen System empfunden, bereits mit 10 Jahren über den weiteren Weg der Kids entscheiden zu müssen (zumindest hier in NRW).

    Ist einfach viel zu früh.

  • Erschüttert hat mich das Verhalten der Lehrer, besonders von Frau Awusi, die Willkür, mit der sie Macht ausübt an den Kindern, die sie schützen und führen soll, aber wenn ich an meine Schulzeit denke...Ja, da flog manchmal etwas Hartes aus Richtung Tafel zu den Schülern, die aus der Reihe tanzten, aus der Norm fielen, die nicht schlau und nicht fleißig waren, und keiner machte etwas. Wenn man den Eltern davon erzählt hätte, dann wäre darauf nicht Empörung gekommen, sondern die Frage, was der Schüler denn angestellt hätte.

    Erschüttert hat mich Filips Schicksal und was er alles aushalten musste. Vorurteile sind menschlich, will ich mal vorsichtig sagen, aber zur Menschlichkeit gehört dann eben zwingend auch, dass man gegen die eigenen Vorurteile ankämpft und sie nicht gewinnen lässt.


    Marieluise ist die Rettung für Tomaś. Wer weiß, wie er sich sonst entwickelt oder nicht entwickelt hätte. Jeder Heranwachsende oder auch später junge Erwachsene braucht so eine Art Mentor, der ihm die Welt öffnet und den Horizont (!) weit macht. Ich hatte so Jemand in meinem Leben, zwischen 19 und 22, und ich bin heute nich sehr dankbar dafür.

  • Ich bin auch entsetzt über das Verhalten der Lehrerin. Filip kann einem echt leid tun. Dass aber auch die Mitschüler in die gleiche Kerbe hauen finde ich befremdlich. In den Siebzigern hatte man doch eher die Lehrer auf der Abschussliste und sich als Schüler solidarisiert. Überhaupt empfinde ich die Beschreibung über Schule und Verhalten gegenüber Kindern eher 60er Jahre mäßig. In den Siebzigern gab es sogar Curricula für die Kindergärten. Da war doch alles fortschrittlicher und aufgeschlossener.

  • Überhaupt empfinde ich die Beschreibung über Schule und Verhalten gegenüber Kindern eher 60er Jahre mäßig. In den Siebzigern gab es sogar Curricula für die Kindergärten. Da war doch alles fortschrittlicher und aufgeschlossener.

    Nicht überall, und in der Provinz kam sowieso alles später an.

  • Hmm, ich erlebe ja gerade sowieso einige DejaVus in diesem Buch, da kann ich hierzu vielleicht auch was erzählen.

    Aber zunächst etwas Statistik: es gibt etwa 800000 Lehrer in Deutschland. Das ist eine so große Masse, dass da bei einzelnen Lehrern ohnehin alles möglich ist. Statistisch ist da vom Soziopathen über Rassisten, Kinderschänder usw. alles dabei. Ja, das ist ein ungemütlicher Gedanke. Man muss mit den individuellen Gegebenheiten umgehen.

    Ist Diskriminierung in der Schule in der hier geschilderten Art unwahrscheinlich? Gedankenexperiment: Lassen wir die Statistik raus und nehmen die demokratisch für den wichtigsten Posten der Menschheit gewählte Person. Das muss dann zwar ein unglaublich überqualifizierter Mensch für den Lehrerposten sein, aber doch sicher moralisch integer, weise, ausgleichend, intelligent. Stellen wir uns also Trump als Lehrer vor. Wäre Diskriminierung in der hier geschilderten Art in Trumps Klasse denkbar? Wie sieht es aus, wenn man stattdessen 800.000 Stellen besetzen muss?


    Ich bin auf eine Provinzschule gegangen. Bei uns wurde über diverse Lehrer gemunkelt, sie wären dorthin strafversetzt worden, keine Ahnung ob es stimmt.

    Wir mussten als Kinder regelmäßig einen Lehrer wecken gehen, weil er verschlief. Einer stellte sich immer so hin, dass er den Mädchen in den Ausschnitt schauen konnte.

    Einer kam regelmäßig stark betrunken zum Unterricht.

    Einer, der mich auf dem Kieker hatte, stellte mir immer am Anfang der Stunde eine Frage, die ich nicht beantworten konnte, um mich anschließend zu demütigen. Er war aus meiner Sicht einfach nur ein Soziopath, siezte die Kinder ab der 5. Klasse, um 'keine persönliche Beziehung aufkommen zu lassen, da er sonst nicht mehr objektiv urteilen könne'.

    An eine dieser Vorführungen kann ich mich noch erinnern.

    "Sie, in welchem Monat war die Oktober-Revolution?"

    "Das wird dann wohl im Oktober gewesen sein?"

    "Falsch, damals hatte man einen anderen Kalender. Es war im September. Ihre Leistungen lassen immer mehr zu wünschen übrig. Woran liegt es, haben sie private Probleme? Bettnässen vielleicht?" Usw.

    Das ging dann immer 5 Minuten in dieser Art, dann wurde normaler Unterricht gemacht.

    Meine Mutter habe ich mal in seine Sprechstunde geschickt. Sie kam zurück und meinte, 'so ein netter Mann'.


    Damals wurden evangelische Kinder in katholischen Gebieten und umgekehrt diskriminiert, Linkshänder waren ebenfalls in dieser Hinsicht beliebt.


    Unwahrscheinlich ist, dass ein 'Zigeunerkind' aufs Gymnasium ging.

    Aber Filip ist ja keines...


    Schafften Legastheniker es aufs Gymnasium und wie erging es ihnen dann da?

    I never predict anything, and I never will. (Paul Gascoigne)

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  • Marieluise zum Älterwerden: Hier findet sich unsere Diskussion zum Begriff Horizont wieder: "Deine Welt wird kleiner, bis du sozusagen die Wände mit den Händen berühren kannst - die Wände des Gefängnisses, in dem du unschuldig einsitzen musst."

    Ich verstehe, dass sie so gerne liest. Es ist eine Möglichkeit aus dieser Enge auszubrechen.


    Mettings große Zeit war in den 60ern. Es war Großes geplant, aber die Möglichkeiten wurden immer beschränkter (ein bisschen wie Älterwerden...). Dies führt u.a. zu einem Schulgebäude mit einer comichaften Justitia, Zellen im Keller und tiefergehängten Pinkelbecken. :-)


    Die nachfolgenden Passagen finde ich sehr dicht und verschlungen erzählt. Sehr gelungen. Es wird keine einzelne Begebenheit in Frau Awusis Gerichtssaal direkt geschildert, sondern sie wird als eine in einer Kette von Begebenheiten indirekt während des Essens bei Filips Mutter durch Tom vorsichtig aufgedeckt. Die Systematik gegenüber Filip und die Ohnmacht mit der er dieser begegnen kann, wird dadurch sehr deutlich. Gleichzeitig wird dadurch diese dichte Erzählung möglich, die Kombination mit der Rückkehr von Filips Vater und dem Einflechten von Melina.

    Wie bei Filip - seinem Blutsbrüder - steht dann etwas später auch bei Tom noch ein Essen an. Und wie bei Filip Probleme mit seinem Vater zu erwarten sind, sind bei Tom Probleme mit seiner Mutter zu erwarten. Die es dann auch prompt gibt.

    Auch hier wieder sehr verdichtet und geschickt erzählt.

    I never predict anything, and I never will. (Paul Gascoigne)

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  • Ich war ja überrascht, als auf Seite 92 Hildesheim der Status eines Vorbildes verliehen wurde. Als Hildesheimer ist man eigentlich nicht sehr stolz auf seine Stadt und empfindet alles als provinziell. Ich kann eigentlich immer noch nicht glauben, dass man die Stadt außerhalb der Region überhaupt kennt. Hätten wir einen berühmten Schriftsteller als Mitbewohner gehabt, hätte das auch Groß-Metting sein können.


    Was dagegen völlig stimmt ist, dass man Hannover 96 als Lieblingsverein haben muss. Ohne wenn und aber.


    Ansonsten fehlt mir zum Buch auch noch leicht der Bezug und ich weiß noch nicht, wo die Reise mal hingehen soll. Ist es einfach ein Bericht aus einer verlassenen Kleinstadt?


    Toms Gefühle gegenüber einer 80-jährigen kann ich gar nicht nachvollziehen und bereits mit 13 hätte meine Mutter und meine Lehrerin mich nicht mehr so behandeln dürfen. Aber vielleicht war das ca. zehn Jahre vor mir noch so?

  • Die Ungerechtigkeiten häufen sich. Erst diese sadistische Lehrerin, die das Mobbing der Mitschüler fördert und auf die Spitze treibt. Sie kippt Filips Schulsachen in den Dreck! Und später schlägt sie Tomás so hart, dass er noch Stunden später aus der Nase blutet!? Ich fürchte Tom übertreibt hier.

    Dann kommt Filips Vater und fordert sein Recht als Familienoberhaupt, obwohl er sie seit Jahren vernachlässigt hat. Und bekommt von dem um Hilfe gerufenen Polizisten auch noch die Rechtfertigung seine Familie zu tyrannisieren.

    Als nächstes reagiert Tomás' Mutter völlig willkürlich auf das Geständnis ihres Mannes, das offensichtlich keine Überraschung für sie ist. Sie verbietet ihrem Sohn den für ihn tröstlichen Kontakt zu den alten Menschen. Will sie ihn dafür bestrafen, dass er zum Mann heranreift, weil sie von ihrem frustriert ist?

    Oder ist sie eifersüchtig, weil Tomás sich lieber Marieluise anvertraut als ihr?


    Seine Kindheit ist spätestens jetzt vorbei. Er rebelliert und hält sich nicht mehr an ihre ungerechten Verbote oder den Wunsch des Vaters um Verschwiegenheit. Pech, dass er das Geheimnis ausgerechnet der Plaudertasche der Gemeinde erzählt. Das entsetzt sogar seine Geliebte.

    Das Unheil nimmt Fahrt auf.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend U. T. Bareiss: Green Lies - Tödliche Ernte

  • Sie verbietet ihrem Sohn den für ihn tröstlichen Kontakt zu den alten Menschen. Will sie ihn dafür bestrafen, dass er zum Mann heranreift, weil sie von ihrem frustriert ist?

    Oder ist sie eifersüchtig, weil Tomás sich lieber Marieluise anvertraut als ihr?

    Vielleicht will sie auch nur nicht, dass Tomaś Marieluise von der Homosexualität seines Vaters erzählt.

    Dass die Beiden vertraut miteinander ist, hat sie ja bisher toleriert ohne einzugreifen. Es war ihr bis dahin mehr oder weniger egal.


    Interessant fand ich, dass Marieluise auf Tomaś Eröffnung über seinen Vater nur sagte: "Das ist offensichtlich." (Seite 129).


    Und später schlägt sie Tomás so hart, dass er noch Stunden später aus der Nase blutet!? Ich fürchte Tom übertreibt hier.

    Meinst du mit "Tom", der da übertreibt, den Autor?

    Sie hat ihm von Hinten ein Buch auf den Kopf gedonnert, so dass er auf die Tischplatte knallte...

  • Will sie ihn dafür bestrafen, dass er zum Mann heranreift, weil sie von ihrem frustriert ist?

    Schwester Ingeborg sieht ihre Hauptaufgabe darin, die Familie und das Heim zu schützen. Dass ihr Mann so ist, wie er ist, weiß sie längst, aber jetzt droht die Gefahr, dass es nach außen dringt. Aber diese unfassbar ungerechte Strafe ist nicht nur eine Reaktion, die hierauf fußt, sondern auch eine Machtdemonstration. Und sie muss etwas tun, aber ihren Mann kann sie schlecht bestrafen. Also nimmt sie sich den nächstbesten, und das ist Tom. Von dem sie auch weiß oder ahnt, dass er Dinge tut oder wenigstens über sie nachdenkt, die eine Gefährdung darstellen könnten.


    Dass hinter dem Verhalten von Eltern ihren Kindern gegenüber eine für diese nachvollziehbare Kausalität stehen muss, dieses Paradigma ist eher ein neuzeitliches. "Früher" gab es mehr Willkür. Dafür steht dieser Abschnitt auch. Selbst eine ungerechte Strafe trifft niemals den falschen, sagte man gerne.

  • Die Erzählung bis zum Ende des 1. Teils verdichtet sich immer weiter bis zur eindringlichen Szene in Marieluises Zimmer.


    Es gibt hier so viele Anregungen, verwinkelte Stellen um nachzudenken. Gefällt mir ausgezeichnet...


    Ein "Negerpfarrer" in einem Gebäude mit einem konischen Turm.

    "10 kleine Negerlein" war in meiner Kindheit noch ein vollkommen normales Kinderlied...

    "Die Trauerfeiern bei Pfarrer Tizian Odol waren Legende."


    "Eine Beleidigung muss als Beleidigung gedacht sein, sonst ist sie keine."

    An dieser Stelle habe ich zunächst gedacht: Ja!!!

    Gleichzeitig denke ich an naiven Rassismus, wie er z.B. in der Niederlande in Form des zwarte Piet in der Tradition um Sinterklaas allgegenwärtig ist. (Ich bin Niederländer, auch wenn ich mit 4 Jahren nach Deutschland gezogen bin und dort grossgeworden bin, was damals aus niederländischer Sicht an Landesverrat grenzte).

    Es wird in der zwarte piet-Diskussion ebenfalls dieses Argument verwendet, es sei nicht beleidigend gemeint, es solle lediglich die schöne Tradition mit der man aufgewachsen ist, weitergeführt werden.


    Wichtig scheint mir, auf sich selbst zu hören, statt sich daran zu orientieren, was andere denken. Seinem inneren Kompass zu folgen, in der Entscheidung, was richtig ist.

    Dann ist es häufig gar nicht so schwer Lösungen zu finden.


    Es ist schön, dass Tom den Schlüsselbund (ich bin mit dem männlichen Schlüsselbund aufgewachsen) am Ende in Händen hält, auch wenn er ihn nochmal abgeben muss.

    I never predict anything, and I never will. (Paul Gascoigne)

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  • Schwester Ingeborg sieht ihre Hauptaufgabe darin, die Familie und das Heim zu schützen. Dass ihr Mann so ist, wie er ist, weiß sie längst, aber jetzt droht die Gefahr, dass es nach außen dringt. Aber diese unfassbar ungerechte Strafe ist nicht nur eine Reaktion, die hierauf fußt, sondern auch eine Machtdemonstration. Und sie muss etwas tun, aber ihren Mann kann sie schlecht bestrafen. Also nimmt sie sich den nächstbesten, und das ist Tom.



    So habe ich das auch verstanden,weshalb ich mir da einen Kommentar verkniffen habe.