Autoren und Randgruppen

  • Zitat

    Original von Bartlebooth
    Der Schulunterricht und die Uni sind heute leider völlig voneinander abgekoppelt. Viele (ausdrücklich: nicht alle!) Lehrer/innen, auch die jungen, sind froh, endlich aus der Uni rauszusein und wieder betreiben zu können, was ich intuitive Hermeneutik nenne. :grin


    Und die deformierte" Ausbildung der nächsten Lehrergeneration verstärkt diese Aufspaltung noch -- mir graust vor den Sammelsurien "überprüfbarer" PISA-konformer Kenntnisse, die kommenden Schülergenerationen eingetrichtert werden.
    Da wird braves Zugvieh, da werden Untertanen für Betriebshierarchien produziert -- keinesfalls mündige Bürger.


    Für die Materialien-Verlage ist diese Entwicklung allerdings ein Segen! :lache

  • Zitat

    Original von Ines als Gast
    Sandra ,


    wie du weißt, bin ich bereit, einiges dafür zu tun, dass mein Weltbild so bleibt wie es ist. :lache
    Du wirst deshalb in Kürze eine Alice-Schwarzer-Biografie von amazon bekommen.:rofl


    Liebe Ines


    :grin Das ist nicht nötig, da ich mich gerade in einen Mann verliebt habe. :grin Sollte ich gerade lügen, werde ich blitzartig dafür sorgen, dass es bald der Wahrheit entspricht, nur um dein Weltbild ein wenig anzukratzen. :-]


    Sandra

  • Zitat

    Original von Ines als Gast
    Sandra ,


    du bist wirklich eine wahre Freundin!


    Ha, jetzt habe ich dich. :kiss Genau darum geht es doch. :write Wir lieben unser Weltbild, woran wir glauben und es fällt uns schwer es zu ändern. Genauso schwer wie Lieblingsschuhen oder den Teddybär zu entsorgen, der uns durch Höhen und Tiefen begleitet hat. Sie geben uns Sicherheit in einer unfassbaren Welt wie Vorurteile oder Schubladisierungen. Weltbilder, Vorurteile, Randgruppen usw. sind Konstruktionen des Geistes in den unterschiedlichsten Kulturen, um uns das Leben zu vereinfachen. Ich behaupte, um gleich in die nächste Falle zu tappen, dass Autoren genau darüber schreiben. Damit meine ich, wir schreiben, jede auf ihre Art und Weise, über Weltbilder und den Ängsten, die entstehen, wenn sie nicht so sind, wie wir das stündlich erleben. Stellvertretend lassen wir unsere Figuren, um es ganz simpel auszudrücken, in seiner „Trichterwelt“ agieren und stolpern. Damit unterstreichen wir zwangsläufig eine buddhistische Weisheit, die besagt: „Sei weit und offen wie der Himmel. Das ist der wahre Weg“, unabhängig davon, ob wir uns in unserem Privatleben dranhalten.


    Sandra

  • Es geht um die Art und Weise, wie sich mein Weltblick auf das Schreiben auswirkt. Um nichts anderes. Und bei dieser Art und Weise geht es nicht um meine persönliche Befindlichkeit, um mein Autoren-Ich, sondern um Aussagen, die auch außerhalb meines Ichs Bedeutung haben. Ich schreibe ja nicht nur für mich. Ja, ich gebe es zu, ich habe meinen Grünewald-Roman nicht zuletzt geschrieben, damit Grünewald nicht in Vergessenheit gerät. Das mag vermessen sein.
    Magali hat es die Marx`sche Frage nach dem Sein und dem Bewusstsein benannt, Sandra hat es in ihrem letzten Beitrag noch einmal verständlich ausgeführt.


    Als Autorin, die tatsächlich den Ehrgeiz hat, den Lesern etwas sagen zu wollen, ist die Erweiterung meines Weltblickes und meiner Sprache existenziell. Jass hat eine wunderschöne Signatur, die da heißt (Vorsicht, ich zitiere aus dem Gedächtnis): Es zählt das geschriebene Wort, nicht das Ich dahinter.
    Das heißt, ich muss mich dem Gegenstand meines Erzählens sowohl als Ines nähern, aber gleichzeitig argwöhnisch darauf achten, wo die Frau Ines mit ihren Erfahrungen, ihrem Kleinmut und ihren Vorurteilen der Autorin Thorn im Weg steht. Das hat nichts mit allwissendem Neutrum zu tun, sondern etwas mit der Fähigkeit (die ich übe und übe und übe), selbst zu denken.


    Ich bedanke mich bei allen, die hierzu Beiträge geschrieben haben, auch, wenn ich bei Einzelnen zum Teil schlicht weg nicht wusste, wo von eigentlich die Rede war. An mancher Stelle versank meine Frage im akademischen Nebel, der zwar sehr schmückend, aber nicht unbedingt erhellend war.

  • Liebe Ines


    Du bist gerade so schön warmgelaufen. :-) Was ich gern von dir hätte, weil ich immer noch nicht ganz wach und ausgeschlafen bin :cry, einen Link von Weltblick oder Weltbilder zurück zum Anfang zu deiner Frage über Randgruppen.
    Nach all diesen Teilen müsste es uns doch gelingen, den Faden bzw. eine Antwort zu finden, auch wenn es die allgemeingültige Wahrheit nicht gibt. Ich fühle, wir sind ganz nahe dran. Wenn mein Gefühl mich nicht ohne meinen morgentlichen Kaffee täuscht. :-)


    Sandra

  • Zitat

    Original von Sandra
    Was ich gern von dir hätte, weil ich immer noch nicht ganz wach und ausgeschlafen bin :cry, einen Link von Weltblick oder Weltbilder zurück zum Anfang zu deiner Frage über Randgruppen.


    Mir scheint auch, als sei das einfach, und trotzdem will es mir nicht in die Finger.


    Genügt es nicht eigentlich, sich bewusst zu sein, wo man steht? Ob am Rande (der Mehrheit oder der Randgruppe, egal) oder mittendrin? Eben von der eigenen Perspektive ein paar Stufen auf die Leiter zu klettern und sich einen Weltblick von oben zu verschaffen. Sodass ich, wenn ich als lesbische Frau eine Hetero-Geschichte schreibe, in der Lage sein sollte, Klischees von Authentischem zu unterscheiden - und mich dann bewusst für das eine oder andere entscheide. Dass ich, wenn ich als lesbische Frau eine Lesbengeschichte schreibe, in der Lage sein sollte, mich in eine Hetero-Perspektive auf meinen Text zu versetzen - und dann wiederum entscheide, inwieweit ich sie berücksichtige oder nicht.


    Für Tom ist das vielleicht zu "intellektuell", zu wenig "aus dem Bauch raus", zu wenig "subjektiv"?


    Ich denke, selbst wenn ich mich um dieses Bewusstwerden bemühe, ist es immer nur eine Annäherung, es bleibt immer noch genügend Subjektivität (in Ines' Beispiel: genügend "Ines") übrig - und das ist auch gut so, weil es sicherstellt, dass Toms Subjektivität, das Besondere genau an SEINEM Schreiben, nicht verlorengeht.


    Oder hab ich jetzt alles falsch verstanden? :gruebel

    Surround yourself with human beings, my dear James. They are easier to fight for than principles. (Ian Fleming, Casino Royale)

  • Zitat

    An mancher Stelle versank meine Frage im akademischen Nebel, der zwar sehr schmückend, aber nicht unbedingt erhellend war.


    Liebe Ines, :-(


    falls du dich mit dieser Äußerung auf meine Beiträge beziehen solltest (du vermeidest ja elegant eine klare Zuordnung), so möchte ich sagen: Meist empfinde ich das intuitive Stochern in einer Frage als deutlich nebulöser denn eine klar benannte analytische Trennung, wie ich sie versucht habe. Meine Meinung, die man selbstverständlich nicht teilen muss.


    Herzlich, B.

  • Bartlebooth ,


    es gibt stets verschiedene Herangehensweisen an ein Thema. Eine davon ist die intuitive, eine andere die analytische. Es wäre doch wirklich fabelhaft, wenn am Ende einer Debatte die verschiedenen Herangehensweisen zu einer neuen Erkenntnis führen würden. Vielleicht sollten wir das einmal versuchen.


    Edit: Es geht um die Praxis, nicht um die Theorie allein.



    @Piratin,


    ich glaube, wir meinen etwas Ähnliches. Du hast völlig Recht mit deinem Leiterbeispiel. Ich bin mir nur nicht ganz sicher, ob ich als Hetera so schreiben kann und möchte, dass es wie eine authentische Frauenliebende klingt. Das ist auch nicht das Ziel, sondern eher, den eigenen Blick darauf zu prüfen, insbesondere auf Klischees im Kopf, mich bzw. meine Meinung dazu selbst in Frage zu stellen und ZU DENKEN. Und genau das ist das Schwierige und genau da liegt der Knackpunkt.

  • Zitat

    Original von Ines
    Du hast völlig Recht mit deinem Leiterbeispiel. Ich bin mir nur nicht ganz sicher, ob ich als Hetera so schreiben kann und möchte, dass es wie eine authentische Frauenliebende klingt. Das ist auch nicht das Ziel, sondern eher, den eigenen Blick darauf zu prüfen, insbesondere auf Klischees im Kopf, mich bzw. meine Meinung dazu selbst in Frage zu stellen und ZU DENKEN.


    Nein, du sollst auch nicht als Hetera ein ganzes Buch so schreiben, wenn du nicht willst. Allerdings ein banales Beispiel: Es könnte ja mal sein, dass in einem deiner Bücher eine lesbische Frau vorkommt. (Oder ein Mann. Oder ein afrikanisches Kind. Oder eine Aborigine-Frau. Oder eine holländische Rentnerin. ;-) ) Und dann solltest du zumindest wissen, wo die Leiter steht. ;-)

    Surround yourself with human beings, my dear James. They are easier to fight for than principles. (Ian Fleming, Casino Royale)

  • @Piratin,


    ich muss lachen, weil ich tatsächlich gerade das Manuskript zu einer Australien-Saga fertig gestellt habe und es kommt tatsächlich ein Aborigine-Mischling darin vor.
    Und ich hoffe sehr, die Leiter ausreichend weit hochgeklettert zu sein, aber letztendlich habe ich doch nur geschrieben, wie ICH mir einen Aborigine-Mischling vorstelle. Die Vorstellung jedoch habe ich mir aus Reiseberichten, Filmen usw. zusammen gebaut.


    Ich bin mir im Augenblick gar nicht sicher, wie ich es finde, dass die Thorn geschrieben hat, wie sich das Leben eines Aborigine-Mischlings, das Leben der Pelzhändlerin und das Leben Grünewalds vorstellt. Anmaßung ist auf jeden Fall wohl dabei.
    Auf einer Lesung hat mich mal jemand gefragt, was ich Grünewald sagen würde, träfe ich ihn in der Ewigkeit. Ich glaube, ich habe das schon mal an anderer Stelle geschrieben.
    Ich würde mich bei Grünewald entschuldigen, denn da bin ich ja an Grenzen gekommen. Und natürlich weiß ich auch, dass ich nie, nie, niemals wirklich über Aborigines, Grünewalds, Lesben, Veganer usw. schreiben kann, sondern immer nur meine Vorstellung darüber mitteile. Aber dieser Vorstellung sollten doch gesicherte Kenntnisse zu Grunde liegen. Und hier ist die Frage: Auf welche Art und Weise kann ich meinen Blick auf die Dinge so verändern, dass am Ende etwas Gutes und Wahres dabei herauskommt.

  • Zitat

    Original von Bartlebooth
    falls du dich mit dieser Äußerung auf meine Beiträge beziehen solltest


    Ich denke mal, wir beide sind gemeint, zumal niemand auf unsere Beiträge weiter eingegangen ist.


    Zitat

    Meist empfinde ich das intuitive Stochern in einer Frage als deutlich nebulöser denn eine klar benannte analytische Trennung, wie ich sie versucht habe.


    Dem stimme ich vorbehaltlos zu.


    Zitat

    Original von Ines
    es gibt stets verschiedene Herangehensweisen an ein Thema. Eine davon ist die intuitive, eine andere die analytische. Es wäre doch wirklich fabelhaft, wenn am Ende einer Debatte die verschiedenen Herangehensweisen zu einer neuen Erkenntnis führen würden. Vielleicht sollten wir das einmal versuchen.


    Ines, man kann sich zwischen einer analytischen und einer intuitiven Betrachtungsweise hin- und herbewegen, aber man sollte sie nicht vermischen. Dabei käme zwar sicherlich hübsch postmodern "was Neues" raus, aber nichts Sinnvolles.


    Ergebnisse einer analytischen Betrachtung und Ergebnisse der intuitiven Betrachtung zu vergleichen, kann durchaus sinnvoll sein, mir bleiben sie allerdings zu subjektiv, zu wenig übertragbar und damit zu diffus.

  • Zitat

    Original von Ines
    Wie überwinde ich die Grenzen meiner Sprache und meines Denkens, damit am Ende dabei Bücher rauskommen, die wirklich etwas mitzuteilen haben?


    Durch Achtsamkeit gegenüber dem Gegenstand und Wachsamkeit "gegenüber" mir selbst. D.h. indem ich mich nicht mit der anfänglichen Rasterung durch das Koordinatensystem meiner Meinungen (Vorurteile) begnüge, sondern eben diese Meinungen durch ständige Aufmerksamkeit gegenüber dem Gegenstand des Erzählens ebenso ständig hinterfrage.


    Wieder zu intellektuell? Okay, dann bleiben wir eben beim Beispiel der lesbischen Protagonistin:
    Selbstverständlich wird der Charakter dieser Figur auch nach dem Raster meiner Meinungen über typische Eigenschaften von "weiblich" und "lesbisch" gespeist. Damit diese Figur nun nicht zu einer Karikatur meiner Vorstllung von einer lesbischen Frau verkommt, muß ich darauf achten, ob einerseits diese Meinungen überhaupt der Realität entsprechen oder nicht doch nur dumme Vorurteile sind, und andererseits darauf, daß die Eigenschaften, die ich dieser Figur verpasse und die sich durch ihr Handeln und ggf. auch ihr Denken und Fühlen ausdrücken, auch den ihnen angemessenen Stellenwert behalten.


    Wenn ich über Dinge schreibe, von denen ich keine Ahnung habe, oder -- noch schlimmer -- über »Dinge, von denen ich keine Ahnung haben will«, dann kann ich mich nur im Koordinatensystem meiner vorgefaßten Meinungen bewegen. Und dann wird es trivial.


    Womit ich auf keinen Fall bestreiten möchte, daß auch das Triviale seinen Platz in Kunst und Literatur hat!!!

  • Zitat

    Damit diese Figur nun nicht zu einer Karikatur meiner Vorstllung von einer lesbischen Frau verkommt, muß ich darauf achten, ob einerseits diese Meinungen überhaupt der Realität entsprechen oder nicht doch nur dumme Vorurteile sind, und andererseits darauf, daß die Eigenschaften, die ich dieser Figur verpasse und die sich durch ihr Handeln und ggf. auch ihr Denken und Fühlen ausdrücken, auch den ihnen angemessenen Stellenwert behalten.


    Mit Verlaub, bodenloser Schwachsinn. :fetch Als wären lesbische Frauen eine andere Rasse, eine andere Sorte Mensch, dabei sind es "nur" Frauen, die Frauen lieben. Keine der Lesben, die ich kenne und/oder mit der ich befreundet bin, zeichnet sich durch großartige Originalität im Hinblick auf ihre Art des Menschseins aus. Der Unterschied zu anderen Frauen besteht darin, daß sie Frauen lieben, und das ist verdammtnocheins auch schon alles.


    Was ich sagen will: Gerade dieser Versuch, sich einer "Typologie der lesbischen Frau" anzunähern, entspringt einer engstirnigen Weltsicht (damit meine ich nicht Dich, Iris; Du hast ja nur einen Erklärungsversuch unternommen), nämlich derjenigen, es gäbe die lesbische Frau. Aber die gibt es nicht. Ich bin ein Heteromann, und ich stehe zweifelsfrei nicht archetypisch für alle Männer, die heterosexuelle Neigungen haben. Genauso geht es allen hier, und alle Neigungen betreffend.


    Bevor man eine lesbische Frau als lesbische Frau beschreibt, sollte man sicherlich wissen, welche Spielarten des lesbischen Sex' es gibt, sofern man derlei erzählen will. Ansonsten ähneln sich die Facts Of Attraction denjenigen auf der Hetero-Spielwiese: Oft kann man nicht begreifen, was Paare aneinander finden.


    Natürlich sollte man nie die Tresen-Vorurteile über lesbische Frauen (Kurzhaarfrisur, kantige Gesichter, schlabbrige Overalls, tiefe Stimmen und leichte Oberlippenbärte) zur Charakterisierung der Protagonistin nutzen, es sei denn, man will gerade auf diese Art die Vorurteile brechen und/oder satirisch schreiben. Aber das ist doch selbstverständlich, verdammich. :grin

  • Schulljung. :lache


    Ich krick graue Haare bei dieser Diskussion. Der Wunsch, sich zum optimalen Autor zu formen. Jesus. Ich meine - laberfasel - klar, wir wachsen, entwickeln uns usw. Gerade Autoren (wie ich diese Formulierung HASSE) sind Schwämme, sie leben davon, zu beobachten, nachzuhaken, zu verstehen, zu ergründen. Das ist ihr verdammter Job. Ohne das funzt et nich mit der Schriftstellerei. Aber das hat nichts zu tun mit der hier formulierten Verständnismaximierung, mit dem hehren, aber m.E. völlig blödsinnigen Wunsch, sich in jeden (auch jeden Idioten) hineinversetzen zu können, um ihm schriftstellerisch gerecht zu werden. Das kann erstens nicht funktionieren und zweitens - laberfasel² - zerstört es die Individualität des Autors. Subjektiv sein ist gut! Vorurteile haben auch! Über etwas zu schreiben, von dem man nichts weiß, ist klasse! Die Leser werden einen irren Spaß haben.


    Ich dreh hier noch durch. :bonk