Autoren und Randgruppen

  • Seit einiger Zeit beschäftigt mich die Frage, wie der Blick auf die Welt sich im Text wieder findet.


    Schreibt ein Christ mit einem anderen Blick als ein Nichtchrist?
    Ist eine lesbische Autorin auf bestimmte Thematiken fixiert?
    Wie sieht ein ausländischer Autor Deutschland und was von diesem fremden Blick findet sich in seinen Texten?


    Schreiben Autoren, die Randgruppen (wie werden die eigentlich definiert?) angehören, anders als "normale" Autoren? Oder ist der Autor als solcher eine Randgruppe?


    Gibt es vielleicht sogar eine spezifische "Randgruppensprache"?
    Schreiben die "Randgruppenautoren" für alle oder nur für ihre Randgruppe?


    Ich entschuldige mich vorab bei allen, die sich am Begriff "Randgruppe" stören. Wenn jemandem dazu ein treffenderes Wort einfällt, so werde ich es ab sofort gern benutzen.

  • Ich glaube, daß das weniger mit Randgruppen zu tun hat. Jede Erfahrung beeinflusst nachfolgendes Verhalten bewusst und unbewusst. Daraus ergibt sich eine geprägte Sprache, ein geprägtes Denken und ein bestimmte Weltsicht und Selbstverständnis. Das wiederum wird mit Sicherheit auch das Schreiben erheblich beeinflussen.


    Doch durch Ines ursprüngliche Frage sind mir dazu ein paar Gedanken gekommen. Vielleicht kann von den Autoren jemand was dazu sagen.


    Interessant wäre es rauszufinden, inwieweit man als Autor sich z. B. bei einer Auftragsarbeit von seinem eigenen Stil bzw. den eigenen Maßstäben lösen kann, um sich dem geforderten Text unterzuordnen?
    Könnte also ein vielseitiger (begabter, guter, etc.) Krimi-Autor beispielsweise auch einen guten Lesben-/Horror-/Fantasy-Roman schreiben? Oder ist ein Autor durch seine Vorlieben irgendwann zu sehr geprägt, zu sehr festgelegt, um mit anderen Literaturgattungen gleichermaßen gut zurechtzukommen?


    Würde ein Genre-Autor (wenn es einen Verlag gäbe, der das mitmachen würde vorrausgesetzt) sich überhaupt gerne vielseitiger betätigen, oder ist man als Autor eher froh seinen Platz, seine Art Roman, gefunden zu haben?


    Gruss,


    Doc

  • Liebe Ines,


    da ich im Zentrum meines Schaffens stehe, weiß ich nicht, ob ich selbst einer Randgruppe angehöre. Das müssen andere für mich entscheiden. Ich selbst vermag nicht zu unterscheiden, ob der/die/das AutorIn, von dem ich gerade etwas lese, einer Randgruppe angehört. Allerdings ist es mir auch ziemlich egal, wenn ich es vor dem Lesen erfahre. Mir geht es um das Buch und seinen Inhalt. Der/die AutorIn sind hier für mich nebensächlich. Ausnahme Leute mit einer gewissen Weltanschauung, die zu tolerieren mit schwer fällt.


    Herzliche Grüße
    Gheron :wave

  • Sandra ,


    ich habe zu diesem Thema einen eigenen Thread aufgemacht. Du findest ihn über Forum - Autorenecke - Autoren unter sich.


    Deine Antwort befriedigt mich nicht ganz. In dir fließt ja jede Menge unterschiedliches Blut. Ist es so, dass du manche Dinge aus der Sicht einer Asiatin siehst, bei anderen eine "deutsche" Brille auf hast und überhaupt: Denkst und schreibst du manchmal aus indonesischer, aus holländischer, aus deutscher oder aus schweizer Sicht? Und ist das alles vermischt?


    Die Antwort passt gut in den neuen Thread "Autoren und Randgruppen".


    Liebe Ines


    Wieso wundert es mich nicht, dass meine Antwort dich nicht ganz befriedigt?


    Ich bin nicht als Ausländerin in Holland aufgewachsen. Ich bin „holländisch“ erzogen worden. Meine indonesischen Wurzeln wurden nicht gerade Tod geschwiegen, aber auch nicht explizit erwähnt.
    Als ich mit sechs Jahren nach Deutschland kam, fühlte ich mich auch nicht als Ausländerin, sondern mit den Jahren als Deutsche. Erst als ich mit 22 Jahren in die Schweiz zog, bekam ich den ersten Eindruck als Ausländerin. Ich war eine Ausländerin in der Schweiz, was ganz logisch war, weil ich ja aus Deutschland kam. In den Niederlanden war ich auch eine Deutsche, weil ich meine Muttersprache nicht mehr beherrschte. Erst als sich der Schweizerakzent in meiner Sprache niederschlug, merkte ich, dass ich auch keine Deutsche mehr war, sondern asiatisches Blut durch meine Adern fliesst.


    Ehrlich gesagt, habe ich lange nicht gemerkt als Ausländerin diskriminiert zu werden, weil ich damit aufgewachsen bin und den Umgang mit mir als Normal empfinde. Diskriminiert fühlte ich mich erst, als mir die Diskriminierung bewusst wurde und ich nicht mehr persönlich nahm. Das brauchte seine Zeit und ich bin immer noch dran. Es wird noch dauern bis mir klar werden wird, mit welcher Brille ich gerade schreibe und denke.


    Sandra

  • Ich habe keinen Schimmer, welchen Randgruppen ich angehöre, wahrscheinlich sind es viele, aber ich fühle mich keiner zugehörig. Ich bin ich. Ich schreibe so, wie ich schreibe. Das unterliegt vielen, vielen Einflüssen, die mich zugleich als Mensch einzigartig und ausmachen. So geht es allen. Jeder hat seine ganz eigene Sicht der Welt. Wenn sie besonders weit von der eigenen entfernt liegt, mag sie schwerer zugänglich sein. Das isses dann aber auch. Jeder gehört einer Randgruppe an, der Randgruppe "Ich".

  • Ich glaube schon, dass es Randgruppen-Autoren gibt, die ihr Randgruppendasein in ihren Büchern immer wieder zum Thema machen oder vielleicht sogar nur deshalb zum Schreiben gekommen sind.
    Man gucke sich nur mal die ganzen "Sachbuchautorinnen" an, die über ihr Leben als Inzucht-, Dschungel-, Immigranten- oder Kind islamischer Eltern schreiben...


    Gruß vom Mäkel

  • Hallo, Mäkel.


    Natürlich wählt man sich originelle Figuren, und viele von denen mögen "Randgruppen" angehören (ein scheußlicher Begriff, wie ich finde). Figuren mit Besonderheiten und unkonventionellen Eigenarten sind interessanter. Aber danach hat Ines ja nicht gefragt - sie wollte wissen, ob sich die Sicht auf die Dinge ändert, wenn man auf besondere Weise involviert ist. Das ist meiner Ansicht nach eine tautologische Frage. Wenn ich schwul bin und ein Buch über Schwule schreibe, dann tue ich das selbstverständlich anders als ein heterosexueller Autor das tun würde, wenn er es denn tun würde (für mich ist es die Normalität, für den anderen - möglicherweise - nicht). Und umgekehrt. Wenn ich orthodoxer Vegetarier bin und meine Hauptfigur Betreiber einer Currywurstbude, werde ich meine Ablehnung kaum unterdrücken können, also in die Figur einfließen lassen (vielleicht habe ich sie deshalb gewählt). Möglicherweise. Seltsame Fragestellung, das. Und, wie gesagt, der Begriff "Randgruppe" ist sowieso widerlich. :fetch

  • Tom ,


    mir gefällt er auch nicht. Wenn dir ein besserer einfällt, dann her damit. Ich muss bei Randgruppe immer an den Sportunterricht denken und dabei an die letzten auf der Bank, wenn es um die Volleyballmannschaften ging.


    Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ein Vegetarier ein anderes Buch über Currybuden schreiben würde als ein Fleischesser. Es würde mich sehr verwundern, schriebe der Vegetarier überhaupt einen ROMAN über eine Currybude. Vielleicht bin ich nicht ganz verstanden wurden. Ich versuche es mal mit einem Beispiel:


    Wenn ich doch ein Vegetarier bin, kann ich mich dann am Essen überhaupt erfreuen oder ist jegliche Nahrungsaufnahme ein ideologischer Akt? Schmeckt mir der Grünkernbratling, weil ich davon überzeugt bin, dass eben dieser Grünkernbratling (eines meiner Lieblingsworte) meinem Leib und meiner Seele und mir überhaupt wahnsinnig gut tut. Oder schmeckt mir der Grünkernbratling, weil er einfach so richtig lecker ist.
    Das meinte ich mit der "Randgruppenbrille". Bin ich als Vertreter einer Randgruppe zu einem relativ objektiven Blick überhaupt noch fähig? Oder hänge ich so fest in den "Randgruppenkonventionen und -regeln", dass ich im Grunde nicht mehr fähig bin, wahrhaftig zu schreiben.

  • Hi Tom,


    ja, aber eben weil ich doch anders normal bin, als andere, beeinflußt das doch auch mein Schreiben und meinen Blick in die Welt.
    Wäre ich ein Inzuchtkind oder im Dschungel aufgewachsen, wäre ich doch was familiäre Dinge oder die Natur anbelangt viel sensibler, würde damit ganz anders umgehen und auch anders darüber schreiben...
    Klar kann ich dann über andere Themen, die mein persönliches Leben nur teilweise oder wenig betreffen ganz anders schreiben, objektiver hoffentlich...


    Also Fazit: wenn ich einer Randgruppe angehöre, schreibe ich bewusster darüber und wahrscheinlich auch häufiger als über andere Dinge. Meine Herkunft, meine Seele, mein ICH hat doch unwahrscheinlich großen Einfluß auf mich, also auch auf meinen Schreibstil, auf die Themen, die mich beschäftigen und interessieren, etc.


    Gruß
    Mäkel

  • Zitat

    Original von Tom
    Seltsame Fragestellung, das.


    Find ich eigentlich nicht...


    Man könnte von einem guten Autor ja auch erwarten, dass er "alles" schreiben kann, wenn er es bloss vernünftig recherchiert - einen lesbischen Roman aus Lesbensicht oder einen aus Hetero-Sicht, ein Indien-Buch, obwohl er Mitteleuropäer ist, etc. Niemand wird von einem Autor erwarten, dass er Alkoholiker sein muss, um über einen Trunksüchtigen zu schreiben.


    Umgekehrt macht die Zugehörigkeit zu einer "Randgruppe" (mir fällt auch kein besseres Wort ein) jemanden noch nicht zu einem guten Autor für Bücher über diese "Randgruppe".


    Allerdings definieren sich Randgruppen-Zugehörige oft besonders stark über ihre Zugehörigkeit zu der Randgruppe; insofern liegt es 1) nahe, sich in ihrem Schreiben (wenn sie denn schreiben) darauf zu konzentrieren, und ist es 2) wahrscheinlich, dass sie als Leser solche Themen in Büchern besonders kritisch prüfen ("der hat ja keine Ahnung, wie das wirklich ist").

    Surround yourself with human beings, my dear James. They are easier to fight for than principles. (Ian Fleming, Casino Royale)

  • Hallo, Ines.


    Zitat

    Das meinte ich mit der "Randgruppenbrille". Bin ich als Vertreter einer Randgruppe zu einem relativ objektiven Blick überhaupt noch fähig?


    Nein. Und wer verdammtnocheins verlangt hier Objektivität? :wow


    Ein engagierter Pazifist wird keinen Kriegsroman schreiben können, der seine Figuren auf militaristisch-militärische Weise heroisiert. Er wird es auch nicht wollen. Er käme nicht auf diese Idee. Aber Du meinst vielleicht eher Sachen wie: Wird sich die militante Nichtraucherin der Kommentare enthalten können, wenn die Figuren des Romans eine Kneipe betreten? Wird der engagierte Kämpfer für achtsamen Tourismus seine Cluburlauberfamilie in Ruhe lassen?


    Um ehrlich zu sein, mir kommt die Fragestellung insgesamt etwas an den Haaren herbeigezogen vor. Die Antwort auf all das liegt in der Sache selbst. Möglicherweise gibt es Autoren, die ihren Job so weit von der eigenen Persönlichkeit trennen können, daß keine Figur und keine Äußerung autobiographische Züge hat. Sehr wahrscheinlich gibt es solche Leute, vielleicht sogar viele. Aber das ist doch völlig egal. Wenn die militante Nichtraucherin einen interessanten Roman schreibt, obwohl sie auf jeder zweiten Seite über die Qualmer herzieht, dann ist das absolut okay.


    Ich habe etwas gegen Mainstream, vor allem, was Musik anbetrifft. Ich habe das in meinem ersten Buch ein wenig thematisiert. Aber nur ein bißchen. Die Titel, die ich als Überschriften gewählt habe, sind teilweise ziemlicher Mainstream. In meinem zweiten Buch beschäftige ich mich nur noch am Rand mit dieser Thematik, und auch kaum noch mit erhobenem Zeigefinger. Und wenn ich auflege, dann spiele ich das, was die Leute hören wollen, weil sie ihren Spaß haben wollen, nicht meinen.


    (Am Rande: Ich kann Deine privaten Nachrichten nicht beantworten, weil Du mich - wahrscheinlich wegen meines vorletzten Wettbewerbsbeitrages - auf die Ignorier-Liste gesetzt hast. :grin)

  • Tom ,


    stimmt, ich hatte dich in einer Spontanaktion auf die Ignorierliste gesetzt. In der Zwischenzeit hatte ich das aber schon wieder vergessen. Pardon, ich kann mich emotional über die Maßen engagieren, um die Angelegenheit aber nach fünf Minuten bereits wieder zu vergessen.


    Die Fragestellung ist nicht an den Haaren herbei gezogen. Es ist wohl eher so, dass ich mich mit allen möglichen Fragen einem Anliegen nähere, das mich seit einiger Zeit beschäftigt. Ich bin wohl unnötige Umwege gegangen. Das geschieht immer, wenn ich einen Gedanken noch nicht bis zum Ende gedacht habe. Also jetzt noch einmal von vorn:


    Wenn ich zeitgenössische Literatur - und insbesondere Popliteratur - lese, dann ist dort immer und immer von einem "ICH" die Rede. Nun komme ich aber aus der DDR und bin mit den Romanen von u.a. Christa Wolf aufgewachsen. Auch Christa Wolf schreibt "ICH", doch ihr "ICH" erweckt die Assoziation von "Ich bin ein Mensch" im humanistischen Sinn in mir. Bei der heutigen Literatur habe ich jedoch den Eindruck, dass mit ICH sehr oft "Ich bin größer, schöner, reicher, kreativer, origineller usw." gemeint ist.
    Verstehst du? Ich habe Sehnsucht nach Büchern, in denen das ICH als Beispiel zur Demonstration von etwas geht, das über das meist sehr banale ICH hinaus geht. Wenn Christa Wolf ein Buch mit dem Titel "Nachdenken über Christa T." schreibt, dann berichtet sie darin zwar vom Leben ihrer Freundin Christa T., aber sie nimmt deren Leben nur als Beispiel, um damit eine gesellschaftliche Bestandsaufnahme zu machen. Es geht einfach um mehr als um persönliche Gefühle und Befindlichkeiten.
    Ich habe das zeitgenössische "ICH" derzeit herzlich satt und sehne mich sehr nach Büchern, in denen ein einzelnes Ich als pars pro toto steht.
    Es ist einfach nicht interessant, was z.Bsp. Alexa Henning von Lange persönlich über Gott denkt. Aber es wäre interessant, an ihrem Beispiel zu erfahren, wie die Leute ihrer Generation über Gott denken. (Das ist vielleicht kein gutes Beispiel, ich hoffe, du verstehst es dennoch).
    Die Randgruppenfrage ist demnach eigentlich auch nur die Frage danach, ob die Zugehörigkeit eine bestimmte Weltsicht vermittelt, bei der man nicht ewig um die eigene Befindlichkeit kreist. Ich stelle mir immer vor, dass eine lesbische Frau viel besser über die Rolle der Frau informiert ist oder ein Vegetarier über die Tierzucht. Vielleicht ist das naiv. Die Randgruppenmitglieder werden sicher von einigen nur über ihre Randgruppe definiert. Vielleicht glaube ich, dass durch diese Gruppenstigmatisierung das eigene Ich ein bisschen in den Hintergrund tritt.


    Naja, ich hoffe, du kannst verstehen, was ich meine. Deine Ansicht dazu interessiert mich. Wie ergeht es dir (und allen anderen Eulen) mit dem ICH?

  • Hallo, Ines.


    Es sind zwei Dinge, vielleicht verschieden, vielleicht aber auch nicht.


    Das "ICH" als Bestandteil, zuvorderst, danach als Persönlichkeit, als Person, richtig? Als reflektierendes Element, austauschbar, aber zutiefst individuell. Was kein Widerspruch ist. Geprägt durch die Autorin, austauschbar als Protagonistin. Eine Stimme, eine Sicht, ein Standpunkt, eine Geschichte. Zwingend gebunden, fiktional (ab-)lösbar.


    Und dann die vermeintliche Stigmatisierung. "Randgruppen" (Eigenschaftsmengen, Interessengruppen) prägen zuweilen. Die "Randgruppe" der Currywurstmitchiliesser prägt allerdings weit weniger als die der Schwulen und Lesben. Das liegt daran, daß mit zweiterem ein gesellschaftlicher Konflikt einherging, ein Emanzipationsprozeß, der längst nicht abgeschlossen ist. Das Ausländersein in einem fremden Land ist auf passive Art prägend; neue und alte Zeit prallen aufeinander, in einem Menschen. Fanatische Leute (religiöser Natur, aber auch in vielen anderen Bereichen, beginnend bei der Erziehung und bei der Ernährung nicht endend) ordnen sich zuweilen dem eigenen Fanatismus unter, so daß die Weltsicht einer fortdauernden Beeinflussung unterliegt. Menschen, deren Leben tektonischen Verwerfungen ausgesetzt wurde, weil sie Katastrophen erleben mußten, gleich welcher Art. Kinder von Alkoholikern und Schlägern. Personen, die in einem ... angstrengenden sozialen Umfeld aufgewachsen sind. Überhaupt Leute, die viel mit Gewalt konfrontiert wurden. Undsoweiter undsoweiter. All diese Leute sind auf besondere Art sensiblisiert (und sicher auch, wie Du schreibst, kenntnisreicher) auf bestimmten "Gebieten". Für manch ein Gebiet sind sie nachgerade Experten, während andere, "normale" Menschen nie mit der Thematik in Berührung kommen.


    Einen Nichtschwulen müssen Schwule/Schwulsein nicht interessieren, einem Schwulen können sie nicht egal sein. Das meine ich mit Prägung. Diese "Themen" binden zuweilen die Persönlichkeit. Ich kenne ziemlich viele Schwule. Es gibt einen "schwulen Blick" auf die Welt, häufig auf recht humorvolle Weise, manchmal nicht. Ich weiß von vielen Menschen, die andere einer kritischen Prüfung hinsichtlich der eigenen "Leidenschaft" (Veganertum, Christentum, Antiautoritärerziehertum) unterziehen, die eine Vorbewertung durchführen, sich sogar nur mit "ihresgleichen" umgeben. Für die Menschen schlecht, nichtswürdig sind, die dieser "Leidenschaft" nicht anhängen/nachgehen.


    Ein Autor sollte m.E. offen für alles sein. Autoren sind schwarze Löcher, die alles um sich herum aufsaugen und dann - verändert, manchmal auf orginelle Art - wieder ausscheiden. Damit meine ich nicht, daß ein Autor keine eigene Meinung haben sollte, aber wenn er nicht nur ganz schrecklich langweilige Bücher schreiben will, muß er andere zu-, zu Worte kommen lassen. Deshalb glaube ich nicht, daß fanatische Veganer, Christen, Vorkämpfer für Laissez-faire-Erziehung gute Bücher schreiben können, oder wenigstens mehr als eines. Und auf der anderen Seite bin ich der Meinung, daß es bei einem wirklich guten Schriftsteller völlig egal ist, ob er schwul ist oder nicht, weil ein wirklich guter Schriftsteller entweder superinteressante "schwule" Bücher schreiben wird - oder dieses, sein Schwulsein weder vorrangig thematisieren, noch als "Filter" in seine Geschichten einfließen lassen wird.


    Alle Menschen haben Ängste, lieben zuweilen, träumen, hoffen, sehnen. Davon erzählen die allermeisten Geschichten. Das Individuum, das diese Geschichten erzählt, sorgt für die Unterscheidbarkeit und Originalität.


    Sorry, wenn ich die erste Frage nicht beantwortet habe, ich kann sie, fürchte ich, nicht beantworten. Mir ist das persönliche, personalisierte ICH lieber. Der Mensch, den ich mir als einzelnen vorstellen kann.

  • Zitat

    Nennt man das nicht Minderheiten?


    Klingt besser, aber ist es angemessener? "Minder"heit qualifiziert, disqualifiziert, zumindest quantitativ. Ich halte das für den falschen Betrachtungsansatz, zu sagen, daß die, die etwas nicht sind, in der Mehrheit denjenigen gegenüber sind, die etwas sind. Davon abgesehen halte ich die Qualifizierung von Menschen über einzelne Eigenschaften (schwul, Vegetarier, Bücherleser) sowieso für verkehrt, sogar für gefährlich, was das dieserartige Vorgehen gegenüber Menschen mit bestimmten Hautfarben, Religionszugehörigkeiten usw. usf. schon oft gezeigt hat und immer wieder zeigt.

  • Randgruppe:


    Liebe Ines


    Gehört nicht jeder Mensch zu einer Randgruppe? Jeder hat schon mal erlebt, dass er ausgeschlossen worden ist. Mal mehr- mal weniger. Ist das nicht das Normale?
    Wer kennt es nicht: Stehparty. Jeder redet mit jedem. Nur ich stehe in einer Ecke, ganz alleine, völlig verlassen, schon halb verdurstet und verhungert. Und übersehe, dass in den anderen Ecken auch Menschen stehen, die zu niemandem zu gehören scheinen.


    Liebe Grüsse
    Sandra

  • Ich habe jetzt eine ganze Weile darüber nachgedacht ...


    Keine Ahnung, wie andere Autoren das sehen, aber ich betrachte mich eigentlich nicht als soziologisches Phänomen -- offen gestanden, ich ziehe es vor, mich den Schubladiermethoden der empirischen Wissenschaften zu verweigern.
    Menschen sind primär Individuen, und wie nahezu alle hier schon feststellten, erfährt jeder Mensch immer wieder Ablehnung durch andere Menschen, sei 's weil sie blond ist, sei 's weil er schwul ist, sei 's weil sie Rollstuhl fährt, sei 's weil er gerne Heavy Metal hört, usw. usf.


    Kein Mensch definiert sich durch eine einzige Eigenschaft außer der, Mensch zu sein. ;-) Anders gesagt: Das Gros unserer Eigenschaften ist veränderlich. Ca. alle 7 Jahre sind unser Atome einmal komplett ausgetauscht. Selbst unser "Ich", das sei ein paar hundert Jahren als philosophische Konstante durch die Gesistesgeschichte spukt, ist nichts in Stein gemeißeltes: Das "Ich", das ich vor 20 Jahren war, ist mir heute fremd, hat Ansichten und Eigenarten, über die ich heute den Kopf schüttele.


    Aber ich möchte hier nicht anfangen, in philosphische Tiefen abzutauchen. Deshalb lasse ich das einfach mal so stehen. Eine meiner Eigenschaften ist die "Autorin" zu sein. Das war ich nicht immer, das ist mir abgesehen von einigen Voraussetzungen nicht angeboren, und ob ich es immer sein werden ...? Ich weiß es nicht. Ich war mal Anwendungsprogrammiererin, sogar gar keine schlechte, aber irgendwann habe ich es gelassen. Ich war mal Häuserbesetzerin -- das ist lang verjährt, und heute würde ich es auch sicher nicht mehr tun! :-)
    Ich habe mich auch mal als Randgruppe empfunden ...
    Und heute denke ich, daß das schrecklich dumm war. Wie Teenager eben so sind. Ich bin drum nicht "angepaßt" -- oder doch, aber es ist mir egal. :grin


    Das hat alles nicht viel mit meiner Liebe zum Erzählen zu tun.


    Sandra, ich denke auch, daß jeder von uns sich mal im Zentrum, mal am Rand der jeweiligen "Gesellschaft" sieht und mal irgendwo im Gemenge. Es kommt darauf an, wo man sich selbst positioniert und wie man das nach außen trägt.

  • Zitat

    Original von Tom


    Klingt besser, aber ist es angemessener? "Minder"heit qualifiziert, disqualifiziert, zumindest quantitativ. Ich halte das für den falschen Betrachtungsansatz, zu sagen, daß die, die etwas nicht sind, in der Mehrheit denjenigen gegenüber sind, die etwas sind. Davon abgesehen halte ich die Qualifizierung von Menschen über einzelne Eigenschaften (schwul, Vegetarier, Bücherleser) sowieso für verkehrt, sogar für gefährlich, was das dieserartige Vorgehen gegenüber Menschen mit bestimmten Hautfarben, Religionszugehörigkeiten usw. usf. schon oft gezeigt hat und immer wieder zeigt.


    Wenn es diese Art der "Kategorisierung" aber gar nicht gibt, wer vertritt dann ihre Interessen? Für die Interessenvertretung finde ich es sehr gut, da ansonsten bestimmte Interessen nie beachtet werden. Die Beurteilung eines Menschen nach einer Kategorie ist ja damit nicht eingeschlossen.


    Ich glaube auch, dass das nur etwas damit zu tun hat, dass es halt weniger sind als die Mehrheit, und nicht, dass sie von minderer Qualität gemeint ist.


    Außerdem sind die Minderheiten genauso etwas, wie die Mehheiten es so betrachtet dann nicht sind.



    JASS :keks

  • Zitat

    Wenn es diese Art der "Kategorisierung" aber gar nicht gibt, wer vertritt dann ihre Interessen?


    Ist ein Tennisspieler ausschließlich Tennisspieler? Ein Parteimitglied nur Parteimitglied? Ein Vegetarier ausschließlich Blümchenesser? Macht ein Homosexueller nichts anderes als homoerotischem Sex nachzugehen? Pimpert ein Hetero pausenlos seinen Partner? Das sind Eigenschaften, Leidenschaften, Betätigungsfelder, Interessen. Sie betreffen immer nur einen Aspekt des Menschen, und die Hautfarbe z.B. meiner Meinung nach überhaupt keinen. Wenn es erforderlich sein sollte, für dieses Interesse einzustehen, etwa bessere Sportbedingungen einzufordern oder eine Besserbehandlung homosexueller Menschen, dann kann es Sinn machen, sich zu organisieren. Es gibt aber genauso z.B. Schwule, die überhaupt kein Interesse daran haben, diesen Aspekt ihres Seins in den Vordergrund zu stellen.


    Ein Tennisspieler ist ein Mensch, der u.a. gerne Tennis spielt. Ein Parteimitglied ist jemand, der sich u.a. politisch engagiert (er kann, z.B., gleichzeitig leidenschaftlicher Tennisspieler und außerdem schwul sein). Ein Vegetarier hat sich für eine bestimmte Ernährungsform entschieden, auch er kann Tennisspieler, schwul und Parteimitglied sein. Undsoweiter. Diese "Kategorisierungen", über die wir reden, haben mitnichten den Sinn, die "Interessen" dieser "Gruppen" (die keine sind) wahrzunehmen. Häufig ist das genaue Gegenteil der Fall. Eine Kategorisierung der Menschen nach Hautfarben macht nicht den leisesten Sinn. Sie dient ausschließlich dem Zweck, diese Eigenschaft zwecks Diskreditierung in den Vordergrund zu stellen.


    Ich halte nichts von oktroyiertem Gruppenzwang. Weder durch diese Gruppe, noch durch andere.

  • Es ist sehr viel über Minderheiten und Randgruppen geschrieben worden. Sehr aufschlussreich, mein Dachstübchen glüht.
    Lass` es uns noch einwenig auf die Spitze treiben: Wer möchte zur Mehrheit gehören?
    Was ist die Mehrheit?
    Was kann ich tun, um im Club der Mehrheit aufgenommen zu werden?
    Was für einen Charakter brauche ich, wieviel Geld, was für ein Aussehen oder Ansehen usw.?
    Kennt ihr jemand, der zur Mehrheit gehört? Würdet ihr ihn beneiden? Gibt es hier jemand, der von sich sagen würde, ich gehöre zur Mehrheit?


    Liebe Grüsse
    Sandra