Großartig
Hannover, Anfang der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts: Die Elevin Lieselotte absolviert erfolgreich die Abschlussprüfung an der berühmten Gymnastikschule von Berta Habenicht. Was Lieselotte nicht weiß: Die Schulleiterin hat die begabte und willensstarke junge Frau längst als Nachfolgerin im Auge. Was Berta Habenicht nicht weiß: Die talentierte Schülerin ist schon seit einiger Zeit in die kühle, etwas narzisstische und heimlich in einer lesbischen Beziehung lebende Schulinhaberin verliebt. Als sie dies - einige Zeit nach der erfolgten Prüfung - schüchtern zu gestehen versucht, wird sie brüsk zurückgewiesen. Diese Zurückweisung und eine Reihe nachfolgender Missverständnisse legen das Fundament für einen Konflikt, der zwischen den beiden beeindruckenden Frauen jahrelang schwelen wird - und jede von ihnen mehrfach an die Grenzen der eigenen Existenz führt. Außerdem ist es dieses Ereignis, das Lieselotte für eine sehr lange Zeit davon abhält, sich die eigene sexuelle Präferenz einzugestehen und sie stattdessen zwingt, ein bürgerlich-normales (Ehe-)Leben zu führen, zumindest nach außen.
Dorit David erzählt in diesem wissensreichen, einfühlsamen, elegischen, liebenswürdigen und sehr authentisch anmutenden Roman - ihrem sechsten - aber nicht nur die Geschichte der beiden Frauen und ihrer Hassliebe. Sie erzählt von der Gymnastik und vom Tanz, vom Körperkult und der Körperschule, aber auch von der Bedeutung der "Ertüchtigung" aus Sicht der Nazis, die zuerst im Hintergrund stehen und im Verlauf der Handlung mehr und mehr Einfluss auf sie nehmen. Die anwachsende Bedrohung, die von nicht wenigen als Instrument verwendet wurde, um sich leidiger Widersacher zu entledigen - eine Versuchung, der auch die Heldinnen nicht widerstehen können -, baut sich wie eine braune Wand auf, die am Ende alles umschließt und erdrückt. "Unter ihren Augen" ist insofern ein historischer Roman, der sich nicht in Effekthascherei versteigert, um die Bedrohung zu vermitteln, weil er sich ganz und gar auf seine sehr plastischen Figuren, sein bis in jede Nebenrolle perfektes Personal verlassen kann. Er ist auch eine Liebesgeschichte, ein Entwicklungsroman, eine Milieustudie und ein Zeitbild.
Es klingt immer ein bisschen ungut, von "Mühe" zu sprechen, wenn es um Kunst geht, aber es ist an dieser Stelle, finde ich, nicht falsch, die Mühe zu erwähnen, die sich die Autorin ohne Zweifel gemacht hat, um diese Geschichte so zu erzählen, dass man beim Lesen jederzeit das Gefühl hat, in der Zeit und Welt von Lieselotte, Berta Habenicht und all den anderen Figuren zu stecken, die vor hundert Jahren mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert waren wie wir jetzt, und zugleich mit völlig anderen. Diese Zeit, die am Anfang der Schilderung so beschaulich, possierlich und nostalgisch wirkt, entpuppt sich als mindestens ebenso problematisch wie jede andere, und sie ist letztlich der Nährboden für ein Grauen, das rasch in alle Ritzen der Gesellschaft drang. An dieser Stelle ist "Unter ihren Augen" auch eine Warnung.
Wenn es etwas zu kritisieren gäbe, dann vielleicht, dass der Roman am Anfang der zweiten Hälfte ein bisschen durchhängt und sich allzu viel Zeit mit der Geschichte lässt, bis er dann aber wieder an Fahrt aufnimmt, um umso fulminanter auf sein Ende zuzurauschen, das nicht wenige Überraschungen bereithält. Ich habe ihn ungeheuer gerne gelesen, und war trotz der Länge ziemlich wehmütig, als die letzte Seite erreicht war.
ASIN/ISBN: 3896562851 |