Die ersten drei Sätze eures aktuellen Buches (ab 23.08.2020)

  • "Alle Runterkommen! Familienrat!"

    Auch wenn ich mich ein bisschen wunderte, warum Dad so früh von der Arbeit zurück war und was "Familienrat " zu bedeuten hatte, blieb ich in meinem Zimmer. "PIZZA!", rief er hinterher. "Der Letzte, der kommt, kriegt die Hawaii!"

  • Wenn man in Zamonien das Bedürfnis nach vollkommener Harmonie hat, dann machte man Ferien im Großen Wald.

    Ein Aufenthalt im Großen Wald garantiert Forstnatur in ihrer vielfältigsten Art, nur hier standen Nadel- und Laubbaum einträchtig beisammen, wucherten Zyklopeneichen neben Druidenbirken, streckten sich Hutzenlärchen neben florinthischen Rottannen, hausten Eichhörnchen, Schuhu und Kassanderspecht.

    Dem dort lebenden Buntbärenvolk beim Zelebrieren seiner tagtäglichen Eintracht beizuwohnen war nach dem gewöhnlichen zamonischen Chaos so erholsam, dass sich daraus ein ganzer Tourismuszweig entwickelt hatte.

    Irrlicht und Hexe (7. Hexenregel: Unterschätze nie die Kraft des Wortes - es hat eine besondere Kraft, es kann befreien, anstoßen und verändern, aber auch verletzen und zerstören)

  • Es ist Montagnachmittag, ich sollte am Schreibtisch sitzen oder den Schreibtisch zumindest umkreisen. Stattdessen stehe ich auf einer vom Regen aufgeweichten Wiese und umkreise einen Baum, in Gesellschaft eines Zwergpinschermischlings namens Lori. Lori gehört meinem Nachbarn Herrn Pohl, der heute zu unglücklich ist, um Lori auszuführen.


  • Lindsay lachte - lachte wirklich, aus vollem Herzen - zum ersten Mal seit Monaten. Vielleicht sogar seit Jahren. So etwas machte sie sonst nie.

  • In einer nicht näher bestimmten Zeit dieser Geschichte, an zwei verschiedenen Orten in Kantō, fertigen zwei Kinder von vier und sechs Jahren eine Zeichnung an. Mio, das kleine Mädchen liegt bäuchlings auf dem Boden und wippt dabei mit den Beinen. Sie hat ordentlich geflochtene Zöpfe, feuchte dunkle Augen und trägt ein himmelblaues Kleidchen.


  • "Tja, als ich das erste Mal einen Menschen getötet habe, waren es eigentlich zwei. Mehr oder weniger gleichzeitig, oder direkt hintereinander, mit ein paar Sekunden Abstand dazwischen." Im Geiste der radikalen Ehrlichkeit schlief mein linkes Bein ein, während ich diese Worte sprach.


  • Der Jäger hat schöne Hände. Sie sind glatt und makellos, kein einziges Haar wächst auf den Handrücken. So schmal und feingliedrig, wie sie sind, könnten sie vielleicht sogar die Hände einer Frau sein.


  • Sofia Perikles konnte nicht anders, als immerfort den Kopf zu schütteln. Sie sah an sich herab. Ihre nackten Füße im weißen Sand, die abgeschnittene Jeans, aus der ihre dunkelbraunen Beine schauten, und immer fielen ihr Strähnen ihrer blonden Haare ins Gesicht, die sie recht umständlich mit ihrem linken Arm wegstrich, den rechten konnte sie immer noch nicht bewegen, weil er so dick verbunden war und außerdem tierisch schmerzte.


  • Hey, hey, bop shuop. Sie lehnte in ihrer Zelle am Gitter und lauschte den Klängen. Mbop bop shuop. Nun, wo alles, was sie sich mühsam erarbeitet hatte zerbrochen war, klammerte sie sich an die Musik - das Einzige, was ihr jetzt noch Halt gab.


  • Stellt euch den krankesten Ort von ganz Zamonien vor.

    Eine kleine Stadt mit krummen Straßen und schiefen Häusern, über der ein schauriges schwarzes Schloss auf einem dunklen Felsen thronte.

    In der es die seltensten Bakterien und kuriosesten Krankheiten gab: Hirnhusten, Lebermigräne, Magenmumps, Darmschnupfen, Ohrenbrausen und Nierenverzagen.


    Irrlicht und Hexe (7. Hexenregel: Unterschätze nie die Kraft des Wortes - es hat eine besondere Kraft, es kann befreien, anstoßen und verändern, aber auch verletzen und zerstören)

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  • Alles zählt.

    Eines Morgens, nicht lange nach dem Unfall, drehte ich mich auf dem Weg zur Schule an der Gartenpforte um und schaute zur Treppe zurück. Es waren nur zehn Stufen - ganz normale graue aus Stein, nicht aus Holz wie die zweiundzwanzig tückischen hinten am Haus.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Die vermutlich seltsamste Erfahrung, die ich während meiner überwiegend nächtlichen Arbeit an der Tankstelle machen durfte, fand tagsüber statt, an einem Wochenende, und nicht im Verkaufsraum der Tankstelle, sondern in einem sogenannten Wellnesshotel in Brandenburg – einem riesigen Schuppen mit Seezugang, Pornokanälen im Fernsehen und muffigem Personal. Es handelte sich um ein Seminar, das der Konzern für die Tankstellenpächter veranstaltete und bei dem es darum ging, die Verkaufsräume der Tankstellenshops zu optimieren. Stundenlang referierten Konzernmitarbeiter, die im mittleren Management festhingen und schwitzend darauf hofften, ins höhere Management aufzusteigen, vor ihren PowerPoint-Präsentationen davon, wo man Schokoriegel, Chipstüten und Sechserträger zu platzieren hätte, damit sie von Leuten gekauft wurden, die eigentlich keine Schokoriegel, Chipstüten oder Sechserträger kaufen wollten.

  • Wenn man etwas gut Beleuchtetes lange anschaut und dann die Augen schließt, sieht man dasselbe vor dem inneren Auge noch mal, als unbewegtes Nachbild, in dem das, was eigentlich hell war, dunkel ist, und das, was eigentlich dunkel war, hell erscheint. Wenn man zum Beispiel einem Mann nachsieht, der die Straße hinuntergeht und sich immer wieder umdreht, um einem ein letztes, ein allerletztes, ein allerallerletztes Mal zuzuwinken, und dann die Augen schließt, sieht man hinter den Lidern die angehaltene Bewegung des allerallerletzten Winkens, das angehaltene Lächeln, und die dunklen Haare des Mannes sind dann hell, und seine hellen Augen sind dann sehr dunkel.

    Wenn das, was man lange angeschaut hat, etwas Bedeutsames war, etwas, sagte Selma, das das ganze großflächige Leben in einer einzigen Bewegung umdreht, dann taucht dieses Nachbild immer wieder auf.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Der Held dieser Geschichte – und zwar in Wahrheit ein Held, wenn man diese Bezeichnung nicht einem Menschen, der mit Aufgebot aller Kraft leidvoll nach einem hohen Ziele ring, ungerecht weigern will – hatte auch einen heroischen Vornamen. Er hiess >Sender<, in welcher gedrückten, gleichsam ausgeknochen Form der stolze Name Alexander, den die Juden in einer glorreichen Zeit ihrer Geschichte von den Hellenen übernommen, unter ihren gequälten, geknechteten Nachkommen im Osten Europas fortlebt. Minder heldenhaft klingt sein Zuname: Glatteis, den irgend ein Zufall oder die Laune eines Beamten seinem Grossvater zugeteilt hatte.