Die ersten drei Sätze eures aktuellen Buches (ab 23.08.2020)

  • Ein Sprichwort besagt, gäbe es das Dunkel nicht, wüssten wir nicht von den Sternen. Während Rita an Deck der Vancouver Island Fähre stand, die gerade auf das kanadische Festland zusteuerte, fragte sie sich, ob es diese Sterne in ihrem Leben überhaupt gab. Wenn man zu lange in der Dunkelheit lebte, war man vielleicht gar nicht mehr in der Lage, sie zu sehen.


  • Zwei Jahre nach Kriegsende schleppte Emma noch immer Steine. Zwei Jahre, nachdem die letzte Bombe gefallen war, nachdem die fremden Soldaten durchs Dorf gezogen waren mit Gewehren im Anschlag, ab und zu etwas gerufen hatten, in einer fremden Sprache, Amerikanisch, wie Frieda gesagt hatte. "Das sind Amerikaner", hatte sie geflüstert, als ob man sie auch dort unten im Keller hören könnte.


  • Sie lernte nicht. Sie wollte lernen, sie hatte es vor, sie würde jeden Moment damit anfangen. Aber erst wollte sie das Album zu Ende hören - das neue von den Talking Heads mit der bassbetonten Coverversion von "Take me to the River", das sie nicht oft genug hören konnte - und durch alle Fernsehkanäle zappen, während sie ihre tägliche Dosis Dinatriumguanylat, autolysierten Hefeextrakt und ausgeschmolzenes Hühnerfett zu sich nahm.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • "Machen Sie eine Pilgerfahrt?"

    Die Pfarrerin, die auf dem Weg vom Kirchenportal zu ihrem Wagen auf Aron aufmerksam geworden ist, bleibt stehen und betrachtet den langen, hölzernen Stock, den seine rechte Hand umklammert. Er sieht aus, als würde er sich wie ein müder Wanderer darauf stützen.

  • Sieht man diesen Ort zum ersten Mal, das Schloss mit der schönbrunnergelben Fassade und der abbröckelnden graugelben Rückseite, den Park mit seinen Wiesen und Sportplätzen, seinem bewaldeten Hügel und seiner Grotte, dann ist die Mauer, die ihn umgibt und deren Höhe je nach Steigung der Argentinier- und Favoritenstraße zwischen zwei und vier Metern schwankt, wahrscheinlich das Letzte, was einem auffällt. Warum sollte man auch an die Mauer denken beim Tag der offenen Tür? Die Kinder sehen ja so viel anderes, die Tennis- und die Beachvolleyballplätze, das Hallenbad, den Parkettturnsaal, die Multifunktionshalle, die Sala terrena und, wenn sie ihren Blick nach unten auf die eigenen Füße richten, den Steinboden, dessen große Platten über die Jahrhunderte von Tausenden Schlapfen glatt geschliffen wurden.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Im Jahre 1888 war Herr v. Pasenow siebzig Jahre alt, und es gab Menschen, die ein merkwürdiges und unerklärliches Gefühl der Abneigung verspürten, wenn sie ihn über die Strassen Berlins daherkommen sahen, ja, die in ihrer Abneigung sogar behaupteten, dass dies ein böser alter Mann sein müsse. Klein, aber von richtigen Proportionen, kein hagerer Greis, aber auch kein Fettwanst: er war sehr richtig proportioniert, und der Zylinder, den er in Berlin aufzusetzen pflegte, wirkte durchaus nicht lächerlich. Er trug den Bart Kaiser Wilhelm I., doch kürzer geschoren, und an seinen Wangen war nichts von der weissen Wolle zu bemerken, die dem Herrscher das leutselige Aussehen verlieh; sogar das Haupthaar, kaum gelichtet, wies bloss einige weisse Fäden auf; trotz seiner siebzig Jahre hatte es sich die Blondheit seiner Jugend erhalten, jenes rötliche Blond, das an faulendes Stroh erinnert und einem alten Manne, den man sich lieber mit würdiger Behaarung dächte, eigentlich nicht ansteht.

  • Meine Mutter starb diesen Sommer.

    Ein Lied im Radio war nur noch Geräusch und keine Einladung mehr mitzusingen, obwohl keine von uns den Text kannte. Ein Regenguss war nur noch Wetter und keine Gelegenheit mehr, nach draussen zu laufen und barfuss in einer Pfütze zu tanzen.

  • Es gab hier richtig gemeine Bäume und es gab Wartemal-Bäume und des gab ein Gebäude, das nicht existierte.

    Die richtig gemeinen Bäume hatten massenweise fünfzehn Zentimeter lange Dornen, die ihre Stämme schützten. Wenn man einen davon anfasste, bekam man eine schmerzhafte Lektion erteilt.


  • «Ich habe einen Freund », lautet Sayas SMS.

    « Was ist er denn für’n Typ? » schrieb ich zurück.

    « Arzt », antwortete sie lapidar.

  • Zahara Kennedy schrie, als hätte der Teufel persönlich seine Klauen in ihrem Körper geschlagen. Sie schrie, als sie in den Salon der riesigen Hochzeitslocation stürzte und in dem wieder aufflammenden Deckenlicht den leblosen Körper ihrer Tochter sah. Sie schrie, als sie die junge Frau in ihren Armen hielt, mit silbergefärbten Lippen und der ansonsten totenblassen Haut.

  • "Einmal noch, Kindchen", sagte der Krankenwagenfahrer, nahm das von Schüttelfrost gepeinigte blonde Mädchen nicht zum ersten Mal an diesem bitteren Tag auf seine Arme und stapfte mit ihm durch den Schnee. Die Lichter waren gleißend hell. Schwestern und Ärzte erwarteten sie.


  • Kurz vor ihrem Tod hat meine Mutter mir einen Schuhkarton voller Briefe vermacht. Es sind die Feldpostbriefe ihrer Brüder, die meine Onkel ihrer kleinen Schwester von den verschiedenen Fronten des Zweiten Weltkriegs geschrieben haben. Meine Mutter hat sie fein säuberlich aufbewahrt – genauso wie die Erinnerung an ihre gefallenen Brüder.

  • In die vertraute Geste, die Geste der Arbeit, die Tag für Tag wiederholte Geste hat sich eine Verzögerung eingeschlichen. Eine winzige Verzögerung, die es vorher nicht gab, eine Sekunde in der Schwebe. Und in dieser schwebenden, dieser verschwommenen Sekunde hat sich sofort das restliche Leben ausgebreitet, hat es sich bequem gemacht und seine Folgen nach sich gezogen.


  • Als der Agent des Federal Bureau of Narcotics Arthur J. Giuliani am 8. April 1946 seinen Posten als Narcotic Control Officer im amerikanischen Sektor Berlins antrat, war er 37 Jahre alt, sprach zwar etwas Französisch und Italienisch, beides aufgeschnappt in den Strassen New Yorks, aber kein Wort Deutsch. Die ehemalige Reichshauptstadt lag danieder, die Wunden, die britische und amerikanische Bomben sowie russisches Artilleriefeuer gerissen hatten, waren überall präsent. Schutt formte eine chiffrenhafte Skyline, in der die Geister der Vergangenheit spukten, während sich die künftigen Konflikte der Weltpolitik bereits andeuteten und die gebeutelten Bewohner nach dem kostbaren Gut der Normalität suchten.

  • Hellblau wölbt sich der Himmel bis zum Horizont über dem weiten Land. Nur ein paar wattige weiße Schönwetterwölkchen ganz hoch oben. Die flirrende Luft riecht schon nach Sommer, und Lene Marie fühlt die wohlige Wärme des Bodens unter den Sohlen ihrer bloßen Füße.