Die ersten drei Sätze eures aktuellen Buches (ab 23.08.2020)

  • Wenn Ernst Simmel gewußt hätte, daß er kurz davor war, das zweite Opfer des Henkers zu werden, hätte er sich vermutlich noch ein paar kräftige Drinks in der Blauen Barke gegönnt. Doch so begnügte er sich mit einem Cognac zum Kaffee und einem verdünnten Whiskey in der Bar, wobei er ziemlich fruchtlos und ohne wirkliches Engagement versuchte, mit einer blondierten Frau Blickkontakt aufzunehmen, die schräg gegenüber am Treseneck saß. Offensichtlich war es eine der Neueingestellten unten in der Konservenfabrik.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • (Prolog)


    Der kleinen Shelley war es langweilig. Sehr langweilig sogar. Sie hatte eine Sandburg gebaut, wieder zertrampelt, mit Wasser übergossen und zu einem See ausgebaggert.


    (Jetzt waren ihre Finger rosa geschrubbt vom feuchten Sand, ihr war heiß von der Sonne und ihre Mutter las immer noch.)


    Sasaornifee :eiskristall

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    "Ich habe nicht mehr Ambitionen zum Fliegen als ein verdammter Strandlöper!" - Die Insel der Tausend Leuchttürme - Walter Moers

  • Mein Alter und auch mein Zustand erfordern es mittlerweile, das ich mir vor dem Zubettgehen ordentlich die Füße wasche, für den Fall, dass ich in der Nacht von einem Krnakenwagen abgeholt werden muss. Wenn ich an jenem Abend in den Ephemeriden nachgesehen hätte, was am Himmel passiert, dann hätte ich mich überhaupt nicht schlafen gelegt. Doch so hatte ich noch mit einem Tässchen Hofpentee und zwei Baldrian-Dragees nachgeholfen und war fest eingeschlafen.


  • Bevor sie springt, spürt sie das kühle Metall der Dachkante unter den Füßen. Eigentlich springt sie nicht, sie macht einen Schritt ins Leere, setzt den Fuß in die Luft und lässt sich fallen, mit offenen Augen lässt sie sich fallen, will alles sehen auf dem Weg nach unten, alles sehen und hören und fühlen und riechen, denn sie wird nur einmal so fallen, und sie will, dass es sich lohnt; und nun fällt sie, fällt schnell, Adrenalin flutet ihre Kapillaren mit Hitze, als würden ihre Glieder vor Scham erröten, aber sie schämt sich nicht, sie fällt, fällt mit dem Gesicht nach unten, und alles dreht sich, während sie fällt, alle weitet sich in ihr, ihre Poren weiten sich und ihre Zellen, ihre Adern, ihre Gefäße, alles öffnet sich, schreit, sperrt sich auf, bevor es sich wieder zusammenzieht, ihr ganzer Körper eine Faust jetzt, die sich nach unten boxt und die Umgebung mitreißt, die Fassaden nur noch Striche auf den trockenen Pupillen, und Luft schneidet ihre Netzhaut, seziert ihr das Sichtfeld, etwas blendet und brennt in den Augen und im Mund, die Stadt dreht sich, dreht sich um sie herum, der Boden dreht sich ihr entgegen, kein anderes Geräusch jetzt als die Luft, in der sie sich dreht, die schneidende Luft, durch die sie fällt, die ihr die Kleidung gegen die Knochen schlägt, die ihr gegen den Brustkorb drückt und alles ganz nah jetzt, der Asphalt, die Fenster, die Köpfe, grün, blau, weiß, und wieder blau, und all die Haare im trockenen Mund, und das Herz steckt ihr groß in der Luftröhre fest, und sie rotiert jetzt i Fallen, rotiert auf den Rücken, ob sie will oder nicht.


    Der Tag davor


    Felix zerbiss einen Eiswürfel und seufzte, noch neunzehn Minuten bis zum zweiten Teil seiner Schicht.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • "Das Verhängnis begann mit einem Freudentag.

    Man schrieb den 28. Juli des Jahres 1496. Dom Manuel, König von Portugal, auch "der Glückliche" genannt, trat aus dem Zelt, das seine Männer im Schatten riesiger Korkeichen errichtet hatten."


    Sasaornifee :eiskristall

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    "Ich habe nicht mehr Ambitionen zum Fliegen als ein verdammter Strandlöper!" - Die Insel der Tausend Leuchttürme - Walter Moers

  • Es war Mrs May, die mir zuerst von ihnen erzählte. Nein - nicht mir.

    Warum hätte sie es auch ausgerechnet mir erzählen sollen, einem wilden, unordentlichen, eigensinnigen kleinen Mädchen mit funkelnden Augen, von dem man sagte, dass es manchmal vor Wut mit den Zähnen knirschen würde?


    Irrlicht und Hexe (7. Hexenregel: Unterschätze nie die Kraft des Wortes - es hat eine besondere Kraft, es kann befreien, anstoßen und verändern, aber auch verletzen und zerstören)

  • Das Problem ist nicht die Nacht, es ist die Finsternis, die ihre scharfen Krallen in die Seelen der Menschen treibt.

    Er wusste das wie kein anderer.

    Er nahm Drogen, hörte laute Musik in Endlosschleife oder lief stundenlang durch den Wald.

    Irrlicht und Hexe (7. Hexenregel: Unterschätze nie die Kraft des Wortes - es hat eine besondere Kraft, es kann befreien, anstoßen und verändern, aber auch verletzen und zerstören)

  • Von Henriette Bernhard, geborene Schöning, soll hier die Rede sein. Von ihrem Mut und Übermut, von ihrem Glück und Unglück, von ihrer Schuld und Unschuld und dem Bedürfnis, das Richtige zu tun. Als Kind war sie ein rechter Wildfang, eine, die ohne Angst schien und ständig ihre Grenzen auslotete.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Das Loch, das sie gruben, war nicht tief, nich mal einen Meter. Ein milchig weißer Mehlsack, fest zugebunden mit den Schnüren einer verschmutzten, einst weißen Schürze, umhüllte den kleinen Körper. Sie rollten den Sack über den Boden, obwohl er leicht genug war, um ihn hochzuheben.


  • NEW ORLEANS, AUGUST 1922


    Louis Armstrong hastete den Bahnsteig hinunter, denn der Panama Limited war schon angerollt, den Pappkoffer in der einen, den Kornettkasten und die Fahrkarte in der anderen Hand. Mit letzterer winkte er dem Bahnsteigschaffner, doch der würdigte sie keines Blickes. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, über den jungen Mann zu lachen, der sich, pausbäckig, verschwitzt und mit Gepäck überladen, abmühte, an den Waggons mit der Aufschrift Nur für Weiße vorbeizulaufen, um zu denen zu gelangen, auf die er aufspringen konnte, ohne Prügel fürchten zu müssen.


  • Jemanden umlegen, das ist noch gar nichts. Man muss beobachten, überwachen, nachdenken, sehr viel nachdenken, und im entscheidenden Augenblick eine Leere schaffen. Das ist es.


  • 12. Juni 2016

    Eine Entzugserscheinung konnte es nicht sein, er hatte genug getrunken. Schoch versuchte, das Ding zu fokussieren, das tief hinten in der Unterspülung des Uferwegs stand, dort, wo die Höhlendecke auf den sandigen Boden traf. Ein Kinderspielzeug.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Bevor ich ihn persönlich kennenlernte, hatte ich seine Werke schon dreimal zufällig gesehen. Wenn man bedenkt, dass er kein bekannter Bildhauer war und ich mich nicht besonders für Bildhauerei interessierte, kann man das durchaus als außergewöhnlich bezeichnen.

    Das erste Mal begegnete ich seinen Arbeiten vor fünf Jahren in der Stadt Gwangju, an einem Tag im Frühsommer.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Jeder der einmal zur Schule ging und sich noch erinnert, was ihm dort beigebracht wurde, weiß, dass Rügen die größte Insel Deutschlands ist und in der Ostsee vor der pommerschen Küste liegt.Um diese Insel wollte ich in jenem Sommer wandern, doch niemand erklärte sich bereit, mich zu begleiten. Dabei ist Wandern die ideale Fortbewegungsart, wenn man den Dingen auf den Grund gehen möchte, und der einzige Weg in die Freiheit