Die ersten drei Sätze eures aktuellen Buches (ab 23.08.2020)

  • Hätte die junge Mutter noch Augen, sie könnte den schützenden Wald sehen. Hätte sie noch ihre Haut, könnte sie die sanfte Kühle der herannahenden Nacht erahnen. Sie würde spüren, wie die Luft langsam feuchter wird und sich die länger werdenden Schatten der Bäume wie kühle Seide über ihren Körper legen.

  • Gerade als ich mich an den Gedanken zu gewöhnen begann, dass dieses Leben keine großen Abenteuer für mich bereithalten würde, geschah etwas Seltsames. Es war das erste einer Reihe von Ereignissen, und es versetzte mir einen furchtbaren Schock. So wie alles, was einen für immer verändert, teilte es mein Leben in zwei Hälften: vorher und nachher.


    "Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben: die Sterne der Nacht, die Blumen des Tages und die Augen der Kinder!" (Dante Alighieri)

  • Sie durchschneidet das Wasser und stellt sich vor, sie wäre ein tödlicher Strahl aus schwarzem Licht. Die Strömung streichelt über ihre glatte, geschmeidige Haut. Wenn ein Fisch ihren Weg kreuzt, wird sie ihn aufspießen und weiterschwimmen.

  • Als er aufwacht, fühlt es sich so an, als müssten die Lider gegen einen Widerstand ankämpfen.

    Während sein träge arbeitender Verstand zu verstehen versucht, was das zu bedeuten hat, nimmt er verwaschene , konturlose Flecken wahr.
    Er zwinkert ein-, zweimal, was das Bild allerdings nicht klarer macht.


    Viele Grüße
    Thomas


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    wyrd bid ful aræd - Das Schicksal ist unausweichlich

  • Der Mann mir gegenüber im Erster-Klasse-Abteil trug einen glänzenden schwarzen Zylinderhut, der vom Deckel bis zum Rand mit einem glänzenden weißen Seidentuch drapiert war.

    Es bewegte sich anmutig fließend in der sanften Luftströmung und erweckte den Eindruck, die im Übrigen würdevolle Erscheinung des Fremden könnte von einem Augenblick zum anderen levitieren und über unsere Köpfe hinweg entlang der Gepäckanlage schweben.

    Die Vorstellung brachte mich zum Lächeln, denn der Träger des Hutes war in jeglicher anderer Hinsicht eine ordentlich, ja peinlich korrekt gekleidete Gestalt.

    Irrlicht und Hexe (7. Hexenregel: Unterschätze nie die Kraft des Wortes - es hat eine besondere Kraft, es kann befreien, anstoßen und verändern, aber auch verletzen und zerstören)

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  • Stille Angst und lärmendes Schweigen lauerten in den Schatten einer Blockhütte, in der der Holzfäller Agyron, seine Frau Issia und ihre zwei kleinen Kinder zu Abend aßen.

    Die Sonne war vor Stunden hinter dem Dorf Arinsor untergegangen und die Dunkelheit verschlang den umliegenden Wald.

    Nach dem langen Arbeitstag waren alle müde und so wurde nicht gesprochen, sondern schweigend beim flackernden Schein einer kleinen, goldenen Laterne gegessen.


    Irrlicht und Hexe (7. Hexenregel: Unterschätze nie die Kraft des Wortes - es hat eine besondere Kraft, es kann befreien, anstoßen und verändern, aber auch verletzen und zerstören)

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  • Die Stille gibt es nicht. Schon gar nicht jetzt, wenn es plätschert und taut. Glaubt man, es ist still, ganz still, dann rauscht immer noch ein Bach in der Ferne.


  • Ich will mich nicht beklagen. Ich werde gut bezahlt, nicht gemobbt, auch Überstunden gibt es kaum. Dafür, dass ich in einer Branche arbeite, in der es vor Platzhirschen, Zampanos und Cholerikern nur so wimmelt, habe ich es ganz gut getroffen.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Wenn es nach mir ginge, würde ich meinen Samstagabend wie folgt verbringen: Zuerst würde ich ein langes entspanntes Schaumbad nehmen und mich danach mit einer großen Tasse heißer Schokolade und einem Buch gemütlich auf meine Sofa lümmeln. Leider war das Leben ja bekanntlich kein Wunschkonzert und meins verlief definitiv nicht nach meinen Wünschen.

  • Der erste Mensch, den ich nach längerer Zeit sprach, war, abgesehen vom mürrischen Taxifahrer, mit dem ich am Anfang und Ende der Fahrt einige knappe Worte gewechselt hatte, ein magerer, dunkler junger Mann in der nostalgischen roten Livree eines Piccolo. Schon von Weitem sah ich ihn, während das Taxi zwischen den Platanen knirschend auf das Ende der langen Kiesauffahrt zufuhr, auf den von korinthischen Säulen eingerahmten Marmorstufen der Freitreppe zum Eingangsportal sitzen, über dem in Goldbuchstaben der Name Grand Hotel Europa stand. Er rauchte seine Zigarette zu Ende und erhob sich, um mir mit meinem Gepäck zu helfen.

  • Ich kann mich genau an den Moment erinnern, als mein Großvater sich verliebte. Er war in meinen Augen ein uralter Mensch - die fünfzig bereits überschritten - und sein neues, zartes Geheimnis überrollte mich mit einer Welle der Bewunderung, in die sich Schadenfreude mischte. Bis dahin hatte ich mich für das einzige Problem meiner Großeltern gehalten.


  • Auf dem Schrottplatz der Firma Jonas herrschte Hochbetrieb. Mrs. Mathilda Jonas hielt ihren Neffen Justus und seine Freunde Bob und Peter hübsch in Trab. Vor der schmucken kleinen Baracke, die sie sich als Büro eingerichtet hatte, saß sie auf einem Gartenstuhl aus Eisengeflecht und beobachtete mit Adleraugen die drei Jungen.


    "Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben: die Sterne der Nacht, die Blumen des Tages und die Augen der Kinder!" (Dante Alighieri)

  • Warum er den Hörer abgenommen hatte, konnte er sich später nicht mehr erklären.

    Er stand in der großen Unterführung des Berner Hauptbahnhofs und wollte von einem der wenigen öffentlichen Telefonapparate, die es noch gab, seine Frau anrufen, um ihr zu sagen, dass er mit einem späteren Zug komme, hatte auch schon seine Karte eingesteckt, als der Apparat neben ihm klingelte. Er schaute sich um, um zu sehen, ob da jemand war, der sich vielleicht zurückrufen ließ, aber erst am übernächsten Apparat sprach ein fremdländischer Mann eindringlich und leise in die Muschel, ohne auch nur den Kopf zu drehen.

  • Vier Monate und ein paar zerquetschte Tage nach meinem einundfünfzigsten Geburtstag musste ich ins Krankenhaus. Notfall. Noch immer erfüllt mich diese Tatsache mit Staunen und stets aufs Neue - drei, viermal am Tag- erschrecke ich, werde ich zornig, dass das, was passiert ist, mir passiert ist und ich es mir nicht nur ausgedacht oder gelesen habe.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Es waren noch knapp drei Wochen bis Weihnachten. Für Angela Wood markierte dieser Samstag den Startschuss dessen, was sie gerne als "Hochsaison" bezeichnete. Shoppingmalls, Einkaufsstraßen, selbst die kleinen Eckläden waren mit Kunstschnee, Lichterketten und buntem Weihnachtsschmuck herausgeputzt, und überall wimmelte es von Leuten, denen das Geld lockerer saß als sonst, weil sie nach dem perfekten Geschenk suchten.