Die ersten drei Sätze eures aktuellen Buches (ab 23.08.2020)

  • Alinas Mutter sprüht Parfüm auf ein Seidentuch, setzt einen weiteren Stoß in die duschfeuchte Badezimmerluft, dreht mit geschlossenen Augen eine Piruurtte in der niederrieselnden Wolke. Dann noch etwas Parüm auf das Handgelenk, das an den Hals getupft wird. Am Tag, an dem Dad sein Leben in Kartons gepackt und runter in den Honda getragen hat, saß Mama heulend in ihrem Zimmer und füllte den Online-Fragebogen zu "Vorlieben und Charaktereigenschaften" aus.


  • Die kühle Luft des Morgens hing wie ein zarter Schleier über der Seepromenade. Jule Hansens Füße trafen im Rhythmus von Kanye West Stronger auf den Asphalt, der bald von der Sonne aufgeheizt und von unzähligen Füßen bevölkert werden würde. Flip Flops.

  • Der neue Mensch ist da. Seine Produktion war angekündigt. Aber die Sowjetunion, die sich zur Herstellung des neuen Menschen verpflichtet hat, gibt es erst seit ein paar Stunden - seit Ende des vergangenen Jahres - und in dieser kurzen Zeit war selbst den entschlossensten Führern der Weltrevolution die Planerfüllung nicht möglich.


  • Benoit Courrèges, Chef de Police der Kleinstadt Saint-Denis und allen bekannt als Bruno, hatte sich so sehr auf diesen Tag gefreut, dass er nie auf die Idee gekommen wäre, er könnte tragisch enden. Die Aussicht darauf, den Helden seiner Jugend zu treffen, von ihm auf sein Schloss eingeladen zu werden und die Hand eines der illustresten Söhne Frankreichs zu schütteln, ließ ihn vor Ehrfurcht erschauern. Was bei ihm selten der Fall war.

  • Es war der letzte Brief in Irene Redfields kleinem Stapel Morgenpost. Nach den üblichen und deutlich adressierten Briefen zuvor wirkte der längliche Umschlag aus dünnem italienischem Papier mit dem fast unleserlichen Gekritzel fehl am Platz, fremdartig. Auch haftete ihm etwas Geheimnisvolles und leicht Verstohlenes an.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Draußen war ein Winter gewesen, der den Bildern, die wir früher vom Winter gehabt haben, nicht einmal entfernt glich. Saubere, tiefgekühlte Dezember mit Reif und kleinen Häusern, in denen gepflegte Familien vor Bratäpfeln saßen, gab es schon lange nicht mehr. Kein Schnee verdeckte die Unattraktivität der Welt, nur dunkelgrau war sie, klamm und verwaschen.


  • 1972 wurden der Zeit zwei Sekunden hinzugefügt. Großbritannien beschloss den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, und die New Seekers traten mit Beg, Steal or Borrow beim Grand Prix Eurovisioin de la Chanson an. Die Zusatzsekunden wurden notwendig, weil das Jahr ein Schaltjahr war und die Zeit nicht mehr im Takt mit der Erdbewegung.


  • Ein Cottage an der felsigen Küste, mit Kieferndielen voller Astlöcher und Fenstern, die fast immer offen stehen. Der Geruch nach Immergrün und Salzwasser, weiße Leinenvorhänge, die sich träge in der Brise blähen. Das Gurgeln der Kaffeemaschine und der erste Atemzug kalter Meerluft, als wir mit dampfenden Bechern auf die mit Steinplatten ausgelegte Terrasse treten.


  • Am 5. Juli 2001, dem Tag des Finales von Loft Story, saßen Mélanie Claux, ihre Eltern und ihre Schwester Sandra auf ihren angestammten Plätzen vor dem Fernseher. Seit dem Beginn der mit Big Brother verwandten Show am 26. April hatte sich die Familie Claux keine Folge der donnerstags zur Primetime ausgestrahlten Sendung entgehen lassen.

    Nachdem sie siebzig Tage an einem von der Außenwelt abgeschlossenen Ort - in einem Fertigbauhaus mit künstlichem Garten und echtem Hühnerstall - verbracht hatten, waren die letzten vier Kandidaten nun, wenige Minuten vor ihrer Befreiung, im großen Wohnzimmer versammelt worden; die beiden Jungs saßen dicht nebeneinander auf dem weißen Sofa, die beiden Mädchen auf den passenden Sesseln rechts und links davon.

  • Natürlich wollte ich wissen, was passiert ist. Was überhaupt passiert ist, bevor Edi im Hof zusammengeschlagen wurde. Sie lag auf der Wiese, ihre Haare ganz bleich und schmutzig.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Ein Irrgarten aus Eisschollen säumte die Küste, weiße Inseln im tiefblauen Meer. Es plätscherte leise, als Natuk das Doppelpaddel ein ums andere Mal in das eiskalte Wasser senkte und das qajaq mit kurzen, kräftigen Stößen vorantrieb.

    Es war noch das Boot, das seine Mutter einst für ihn gebaut hatte - auf die alte Weise, mit einem Rahmen aus Treibholz und einem Gerüst aus Knochen und Sehnen, das von Robbenhaut überzogen war.

  • Um die erste Jahrtausendwende wies noch kaum eine Siedlung zwischen Nordsee, Ostsee und Alpen städtischen Charakter auf. Zentralorte, an denen bereits einge Hundert oder gar Tausend Menschen lebten, gab es nur wenige. Die Zahl der Märkte in Mitteleuropa erreichte keine 500, und nicht aus allen entwickelten sich später ansehnliche Großsiedlungen.


  • Wie wir bereits berichteten, kam es am 26. August 1928 auf dem Schlachtensee zu einem tragischen Vorfall. Der Rechtsanwalt Dr. Reinhold Brüder (65) war mit seinem privaten Ruderboot auf dem See unterwegs. Er besaß ein Wochenendhaus am Nordufer und unternahm regelmäßig Bootspartien, bei denen er gelegentlich angelte.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

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  • Der Mann im Sarg öffnete die Augen und hörte seiner eigenen Beerdigung zu. Dumpfe Wortfetzen drangen bis hinunter in sein Grab, durchsetzt vom Klagen und Weinen einer Frau. Er glaubte zu wissen, wer dort weinte, und sein Herz füllte sich mit Sehnsucht.


  • An einem rauen Märzmorgen wurde O.V. Gulko, der Herausgeber einer liberalen Zeitung, auf der Uferstraße der Moika nahe der Polizejski-Brücke von zwei Männern angesprochen. Zeugen berichteten der Polizei später, dass der Größere der beiden Gulko aufgeregt zu schelten schien und dass Gulko, der sich offenbar körperlich bedroht fühlte, unruhig wurde und der ungewollten Aufmerksamkeit zu entkommen suchte. Dieser junge Mann zog ein Messer und sein Kamerad einen Revolver.


  • Die Dämmerung klammerte sich an den schwermütigen Morgen, wie um ihn zu beschützen, und hüllte die Straße in dunstig-graues Licht. Eine Autotür wurde zu schwungvoll zugeworfen, kurz darauf startete der Motor, ein Fahrradfahrer fuhr eilig über den Asphalt. Unbeirrt von den Geräuschen des Aufbruchs lief eine junge Frau in einem zu großen Mantel an den Wohnhäusern vorbei und blieb schließlich vor einem Gartentor stehen.

  • Wie wir bereits berichteten, kam es am 26. August 1928 auf dem Schlachtensee zu einem tragischen Unfall. Der Rechtsanwalt Dr. Reinhold Brüder (65) war mit seinem privaten Ruderboot auf dem See unterwegs. Er besaß ein Wochenendhaus am Nordufer und unternahm regelmäßig Bootspartien, bei denen er gelegentlich angelte.


  • Erinnerst du dich daran, wie du das erste Mal in deiner eigenen Wohnung, es war nicht mehr als ein Zimmer, etwas kochen wolltest und dir erst mittendrin aufgefallen ist, dass du noch Salz würdest kaufen müssen? Du besaßest nicht einmal einen Salzstreuer. Woran man nicht alles denken musste in einem Erwachsenenleben!

  • Vor dem Fenster knatterte die deutsche Flagge im Wind. Jeder erste Blick nach draußen war schwarz-rot-gelb. Ich nahm sie kaum noch wahr, die Flagge, sie war ein Teil des Himmels geworden, eine festhängende Wolke.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin