Die ersten drei Sätze eures aktuellen Buches (ab 23.08.2020)

  • Sam starrt zu der langsam heller werdenden Zimmerdecke hinauf und macht ihre Atemübung, wie es ihr die Ärztin geraten hat, während sie versucht, ihre Fünf-Uhr-morgens-Gedanken daran zu hindern, sich zu einer riesigen schwarzen Wolke über ihrem Kopf zusammenzuballen.

    Einatmen sechs Sekunden, drei halten, ausatmen sieben Sekunden.

    Ich bin gesund, betet sie stumm herunter.


  • Dieses Zimmer, in dem sich entschied, ob sich die Lebenszeit der Kinder nur in Tagen bemaß oder in Jahrzehnten, war der einzige Ort auf der Welt, an dem Anni glücklich war.

    Die Inkubatoren rauschten leise. Sie strahlten Wärme ab.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Es ist die erste Nacht des Jahres 1913, ein Schuss hallt durch die dunkle Nacht. Man hört ein kurzes Klicken, die Finger am Abzug spannen sich an, dann ein zweiter, dumpfer Schuss. Die alarmierte Polizei eilt herbei und nimmt den Schützen sofort fest: Er heißt Louis Armstrong.


  • Sogar der Kaiser, erzählt man, habe geweint: der göttliche Titus, Bezwinger Jerusalems. Soll man es glauben? Jedenfalls hat er den Überlebenden Hilfe versprochen: Aufbauhilfen, Entschädigungszahlungen für den verlorenen Besitz. Was natürlich Besitz voraussetzt.

  • Ellwood war ein Präfekt, deswegen hatte in dem Jahr ein famoses Zimmer, eines, durch dessen Fenster man auf einen merkwürdigen Dachvorsprung gelangte. Ständig kletterte er irgendwo herum, wo er nichts zu suchen hatte. Wer aber den Ausguck auf dem Dach am meisten liebte, war Gaunt.


  • Obwohl die Tür geschlossen war, türmte sich ein schmaler Streifen Sand auf den abgenutzten Bodendielen auf und schob sich zentimeterweise in den zugestellten Korridor hinein. Sand fand immer einen Weg, und es war ein müßiges Unterfangen, diesen ständig zu entfernen. Sie hatte es aufgegeben, bevor sie jemals damit angefangen hatte.

  • Benoit Courrrège, Chef de Police des kleinen französischen Ortes Saint-Denis und dort allen bekannt als Bruno, hatte in seinem Leben schon allzu viel Gewalt und Tod gesehen. Nach zwölf Jahren bei der französischen Armee und elf als Polizist im Périgord kannte er die verheerenden Verletzungen, die Artilleriegeschütze und Maschinengewehre hervorriefen, ebenso wie die Folgen schwerer Verkehrsunfälle. Und auch seine eigene Schussverletzung, die er sich einst in den verschneiten Bergen oberhalb Sarajevos zugezogen hatte, brachte sich in feuchtkalten Wintertagen regelmäßig durch einen pochenden Schmerz in der Hüfte in Erinnerung.


  • An seinem sechsunddreissigsten Geburtstag, dem 18. Mai, stand Travis Cornell um fünf Uhr früh auf. Er zog derbe Wanderstiefel, Jeans und ein langärmeliges blaukariertes Baumwollhemd an. Von seinem Heim in Santa Barbara steuerte er seinen Pick-up südwärts, bis ganz hinunter zum Santiago Canyon am Ostrand des Orange County südlich von Los Angeles.


  • In der Regel bekommen wir die Leiche nicht zu sehen, wenn sie ganz frisch sind. Jedem modernen Polizisten wird eingebläut , dass seine oberste Pflicht - nach dem Schutz von Leib und Leben- darin besteht, den Tatort vor Verunreinigungen zu bewahren. DAs heißt, die erste Kollegin vor Ort lässt niemanden durch, außer der Mordkommission.


  • Wenn jeder Mensch, wie Voltaire behauptet, die Schuld an all dem Guten trägt, das er nicht getan hat, dann habe ich fast ein leben damit verbracht, mich selbst davon zu überzeugen, dass ich keine Schuld an all dem Schlechten trage. Dies zu tun war eine angenehme Art, die Jahrzehnte der selbst auferlegten Verbannung aus der Vergangenheit zu ertragen und mich als Opfer historischer Amnesie zu betrachten, freigesprochen von Mittäterschaft, von keiner Verantwortung belastet.

    Die letzte Episode meines Lebens beginnt und endet jedoch ganz trivial mit einem Teppichmesser.


  • "Das Schicksal der Welt liegt nun in deinen Händen", wisperte der sterbende Mann.

    Josef sank in die Knie. Ein Blitz ließ ihn aufschrecken und Donner grollte, als wollte der Himmel diesen Worten Nachdruck verleihen.

  • Das Unglück mit dem Arm passierte kurz vor Jems dreizehntem Geburtstag. Als der komplizierte Ellbogenbruch verheilt war und die Sorge, nie mehr Football spielen zu können, hinfällig wurde, kümmerte sich mein Bruder kaum noch um seine Behinderung. Der linke Arm war etwas kürzer als der rechte; im Stehen und beim Gehen knickte der Handrücken rechtwinklig zum Körper ab, während der Daumen nach unten wies.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Die enge Gasse riecht muffig, weil die Märzsonne es nur selten bis in die letzte Ritze schafft und feuchte Flechten die Hausmauern violett tapezieren. Ein Klima, das Oskar auf die Lungen schlägt. Die Luft ist wie Kleister, zu zäh, um sie ohne Anstrengung wieder auszuhusten.


  • Bevor ich jemanden umbrachte, fand ich es immer beruhigend, die Bäume anzuschauen. Wie ich so auf dem Rücken im hohen Gras am Rand der Königsstraße lag und zum Geflecht der grünbraunen Äste hochblickte, die, begleitet vom Flüstern der Blätter, im spätmorgendlichen Wind knarrten, verspürte ich ein willkommene Gelassenheit. So war es damals schon gewesen, vor zehn Jahren, als ich als kleiner Junge meine ersten zögerlichen Schritte in diesen Wald tat.


  • Schönes Buch Lupus hab ich gerne gelesen


    Der Regen prasselte auf das Wagendach, als er den braunen Peugeot 208 vom Anwohnerparkplatz an der Rue de la Citadelle in Richtung des alten Stadttors lenkte. Die Straßen von Sainte-Valérie waren menschenleer. Wer konnte, der blieb zu Hause und sah den Kräften der Natur von einem beheizten Platz durch die Fensterscheibe zu.