Zum Niederknien
Wenn Autoren mit dem Schreiben nicht genug Geld verdienen, um ihr Leben finanzieren zu können, dann gehen viele von ihnen noch einer weiteren Tätigkeit nach, die sie für sich ganz unlyrisch "Brotjob" nennen, um sich einreden zu können, dass das bisschen Geld, das auf künstlerischem Weg hereinkommt, wenigstens für die feineren Dinge des Lebens aufgewendet wird. Selbst relativ bekannte und in namhaften Verlagshäusern veröffentlichte Schriftsteller sind von diesem Phänomen betroffen, denn wer keine Bestseller vorweisen kann, also der so genannten "Midlist" angehört, sackt längst nicht so viel Geld ein, wie man unter Nicht-Schriftstellern gemeinhin glaubt. Es ist, ganz im Gegenteil, meistens erschütternd wenig.
Katja Oskamp hatte bereits zwei Romane und einen Erzählungsband veröffentlicht und Literaturpreise eingeheimst, und trotzdem war sie im Jahr 2015 an einem Punkt angelangt, an dem es auf diesem Weg nicht weiterzugehen schien. Die neue Novelle fand keinen Verlag, der Gatte, selbst Schriftsteller, war an Krebs erkrankt. Katja Oskamp ging in ihr Stamm-Kosmetikstudio in Berlin-Marzahn, und die Inhaberin Tiffy, mit der sie über ihre Situation sprach, machte den originellen Vorschlag, doch eine Schulung zur Fußpflegerin zu absolvieren, um anschließend für zweiundzwanzig Euro pro Sitzung in eben diesem Studio in Marzahn zu arbeiten.
Und genau das hat Katja Oskamp dann auch getan.
"Marzahn, mon amour - Geschichten einer Fußpflegerin" erzählt davon, wie Katja Oskamp eben zur Fußpflegerin wurde und was anschließend sie als Mitarbeiterin von Tiffy und Kollegin von Flocke im Studio in Berlin-Marzahn erlebt hat. In erster Linie aber erzählt dieses absolut hinreißende, mit ungeheuer viel Empathie und liebenswürdigem Humor ausgestattete, äußerst kluge und sehr, sehr lesenswerte Buch von den Kunden des Kosmetiksalons, zu deren Füßen Frau Oskamp kniete, Nagelpilz entfernte und Hacken raspelte, während sich Schicksale entwickelten, Vitae ausgebreitet wurden, und sich für den Leser jetzt eine Welt offenbart, die absonderlich, ergreifend, tieftraurig, schillernd, lustig, optimistisch, merkwürdig und vieles andere mehr ist, vor allem aber: ganz normal. Denn die - überwiegend älteren - Marzahner, die zur Fußpflegerin ins Studio kamen, waren eben ganz normale Leute, die meistens das eigene Lebensende im Blick, aber durchaus noch eine Perspektive hatten, in diesem Randbezirk der Großstadt, dieser Plattenbausiedlung, die einst ein Vorzeigeprojekt der DDR-Planwirtschaft war und heute als Endbahnhof für die Berliner Gentrifizierungsopfer gilt.
Diese episodisch aufgebaute, aber durchaus mit einer Chronologie ausgestattete Erzählung vermittelt jedoch mehr als einen Eindruck davon, was sich in diesem Bezirk abspielt, den viele nur von jener Komikerin kennen, die sich "Cindy aus Marzahn" nannte. "Marzahn, mon amour" ist außerdem noch eine Geschichte über das Scheitern und Wiederauferstehen, über Lebensmut und die alles entscheidende Frage nach dem Glück. Sie wird sozusagen im Kleinen beantwortet, durch die Geschichten der Kunden und Kollegen, aber auch im Großen, in der Klammer, die dieses wunderbare Buch umschließt und Katja Oskamps eigene Geschichte erzählt, und die vorerst damit endet, dass man es eben in den Händen hält.
Ein Buch zum Verlieben. Und zum Niederknien.
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ASIN/ISBN: 3446264140 |