Kazuo Ishiguro - Was vom Tage übrig blieb

  • 51 – 52


    Ach, ist mir warm ums Herz geworden. Stevens begegnet auf seiner Reise einer Bäuerin, deren Huhn er beinahe überfahren hätte. Ihre Einladung zum Tee hat er leider nicht angenommen. Einem Gespräch zwischen ihnen hätte ich sehr gern zugehört.

    Es freut mich zu hören, wie diese Begegnung seine Stimmung verbessert und dass er dies auch zulässt.

    „Irgendetwas an dieser Episode hatte mich in eine sehr gute Stimmung versetzt“. Und er sieht sogar mit Hochstimmung seinen weiteren Unternehmungen entgegen.


    Es ist so wohltuend, dass hier in der sonst permanent unterkühlten Stimmung plötzlich Wärme auftritt.

  • Ich fand die Szene, in der Stevens seinen Vater in seinem Kämmerchen aufsucht, sehr bedrückend. Es hört sich so an, als hätten die beiden gar keine privaten Kontakte, obwohl sie unter einem Dach leben.

    Mir kommt es so vor, als sei Stevens zwar um seinen Vater besorgt, aber eher deshalb, weil er das Funktionieren des Haushalts sicherstellen will.


    51-52

    Die hervorragenden Bücher von Mrs Simons sind offenbar sehr nützlich :)

  • Mir kommt es so vor, als sei Stevens zwar um seinen Vater besorgt, aber eher deshalb, weil er das Funktionieren des Haushalts sicherstellen will.

    Das habe ich mich auch gefragt. Aber die Tatsache, dass er beharrlich darauf besteht, dass Ms. Kenton seinen Vater nicht mit dem Vornamen anredet und somit ein Abweichen von den üblichen Regeln fordert, zeigt, dass es Stevens nicht nur um das Funktionieren des Haushalts geht. Ich glaube, es geht ihm auch um die Würde seines Vaters.


    Ich werde später noch etwas dazu schreiben.

  • 53 – 84


    Im folgenden beschreibt Stevens die Vorbereitung und Durchführung der Konferenz vom Mai 1923. Er tut das in aller Ausführlichkeit, um die Wichtigkeit der Konferenz darzulegen. Das ist ihm wichtig, um dem Eindruck entgegenzuwirken, er hätte seinen Vater „schonungslos behandelt“.

    Es klingt so, als ob er ein schlechtes Gewissen gegenüber seinem Vater hat.


    Es ist manchmal schwer erträglich, zu lesen, wie schlecht es Stevens Vater geht, während sein Sohn ihm keine Zeit widmet.

    Es wird aber deutlich, dass Stevens ganz in Sinne seines Vaters gehandelt hat, der es vor seinem Tod noch schafft, seinem Sohn zu sagen, dass er stolz auf ihn ist. Ich kann mir vorstellen, wie wichtig das für beide war. Ich denke schon, dass Stevens Vater ein Vorbild für Stevens ist.

    Leider kann Stevens die Frage seines Vater, ob er ein guter Vater gewesen war, nicht mit „Ja“ beantworten. Was hat sich Stevens in dem Moment gedacht? „Nein, du warst kein guter Vater. Du warst nie für mich da.“ Oder: „Du hast getan, was möglich war.“? Weiß Stevens überhaupt, was ein guter Vater ist. Er scheint ja keine Familie zu haben.

    Das stimmt, doch geht es ihm um die Würde der früheren beruflichen Stellung seines Vaters.

    Ganz sicher.


    Ich habe mich auch gefragt, welche Gefühle Stevens seinem Vater gegenüber hatte. Ganz sicher Achtung und Respekt vor seiner Lebensleistung. Aber mehr?

    Doch, ich glaube schon. Schließlich rollen ihm beim Dinner der Konferenz Tränen über das Gesicht und er schämt sich nicht dafür.

  • Stevens hat ja mal selber gesagt, dass er die Rolle, in der er lebt, nur dann ablegen kann, wenn er ganz alleine ist. Sie ist für ihn wie eine Rüstung und es ist schon viel, dass ihm diese Träne übers Gesicht gerollt ist.


    Manchmal bedaure ich ihn sehr, denn tatsächlich ist er kein kalter oder gefühlloser Mensch. Er hat sie nur so tief in seinem Inneren verborgen, dass er nur in besonderen Situationen Zugang dazu findet. Wie jetzt auf seiner Reise.


    Mich wundert übrigens immer, wie so ein "erstklassiger Butler" überhaupt zu einem Privatleben und einem Kind kommen konnte.

  • Manchmal bedaure ich ihn sehr, denn tatsächlich ist er kein kalter oder gefühlloser Mensch. Er hat sie nur so tief in seinem Inneren verborgen, dass er nur in besonderen Situationen Zugang dazu findet. Wie jetzt auf seiner Reise.

    Ich stelle fest, dass ich anfange, ihn trotz allem zu mögen.

    Mich wundert übrigens immer, wie so ein "erstklassiger Butler" überhaupt zu einem Privatleben und einem Kind kommen konnte.

    Vielleicht war ja so ein erstklassiger Butler nicht von Anfang an ein erstklassiger Butler. Vielleicht hatte er als junger Mann mehr Privatleben. Aber sicher leidet früher oder später die Familie darunter.

    Ähnlich geht es heute doch auch diesen Karrieretypen.

    Mal schauen, vielleicht erfährt man noch etwas mehr über Stevens Jugend.

  • Etwas irritiert bin ich, dass der Autor in die Beschreibung der dramatischen und tragischen Ereignisse zwei Szenen einbaut, die doch erheiternd sind.


    Einmal ist es der Auftrag, den Stevens von Lord Darlington erteilt bekommt, den jungen Reginald mit den „Bedingungen des Daseins“ :grinvertraut zu machen (62), bevor er heiratet.


    Die Szene in 83/84 finde ich krass, als Stevens sich zwingt, mit Reginald zu lachen, obwohl ihm zum Weinen zumute ist. Da ist mir ein Schauer über den Rücken gelaufen.

    Und kurz darauf besucht er seinen Vater und stellt fest, dass Ms. Mortimer Fettflecken im Gesicht hat, als habe sie sich für eine Variete-Vorführung geschminkt. Und deshalb hat es nach Bratenfleisch gerochen.


    In solchen Ausnahmesituationen sind wohl alle Sinne aufs äußerste angespannt.

  • 2. Tag, Nachmittag – Mortimer's Pont, Dorset

    85 – 95


    Ich gebe zu, ich war etwas genervt, als es schon wieder um das Thema „Großer Butler“ ging. Aber dann war es doch nicht so schlimm. Da zu einem großen Butler Verbundenheit mit einem vornehmen Haus gehört, erklärt Stevens, was er unter einem vornehmen Haus versteht. Ich finde es positiv, dass es für ihn nicht so sehr um die Abstammung geht, sondern um das moralische Format des Dienstherrn.


    Und dann ist von zwei Episoden die Rede, in denen Stevens seinen früheren Dienstherrn verleugnet hat. Da war ich aber verblüfft. Ich hätte eher erwartet, dass er sich ganz im Gegenteil stolz zu ihm bekennen würde. Er spricht auch von törichten Geschwätz über Lord Darlington. Sehr rätselhaft. Es klingt, als ob er ihn in Schutz nehmen wollte.

    Auch Stevens weiß nicht, warum er das getan hat. Ich vermute, da stecken verdrängte Ereignisse dahinter. Ich wundere mich, dass er auch den Gästen Mr. Faradays gegenüber seinen Dienst bei Lord Darlington abstreitet. Hätte er nicht voraussehen müssen, dass er damit peinliche Situationen herrufen könnte? Ich würde sagen, das war nicht professionell.

  • Da ich schon die ganze Geschichte kenne, sage ich dazu nichts.

    Es stecken in diesem so harmlos daherkommenden Roman ganz unterschiedliche Themen und durch die überhaupt nicht chronologischen Erinnerungen von Stevens ist alles sehr verschachtelt.

    Sehr raffiniert gemacht.

    Ehrlich gesagt habe ich viele Kleinigkeiten erst jetzt beim zweiten Hören verstanden.

  • 3. Tag, Morgen - Taunton, Somerset


    96 – 98


    Ich fass es nicht! Stevens trainiert „scherzhafte Bemerkungen“ an Hand geeigneter Radiosendungen und selbstgestellten Übungsaufgaben. In einem Gasthaus bietet sich die Gelegenheit praktische Erfahrung an Einheimischen zu sammeln. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.


    99 - 105


    Noch am Tag vorher hat sich Stevens vergeblich Gedanken über den Grund seiner Verleugnung Lord Darlingtons gemacht. Jetzt hilft ihm ein Zufall, um über den Umweg über das Thema Silberputzen endlich auf den Grund dieser Verleugnung, nämlich auf die Beziehung zwischen seinem Dienstherrn und Ribbentrop zu kommen.

    Jetzt kann ich mir vorstellen, worauf Stevens mit „törichten Geschwätz“ angespielt hat. Und ich verstehe auch, dass sich Stevens nicht mit fremden Leuten über Lord Darlington unterhalten will.


    Das Silberputzen ist dann auch die gedankliche Überleitung zu Ms. Kenton. Stevens bekommt immer mehr Zweifel, ob sie überhaupt zurückkommen will.

    Wird eigentlich erwähnt, aus welchem Grund sie überhaupt diesen Brief an Stevens geschrieben hat? Wenn sie sich an ihre früheren Dialoge erinnert, wird ihr klar sein, dass er versteckte Hinweise suchen wird.

  • 3. Tag, Abend – Tavistock, Devon


    106 – 108


    Jetzt spricht Stevens von Mr. Darlingtons Verhältnis zu Juden. Er weist es heftig zurück, dass Darlington Antisemit gewesen wäre. Es hätte lediglich „wenige unbedeutende Wochen“ gegeben, in denen er unter entsprechendem Einfluss gestanden hatte. Er erwähnt ein paar „untypische Ereignisse“, die ein „fadenscheiniger Anlass für lachhafte Vorwürfe“ waren.


    Nun ja. Aber was ist mit der Entlassung der jüdischen Hausmädchen? Wegen der Sicherheit und dem Wohlbefinden der Gäste, wie Darlington sagt. Wie bitte?


    Ich war sehr enttäuscht, dass sich Stevens nicht mehr für sie eingesetzt hat. Aber Pflicht und die Anweisungen des Dienstherrn gehen ihm über alles. Er legte so viel Routine und Sachlichkeit an den Tag, dass es mir schwer fiel, zu glauben, dass sich in ihm alles bei dem Gedanken an diese Entlassung gesträubt hätte, wie er vesicherte. Und eine “unverantwortliche Zurschaustellung persönlicher Zweifel“ wäre nutzlos gewesen.


    Beim ersten Hören habe ich das tatsächlich für eine Lüge gehalten. Andererseits schätze ich Stevens nicht so ein, dass er lügen würde. Warum sollte er auch, er hat doch in seinen Augen alles richtig gemacht. Oder belügt er sich selbst?

  • 109 - 112


    Stevens ist nicht nur überrascht, sondern sogar verärgert, wie mir scheint, dass Ms. Kenton nicht das gleiche pflichtbewusste Verhalten an den Tag legt, sondern Herz zeigt. Ich frage mich, ob er sie so wenig gekannt hat.

    Es hat mir richtig weh getan, dass er sie immer wieder über Monate hinweg auf ironische Weise auf ihre angedrohte Kündigung ansprach. Für ihn war das Spaß. Das muss sie doch zu tiefst veletzt haben. Ich kann seine Beweggründe überhaupt nicht nachvollziehen. Er hat überhaupt kein Einfühlungsvermögen.


    Schließlich kam es zur Aussprache. Ich habe immer noch Probleme zu glauben, wenn er sagt, dass „diese Sache Sie genauso betrübt hat wie mich.“ Den Eindruck hatte ich nicht. Und dann sein Lachen auf Ms. Kentons verzweifelte Frage, warum er sich immer so verstellen muss! Spricht da Peinlichkeit heraus oder Verzweiflung?


    Nachdem ich jetzt dieses Ereignis kenne, habe ich große Zweifel, ob Ms. Kenton noch einmal mit ihm zusammen arbeiten will.

    Hat er keine Angst vor einem Zusammentreffen mit ihr?

  • 113 – 116


    Die Sache mit Lisa hat Ms. Kenton sehr mitgenommen. Ist es, weil sie sich so sehr in Lisa getäuscht hat? Ist es Sorge um das Mädchen oder steckt mehr dahinter? Sie betont mehrfach, wie töricht Lisas Verhalten ist, und dass sie bestimmt sitzengelassen werden wird.


    Ich gerate jetzt völlig ins Spekulieren. Kennt sie einen Fall, wo es so war? Ihre Mutter oder sogar sie selbst?

    Was bedeuten ihre Andeutungen bezüglich Stevens und Lisa? Ist sie womöglich eifersüchtig? Wie laufen diese Kakao-Abende ab? Kleine harmlose Gespräche, wie Stevens betont?

    Um jetzt mal die Gerüchteküche vollends anzuschüren, stelle ich folgendes in den Raum: Ms. Kenton ist in Stevens verliebt und er merkt es nicht.

    Wie alt sind die beiden eigentlich zu dieser Zeit? Ms. Kenton ist 1923 nach Darlington Hall gekommen. Die Geschichte mit Lisa dürfte Mitte der 30-er Jahre stattgefunden haben.

  • 117 – 125


    Stevens ist bei den Taylors untergekommen. Er macht Andeutungen, dass beim Abendessen etwas passiert sei. Ich frage mich, was das sein kann. Ging es wieder um Lord Darlington? Ich vermute, er wird es noch erzählen.

    Doch zuerst sind seine Gedanken wieder bei Ms. Kenton und bei der Veränderung in ihrer Beziehung zueinander ab 1935/36. Er kann sich das nicht erklären.


    Ich frage mich auch, was Ms. Kenton geritten hat, einfach so ins Butlerzimmer, sein Allerheiligstes sozusagen, zu platzen und seine Privatsphäre zu verletzen. Und dann beharrt sie darauf zu erfahren, was das für ein Buch ist, das er liest. Warum ist ihr das so wichtig? Man kann das auch als Anmache ihrerseits verstehen.

    Mir ist bewusst, dass ich alles nur aus Stevens Sicht erfahre. Wenn Ms. Kenton erzählen würde, würde sich das alles sicher ganz anders anhören.


    Gerade das mit dem Buch scheint ihm peinlich zu sein. Er versucht, sich vor sich bzw. den Zuhörern zu rechtfertigen, warum er sentimentale Liebesromane liest, wobei er sogar so ehrlich ist zuzugeben, dass es für ihn auch ein „zufälliges Vergnügen“ war.


    Aber was hat es mit der plötzlichen Veränderung der Atmosphäre auf sich, „als wären wir beide plötzlich auf eine völlig andere Seinsebene geschleudert worden“. Stevens interpretiert das so, als ob Ms. Kenton erschrocken wäre. Worüber kann sie erschrocken sein? Über sich? Über ihn? Oder ist ihr eine Erkenntnis gekommen? Oder hat er das fehlinterpretiert?

  • Ich bin mir nicht so ganz im Klaren darüber, ob mit dem Butlerzimmer sein privates (Schlaf) Zimmer gemeint ist, oder der Butler Aufenthaltsraum, den er offensichtlich hat.

    Da, wor er Dienstpläne erstellt und andere Dinge plant. Das wäre dann sozusagen ein öffentlich zugängliches Zimmer.

    Ich werde die Tage mal im Leserunden Thread nachschauen, ob das besprochen wurde.

  • 125 - 133


    Was mit Ms. Kenton los ist, würde mich auch interessieren. Verbringt sie ihre freien Tage außerhalb, um jemanden zu treffen oder will sie nur Stevens aus dem Weg gehen? Sucht sie den Mann fürs Leben? Als Zuhörer weiß man ja, dass sie im späteren Verlauf der Geschichte geheiratet hat.

    Stevens kommt natürlich nicht von selbst auf die Idee, dass da womöglich ein Mann dahintersteckt, und seine größte Sorge ist, dass es ein Verlust für Darlington Hall wäre, wenn sie ihre Stellung aufgäbe.


    Sie erzählt ihm dann auf eine so eigenartige Weise von einem Bekannten, dass ich mich frage, ob sie die Wahrheit sagt und was sie damit bezweckt. Warum fragt sie ihn nach seiner Zufriedenheit? Weil es mit ihrer nicht so weit her ist? Schließt sie womöglich von sich auf ihn? Seine Antwort darauf wird ihr klar gemacht haben, dass es für ihn nichts anderes gibt als seinen Beruf.


    Ich finde die Art und Weise, wie er die Kakao-Abende beendet, schon sehr heftig. Ich habe den Eindruck, dass er nur nach einem Vorwand gesucht hat, um diese Abende zu beenden. Hat er befürchtet, dass mehr entsteht?

    Ms. Kenton trifft das sehr hart.

    Es ist zum aus der Haut fahren! Nach dem Tod von Ms. Kentons Tante hat er, wie er sagt, stundenlang über ihren Kummer nachgedacht und darüber, was er tun kann, um ihren Schmerz zu lindern. Zuerst dachte ich: Wow, er zeigt Mitgefühl! Er fragt sie dann schließlich auch später, ob alles in Ordnung wäre. Was dann folgt, ist unfassbar. Es ist nicht genug, dass er sehr schnell auf dienstliche Themen überschwenkt, er übt sogar noch Kritik an ihrer Arbeit.


    Immer wieder verwendet Stevens Formulierungen wie „unbedeutend“, „geringfügig“ im Zusammenhang mit diesen Vorkommnissen. Für ihn war es wohl so.

    Er denkt rückwirkend darüber nach, ob die letzten Vorkommnisse einen Wendepunkt in ihrer Beziehung darstellten. Er spricht sogar von Missverständnissen und der Verschlungenheiten der eigenen Beziehung zu Ms. Kenton. Und dann kommt der Satz:

    „Gewiss deutete doch damals nichts darauf hin, dass solch offenkundig geringfügigen Zwischenfälle ganze Träume für immer unerfüllbar machen würden.“ Puh! Ich vermute, er spricht von Ms. Kentons Träumen, nicht von seinen.


    Und trotzdem geht davon aus, dass das bevorstehenede Treffen mit Ms. Kenton nicht anders als herzlich verlaufen werde – und natürlich professionell.