'Septimus Harding, Spitalvorsteher' - Kapitel 01 - 05

  • Huch, jetzt schreibe ich den ersten Beitrag, obwohl ich kaum zum Lesen gekommen bin.

    Ich stehe momentan im dritten Kapitel.

    Septimus Harding wird zunächst, nachem die Fiktion des Handlungsortes festgestellt wurde (Kirchenkritik war im viktorianischen England wohl noch ein heikles Thema), dem Leser nahegebracht, sein gutmütiger Charakter, seine Position als Mentor und familiäre Beziehung zum Bischof. Interessanterweise steht das erste Kapitel im Präsens, wohl um die englische Verlaufsform anzudeuten. Hier geht es eben um Dinge, die Voraussetzung für den Rest der Handlung, also andauernd sind. Dennoch sehr ungewöhnlich, ich kann im Moment nicht sagen, dass ich einen englischen Roman des 19. Jahrhunderts mit so einer langen Präsenspassage kenne.

    Schön satirisch ist im zweiten Kapitel die Darstellung seines Schwiegersohnes, des Archidiakons. Der ist nach außen hin autoritär und anmaßend, im ehelichen Gemach kuscht er dann aber doch vor der Gattin. Und der dramatische Konflikt durch den kritischen jungen Arzt wird auch schon eingeführt.

    Im dritten Kapitel lernen wir die Insassen des Spitals kennen und die patriarchalische Atmosphäre zwischen Harding und seinen Schutzbefohlenen.

    Bisher gefällt mir Trollopes Stil, seine unaufgeregte, leicht ironische Schreibweise sehr gut.

  • Lorelle , das Fett weg bekommen ja nur bestimmte Personen, z.B. der Archidiakon, ein bisschen der Bischof und Abel Handy sowie seine Partei unter den alten Männern. Die Hauptpersonen des Konfliktes, Harding und Bold, nimmt der Autor aber schon ernst und vollzieht ihre Gedankengänge relativ neutral nach. Er macht sich über sie nicht lustig.

  • Ich hab mal ausgerechnet, wie viel die alten Männer insgesamt bekämen, wenn Hardings Bezüge vollständig unter ihnen aufgeteilt würden. Sie haben jetzt 27, 4 Pfund pro Jahr, wenn man die anderthalb Schilling pro Tag zugrunde legt, die ihnen ohne Hardings zusätzliche zwei Pence zustünden. Wenn Hardings £800 vollständig unter ihnen aufgeteilt würden bekäme jeder noch 66, 7£ dazu, was zusammen 94£ ergibt. Die hundert Pfund sind also ein bisschen gerundet, aber grundsätzlich stimmt der Betrag, allerdings nicht, wenn man die zwei- bis dreihundert Pfund davon abzieht, die im vierten Kapitel als verbleibende Vergütung für den Aufseher vorgeschlagen werden.

  • Die hundert Pfund sind also ein bisschen gerundet, aber grundsätzlich stimmt der Betrag, allerdings nicht, wenn man die zwei- bis dreihundert Pfund davon abzieht, die im vierten Kapitel als verbleibende Vergütung für den Aufseher vorgeschlagen werden.

    Ich hatte überlegt, ob das Stammkapital der Stiftung vielleicht soweit angewachsen ist?

    Die nächste Möglichkeit wäre, dass die Spitalbewohner völlig utopische Vorstellungen haben. Mr Bold hat - falls ich es nicht überlesen habe - keine Summe genannt. Immerhin kennt er die Finanzverhältnisse der Stiftung nicht, dafür beauftragt er ja die Anwälte.

    Aber diese Frage wird sicher noch beantwortet.

  • Ich bin schon im 5. Kapitel.

    Ein Highlight bisher war die Schilderung der archidiakonschen Schlafzimmerszene und die Beschreibung der "Überzeugungsarbeit" bei den Spitalsbewohnern.


    Überraschend für mich die Aktualität der Handlung. Da meint einer, er müsse etwas für die Gerechtigkeit tun und bevor er sich richtig informiert, setzt er Himmel und Hölle in Bewegung, ohne sich um die Interessen der Betroffenen zu scheren.

    Denn diese alten Männer hatten doch tatsächlich ein gutes Leben und mussten nicht etwa Not leiden, wie das in vielen anderen Armeneinrichtungen in dieser Zeit (nicht nur in England!) gewesen ist.


    Eine Freude, dieses Buch zu lesen.

  • Nur ganz kurz, ich habe momentan nicht viel Zeit:


    Ich hatte überlegt, ob das Stammkapital der Stiftung vielleicht soweit angewachsen ist?

    Es stand doch irgendwo im ersten oder zweiten Kapitel, daß - aus dem Gedächtnis zitiert - das früher Wiesen waren, auf denen "heute" Häuser stehen - das ergibt eine Wertsteigerung. Ob von Mieteinnahmen die Rede war, weiß ich jetzt gerade nicht mehr.


    Etwas irritiert hat mich die Altersangabe zu Harding. Wir sind zwölf Jahre nach der Hochzeit seiner Tochter, kurz nach (und wohl auch dank) der Hochzeit wurde er mit 50 Kantor und dann heißt es (ich meine 2. Kapitel), er sei kurz vor 60. Eigentlich müßte er 62 sein, aber das nur am Rande.


    Eine Freude, dieses Buch zu lesen.

    :write :-)


    Mehr später.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Ich konnte gerade den ersten Abschnitt beenden. Und bisher gefällt mir das Buch ganz außerordentlich gut:)

    Ich genieße den tollen Schreibstil, es ist einfach schön diese amüsante Geschichte in dem tollen Stil zu lesen. Für mich ist das schon wieder ein super Buch zum Entschleunigen und Abschalten.


    Mir gefallen vor allem die liebevollen Kleinigkeiten in der Geschichte. Zum Beispiel das Gespräch im Bett fand ich sehr witzig ( sogar im Bett redet Mrs. Grantly ihren Mann mit "Erzdiakon" an, sie hat keinen vertraulicheren Namen für ihn:lache) Oder das sich die Spitalbrüder für Mr. Harding den Spitznamen "alter Darmfieder" ausgedacht haben. Einfach herrlich.

    Ich hab mal ausgerechnet, wie viel die alten Männer insgesamt bekämen, wenn Hardings Bezüge vollständig unter ihnen aufgeteilt würden.

    Danke für die Rechnung. Ich wollte das auch schon ausrechenen, bin aber bisher noch nicht dazu gekommen.


    Überraschend für mich die Aktualität der Handlung. Da meint einer, er müsse etwas für die Gerechtigkeit tun und bevor er sich richtig informiert, setzt er Himmel und Hölle in Bewegung, ohne sich um die Interessen der Betroffenen zu scheren.

    :write Das sehe ich auch so. Die Spitalbewohner waren ja bisher auch mehr als zufrieden mit ihrem Leben und wären von sich aus bestimmt nie auf die Idee gekommen, mehr einzufordern oder zu verlangen. Aber nun ist von Außen dieser neue Gedanke an sie herangetragen worden und plötzlich sehen sie die Situation aus einem anderen Blickwinkel und sie fühlen sich ungerecht behandelt.

    Ich bin mal gespannt, wie die Sache weitergeht.

  • Ich bin mit dem ersten Abschnitt fertig und auch überrascht, wie aktuell die Handlung ist. Da tönt jemand etwas zu laut herum, dass mit der Finanzierung etwas nicht stimmen könnte (!) und schon ist eine Rufmordkampagne wie aus den heutigen sozialen Medien im Gange - frei nach dem Motto "Kein Rauch ohne Feuer" - es wird schon etwas dran sein. Obwohl die Fakten (die Bestimmungen des Testaments und die Finanzierung der Stiftung) erklärtermaßen nicht einmal bekannt sind. Das will gar keiner mehr hören - es klingt fürchterlich nach heutigen sozialen Medien.


    Doch Mr Harding hatte Angst, Er hatte Angst, dass er zu etwas verführt wurde, dass nicht seine Pflicht war, aber er war nicht stark genug, sich dagegen zu wehren [...].

    Nach dem bisher gelesenen halte ich das für einen Schlüsselsatz zum Charakter des Spitalvorstehers (aus dem fünften Kapitel).

    Ein netter älterer Herr, aber rückgratlos? Ich bin sehr gespannt, ob sich das im weiteren Verlauf bestätigt.

  • Ich kann mich Euch nur anschließen. Mir gefällt das Buch auch außerordentlich gut.


    Interessant finde ich, wie einfühlsam sich Mr. Harding in Bezug auf John Bold seiner Tochter Eleanor gegenüber verhält. Ich muss unweigerlich an Mr. Woodhouse denken, der Vater von Emma im gleichnamigen Roman von Jane Austen. Wie ganz anders benimmt sich dieser Gentleman, der seine Tochter vor allem in seiner Nähe wissen will und dem es absolut passt, dass sie unverheiratet bleibt.


    Die Sprache von Trollope und sein Sinn für Humor ist herrlich erfrischend.


    Zitat:

    "daß John Bold, wenn er nur die Macht hätte, alle Kathedralen und wahrscheinlich auch alle Pfarrkirchen schließen, den Zehnten unter die Methodisten, Baptisten und andere wilde Stämme aufteilen [würde]..." (Ott, S.55)

  • Den ersten Abschnitt habe auch ich nun beendet. Bezüglich Bolds und seines Anliegens bin ich etwas anderer Meinung als zum Teil oben dargestellt.. Auch wenn Bolds Handeln als aufdringlich und anmaßend, wenig durchdacht, angesehen werden kann und er sich mit Anwalt Finney einen schmierigen Winkeladvokaten zur Seite gestellt hat, ist seine Haltung grundsätzlich richtig. Die Kirche hat sich nunmal, nicht nur in England, für ihre Würdenträger häufig aus Töpfen bedient, die eigentlich für Anderes vorgesehen waren, und damit auch ihrer eigenen Moral zuwider gehandelt. Das erkennt auch Harding an und Trollope geißelt in den Ausführungen des Archidiakons ja gerade, dass dieser um den heißen Brei herumredet. Sicherlich hätte Hiram nicht gewollt, dass zwölf Arme in Saus und Braus leben, aber es wäre andererseits eher im Sinne seiner Stitung gewesen, wenn man das angewachsene Vermögen dazu genutzt hätte, es auf mehr Arme zu verteilen.

    Dass der arme Harding nun ins Scheinwerferlicht gerät, der ja gar nichts dafür kann, dass er diese Pfründe erhalten hat und Bold unter Missachtung dieser Umstände und des Naturells von Harding gegen dessen Pfründe vorgeht, das ist sicherlich nicht richtig. Harding benutzt den Ertrag nicht hauptsächlich für seine persönlichen Bedürfnisse, sondern um eine Sammlung geistlicher Musik aufzulegen und gibt einen, wenn auch kleinen, Teil an die alten Männer ab. Aber die grundsätzliche Berechtigung, sich gegen Unrecht einzusetzen, finde ich in Ordnung, auch wenn viele dann wieder aus niederen Beweggründen und eigenem Egoismus auf diesen Wagen aufspringen, früher wie heute.


    Das Schöne übrigens an Trollopes Schreibweise ist für mich gerade, dass er sich zurückhält und dem Leser dadurch die Möglichkeit gibt, sich selbst eine Meinung zu bilden.

  • finsbury Du hast völlig recht. Ich denke, dass du damit das Thema des Buches genau getroffen hast. Ich bin auch gar nicht anderer Meinung als du, allerdings verhält sich Bold eben alles andere als geschickt. Sein Auftrerten wirkt auf mich eher wie der Elefant im Porzellanladen. Statt zunächst dezent nachzuforschen, trötet er in der Gegend herum, dass er Zweifel an der Finanzverteilung hat. Und dieses unbedachte Verhalten kann man ihm schon vorwerfen - zumal ihm auch klar ist, dass er damit seinen potentiellen Schwiegervater angreift.

    Dass anschließend andere Personen seine geäußerte und vage Vermutung als Tatsache auffassen und fleißig weiterverbreiten liegt gar nicht mehr in seiner Hand. Vorhersehbar war es aber, daher finde ich ihn moralisch alles andere als vorbildlich, mögen seine Beweggründe noch so rechtschaffen sein.

  • Ich bin auch sehr für die Devise: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Gerade in finanziellen Dingen.

    Bold erscheint mir aber wie jemand, der am Finanzgebaren der AWO zweifelt und deshalb im örtlichen Altenheim Aufstand macht.


    Allerdings hätte dann Trollope nicht so treffend die alten Männer beschreiben können. Also, lassen wir das Buch wie es ist. :)

  • Statt zunächst dezent nachzuforschen, trötet er in der Gegend herum, dass er Zweifel an der Finanzverteilung hat. Und dieses unbedachte Verhalten kann man ihm schon vorwerfen - zumal ihm auch klar ist, dass er damit seinen potentiellen Schwiegervater angreift.

    Ich bin zwar noch nicht ganz durch mit den ersten Kapiteln, schließe mich aber deiner Meinung an. Jemand, der nachforscht, sollte unter diesen Bedingungen etwas Vorsicht walten lassen. Immerhin hat er auch einiges zu verlieren, wenn ihm seine Auserwählte etwas bedeutet.

    Durch sein beschriebenes Auftreten erscheint Bold in erster Linie als Bösewicht. Ich stelle mir die Frage, ob es dabei bleibt oder was wirklich dahinter steckt.

    Den Schreibstil von Trollope finde ich amüsant. Problematisch sind für mich die relativ vielen Personen, die nun schon in Erscheinung getreten sind, da ich anfangs gern Namen vertausche und sie den betreffenden Personen schlecht zuordnen kann. Aber das ist eigentlich fast immer bei mir so.

    Vieles von den Begebenheiten könnte man auch in die heutige Zeit übertragen. Es gibt immer die "Beeinflussbaren", die im bösen Spiel mitmischen, obwohl sie vom Großen und Ganzen wenig Ahnung haben; aber das nur am Rande.

    Ich bin gespannt, wie es weiter geht.

    Interessant finde ich es auch die Namen der Akteure zu übersetzen. „Bold“ hat eine große begriffliche Spannbreite. Von „mutig, kühn“ über „verwegen, wagemutig, unerschrocken“ bis zu „dreist, unverfroren“ u.a., kann man sich vielleicht aussuchen, welche dieser Eigenschaften wohl am besten zu ihm passt. Oder doch alle? ;)

  • Bestimmt kann man sich die Bedeutung, je nach Situation, aussuchen.


    Besonders kann ich mich für Trollopes wunderschöne Beschreibungen begeistern. Allein wie der Herr Erzdiakon auf S. 83 (Manesse Ausgabe) bei seinem Auftritt vor den Armenhäuslern beschrieben wird, das ist schon sehr gelungen.

  • Wenn ich ehrlich bin, hatte ich nur wenig Ahnung, was mich mit dem Buch erwarten würde. Von Trollope wollte ich schon lange etwas lesen, beim kurzen Hineinlesen gefiel mir der Stil, und so habe ich also, was ich extrem selten tue, ein Buch begonnen, von dem ich praktisch nichts wußte. Was vielleicht auch besser ist; denn hätte ich gewußt, daß es um Aktivisten - und damit um ein sehr aktuelles Thema geht -, wer weiß, ob ich es gelesen hätte. Was zumindest stilistisch äußerst schade gewesen wäre. Denn was Anthony Trollope schreibt, ist einfach köstlich zu lesen und stilistisch erste Klasse.


    Sinnigerweise heißt es im Klappentext der Manesse-Ausgabe, daß der Autor ein „erklärter Schüler von Jane Austen“ ist. Na das paßt doch dann hier wie die Faust aufs Auge. :chen


    Schon gleich im zweiten Kapitel (S. 17, Manesse) bringt er Erkenntnisse, die nicht nur damals und ganz gewißlich nicht nur für die Kirche galten, wenn er meint,

    (...) daß es die Umstände heutzutage nicht erlauben, die Formulierungen im Testament des Stifters wörtlich zu nehmen, sondern daß die Interessen der Kirche, die dem Gründer so sehr am Herzen lagen, am besten berücksichtigt werden, wenn man es den Bischöfen ermöglicht, jene Leuchten zu belohnen, die der Christenheit mit ihrem Dienst am eindruckvollsten gedient haben.

    Manches ändert sich nie. :grin


    Ein paar Seiten weiter (S. 22f) dann die Beschreibung von Bold als „eifriger Reformer“. Wenn man heute die Zeitung liest, ist die voll von Berichten über solche „eifrigen Reformer“. Ob die wirklich immer zum Besten einer Sache tätig sind, sei hier dahingestellt. Jedenfalls befürchte ich Übles für den Fortgang der Geschichte. Und ob aus der Hochzeit mit der Tochter Hardings je etwas wird, bleibt auch abzuwarten.


    Charakteristisch für Mr. Harding scheint mir der Satz auf S. 49: „Er wollte nicht unbedingt beweisen, daß er im Recht war, er wollte im Recht sein.“

    Mit der Einstellung dürfte er es schwer haben, denn wenn erst einmal Juristen mit einer Angelegenheit befaßt sind, geht es nur noch ums Rechthaben - im Recht sein ist dann unwichtig.


    finsbury

    Danke für die Rechnung; von den Werten und gar Rechnungen mit Pfund, Shilling und Pence habe ich keine Ahnung.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")