Jackie Thomae las am 04. Juni 2020 in Düsseldorf

  • Als in der Zeitung angekündigt wurde, dass der Düsseldorfer Bücherbummel ausfällt, aber die Literaturtage mit dem Motto „Wir finden statt“ in stark eingeschränkter Version veranstaltet werden, überlegte ich einige Tage und fragte dann beim Literaturbüro nach, ob es noch Karten gäbe.* Flugs wurde eine Karte für die Lesung von Jackie Thomae reserviert und ich ging mit viel Vorfreude und einigen Bedenken zur Lesung, bewusst ohne „Brüder“ (Hanser Verlag) ( Tom s Rezension) vorher gelesen zu haben.


    Anders als bei Salonlöwin in Kiel war die Luft deutlich besser, Der große und hohe Saal im Gebäude des Literaturbüros sah auf den ersten Blick so aus, als ob dort eine Abiprüfung stattfinden würde. Gut 30 Tische mit Stühlen, großzügig verteilt, jeder mit dem Programm der Literaturtage und eine Blume geschmückt. Leider blieben einige Plätze leer.


    Michael Serrer, Leiter der Literaturtage, stellte Jackie Thomae kurz vor. Sie habe zuerst Sachbücher geschrieben, sei dann zu Romanen gewechselt. Ihr zweiter Roman „Brüder“ wurde vielfach positiv besprochen, für den deutschen Buchpreis nominiert und mit dem Düsseldorfer Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Es folgte noch eine weitere Vorstellung durch einen enthusiastischen Leser und Sponsor, dessen Namen ich mir leider nicht notiert habe.


    Jackie Thomae erzählte, dass ihr eigenes Familienleben für „Brüder“ eine große Rolle spielte. Als sie 2014 gerade mit ihrem ersten Roman fertig war, sei ihr leibliches Vater aufgetaucht. Er habe während des Studiums in der DDR ihre Mutter kennengelernt und sei später in die BRD verschwunden. Von selbst sei sie nie auf dieses Thema gekommen, denn die Verarbeitung der DDR hätten andere Autoren bereits sehr gut übernommen.


    Die von ihr bewusst gewählte männliche Perspektive mache den Roman weniger autobiographisch. „Brüder“ sei von ihr stattdessen panoramisch angelegt, beginne nicht in der Kindheit, sondern erst als Mick bereits ein Teenager ist und spiele an Orten, die sie aus ihrem eigenen Leben kenne.

    Das Konzept habe sie für ein Literaturstipendium verfasst, das sie dann nicht gewann, aber es habe ihr bei der Struktur geholfen, auch wenn der Roman nicht in der gleichen geschwurbelten Sprache verfasst sei. Sie habe sich nicht mit der postkolonialen deutschen Geschichte befassen wollen, sondern damit, wie unterschiedlich das Leben trotz ähnlicher Gene verlaufen könne.


    In Leipzig gab es in den 1970er Jahren viele ausländische Studenten und nicht alle kamen aus den Bruderstaaten der DDR. Ihr Vater sei aus Guinea gekommen. Noch heute erstaune es viele Menschen, dass schon damals Menschen wie sie in der DDR lebten.


    Das Leben der beiden Brüder in ihrem neuen Roman sollte sich spiegeln. Es sollte kein BRD-DDR-Roman sein, sondern die Geschichte zweier (Halb-)Brüder, die völlig getrennt voneinander ohne ihren Vater aufwuchsen. Die Namen der beiden Brüder würden miteinander kommunizieren, beide nach Erzengeln benannt. Mick trage mit Michael einen in seiner Generation noch recht häufigen Namen, während Gabriel damals sehr ungewöhnlich war. Bei beiden spiele ihre Hautfarbe manchmal eine Rolle. Grob umrissen seien die beiden ein Hallodri und ein Streber.


    „Brüder“ beginnt im Berlin der 1990er Jahre, als der 15-jährige Mick mit seiner Mutter dorthin umzieht und Jackie Thomae las dann eine längere Szene, in der Mick im Jahr 1993 mit seiner Mutter in einem Restaurant sitzt. Micks Mutter hat eine sehr scharfe Zunge und ist in ihrem Leben an viele Veränderungen gewöhnt, während ihr Sohn einen starken Wunsch nach Nichtveränderung in sich trägt.


    Auch wenn im Mittelpunkt zwei Brüder stünden, so spielten Frauen in mindestens 52% die tragende Rolle, merkte Jackie Thomae mit einem Schmunzeln an.


    Im nächsten vorgetragenen Abschnitt wechselte die Perspektive von Mick zu seiner Mutter Monika, in Erinnerungen an ihr Leben als junge alleinerziehende Mutter. In der DDR sei es weniger exotisch gewesen, so jung Mutter zu werden, wie die Hautfarbe des Kindes und Vaters. Die Zuhörer lauschten gespannt den Reflektionen Monikas über ihre Mutterrolle und mögliche Erziehungsfehler.


    Dann sprang Jackie Thomae in die Mitte des Buchs und erzählte, dass man im Jahr 2000 Mick in Thailand verlasse. Danach habe sie gezielt ein Kapitel aus der Perspektive des Vaters eingefügt, einer Person mit einem ganz anderen Lebensgefühl und Charakter. Es folgte ein Abschnitt aus dem Leben von Gabriel, der als Ich-Erzähler auftritt. Gabriel wuchs ganz anders auf als Mick und ist ein Mensch, der sich selbst nie hinterfragt. Das sei Teil seiner Erfolgsgeschichte, aber die Leser würden so zu wenig über ihn erfahren und Jackie Thomae hatte das Gefühl, so dieser Figur nicht nahe genug zu kommen. Deshalb ließ sie auch Gabriels Frau zu Wort kommen.


    In diesem Abschnitt schildert Jackie Thomae sehr knapp und treffend die in England weit verbreitete Einstellung zu Deutschen, die dann gerne als humorvoll deklariert wird. Obwohl er selbst nicht weiß ist, wird Gabriel nach vielen Jahren in London als Rassist bezeichnet - ausgerechnet in jener Stadt die er selbst als die multikulturellste Stadt Europas empfindet. Damit hätte er nie gerechnet.


    Die Zuhörer begleiten Gabriel zum Arzt, wo er ein sehr umfangreiches Formular ausfüllen soll, in dem zahllose Ethnien aufgelistet sind und er sich keiner der genannten zugehörig fühlt. Hier warf Jackie Thomae ein, dass diese Stelle einer der Beweise dafür sei, dass sie Rassismus nicht bewusst ausgeklammert habe.


    Als Jackie Thomae Ende der 1990er selbst in London lebte, während sie an einem Drehbuch-Seminar teilnahm, habe sie dort die Normalität gemischter Paare erlebt. Unterschiede habe es eher in Bezug auf Geld gegeben. Das sei ganz anders als in den USA gewesen. Diese Einstellung vertritt auch Gabriel.


    In ihren Romanen wolle sie nicht Menschen aus ihrem Leben fiktionalisieren, sei aber bei den Orten sehr präzise. Mit einem Augenzwinkern erzählte sie, dass sie einmal darauf angesprochen worden sei, ob sie auch in Bezug auf den im Buch erwähnten Drogenhandel so gründlich selbst recherchiert habe. Ansonsten würden sich die Fragen zum Buch schnell wie wiederholen, wie bei einem Perpetuum Mobile immer die gleichen, während manche Dinge scheinbar nicht auffallen würden. Diese Frage nach dem Drogenhandel sei dann mal etwas Anderes gewesen.


    Während eines Aufenthaltes in Brasilien habe ihr niemand geglaubt, dass sie nicht von dort stamme. Zum ersten Mal sei sie an einem Ort gewesen, an dem alle so aussahen wie sie, konnte jedoch kein Portugiesisch. Sie möge die unglaublich netten Menschen dort sehr.


    Ihr nächstes Buch sei eine Sammlung unterschiedlicher Kurzgeschichten, die über einen längeren Zeitraum entstanden seien. Auch wenn ihr bewusst sei, dass Kurzgeschichten weder bei den Lesern noch Verlagen in Deutschland besonders beliebt seien, freue sie sich nach dem doch sehr umfangreichen „Brüder“ auf dieses neue und so andere Projekt.


    Damit endete die Veranstaltung nach einer guten Stunde, länger war nach den aktuell gültigen Bestimmungen nicht möglich.


    ASIN/ISBN: 3446264159



    PS In den rund 70 Minuten wurde viel vorgestellt, gelesen und relativ wenige Fragen gestellt. Ich hatte den Eindruck, dass Jackie Thomae immer wieder auf einige Kritikpunkte zu ihrem Buch einging und diesen gezielt widersprach. Was sie mit dem Buch sagen möchte, machte sie sehr deutlich. Nur leider entstand bei mir der Eindruck, dass zu viel reingepackt und versucht werden sollte. Achtung, Spoiler: Die beiden Halbbrüder wachsen völlig getrennt und ohne Wissen um den anderen auf, die Abschnitte aus ihrem Leben spielen zu unterschiedlichen Zeiten (Mick bis 2000, Gabriel ab 2000) usw. und so werde ich es möglicherweise trotz der wundervollen Sprache nicht lesen.


    *und ermutigt durch den Bericht von belladonna zu ihrem Lesekreis – danke Dir. :-)

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")


    "An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die Schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern."

    Erich Kästner.

  • Pelican

    An sich schade, weil es sprachlich toll wirkte, teilweise sehr humorvoll - aber konzeptionell wirkte es auf mich überladen und mein SUB ist so hoch....


    belladonna

    Definitiv, danke Dir. :knuddel1Der Bericht zu Tilman Röhrig folgt noch.

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")


    "An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die Schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern."

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