Das wirkliche Leben - Adeline Dieudonné

  • Adeline Dieudonné, 1982 in Brüssel geboren, wo sie mit ihren beiden Töchtern auch heute wieder lebt, ist von Beruf Schauspielerin. Nach mehreren preisgekrönten Erzählungen und einem erfolgreichen One-Woman-Theaterstück hat ›Das wirkliche Leben‹ die Herzen der französischsprachigen Leser im Sturm erobert: Das grandiose Romandebüt stand monatelang auf der französischen Bestsellerliste, wurde mit 14 (!) Literaturpreisen ausgezeichnet und wird in 20 Sprachen übersetzt.


    Der Blumenwalzer, der unser ganzes Leben verändern sollte


    "Gilles kam jeden Abend zu mir ins Bett gekrochen. Mein Gesicht in seinen Haaren vergraben, konnte ich seine Albträume in den Nächten beinahe hören. Was hätte ich alles dafür gegeben, die Zeit zurückdrehen zu können, bis zu dem Moment, als ich das Eis bestellt hatte." (Buchauszug)

    In einer Reihenhaussiedlung am Waldrand wohnt ein 10-jähriges Mädchen mit ihrer Familie. Alles könnte so normal sein, wäre da nicht die einzige Leidenschaft ihres Vaters für Whisky, TV und das jagen. Von seinen Großwildsafaris, für die er selten genug Geld hatte, bringt er regelmäßig Trophäen mit nach Hause, für die er eigens ein Zimmer eingerichtet hat. In einer solch bedrückenden Atmosphäre zu leben ist nicht einfach, weshalb sie mit Gilles meist zum Autofriedhof spielen geht und sie sich freuen wenn abends der Blumenwalzer des Eismanns ertönt. Doch dann geschieht eines Tages eine unfassbare Tragödie. Fortan ist nichts mehr wie zuvor, den diese Bilder haben sich in ihre Augen gebrannt.

    Meine Meinung:
    Die Geschichte die Adeline Dieudonné in diesem Buch beschreibt, hat mich mitgenommen in eine Umgebung voller Angst, Gewalt und Bedrohung. Der Schreibstil ist einfach, reduziert, sehr bildhaft, ich hatte öfters sogar das Gefühl, das beim Lesen der Film dazu ablief. Zudem gibt es einige Szenen, mit unbeschreiblichen Bildern voller unfassbarer Poesie, gleichzeitig aber auch kindlich gut umschrieben. So beschreibt sie zum Beispiel ihre Mutter als eine "Amöbe", weil sie so unscheinbar, farblos und ängstlich auf sie wirkt. Ihre Aufgaben beschränken sich mehr oder minder aufs Kochen und selbst das kann sie nicht besonders gut. Lediglich ihren Ziegen widmet sie alle Zeit und schenkt ihnen ihre ganze Liebe. Ihr Vater dagegen ist ein "Koloss", breite Schultern wie ein Abdecker und Hände wie ein Riese. Der gewalttätige Vater scheint seine Probleme regelrecht in sich hineinzufressen, bis er dann wieder einmal auf eine Großwildjagd gehen muss oder gar explodiert und auf die Mutter losgeht. Nur bei der Jagd scheint er seine Wut loswerden zu können, in dem er sich eine neue Trophäe schießt. Selbst im Hochzeitsfoto ihrer Eltern sucht sie vergebens nach Liebe, Bewunderung, Freude oder einem Lächeln. Das 10-jährige Mädchen im Buch bleibt leider namenlos, doch nicht blass, den ihr Wille ist unfassbar stark. Selten habe ich so ein Kind erlebt, das so um ihren Bruder und ihr eigenes Leben kämpft. Der 6-jährige glückliche, fröhliche Bruder Gilles wirkt nach dem Unglück apathisch, kraftlos und stumm, sodass sie Angst hat in seinen Augen jene Tragödie explosionsartig ablaufen zu sehen. Von der Hyäne einer Jagdtrophäe, die hier als eine Art Tod steht, wird er quasi angezogen. Weil sie sich die Schuld für die Tragödie gibt, möchte sie am liebsten alles ungeschehen machen. Doch die Zeit vergeht und die Sorgen, Ängste und Probleme nehmen weiter zu und sie wird immer mehr in die Opferrolle gedrängt wie ihre Mutter. Das einzige, was mir weniger gefallen hat, sind die sexuellen Gefühle für ihren verheirateten Nachbarn, wo sie doch sonst eher so konservativ erzogen war. Trotzdem bleibt das Mädchen für mich sehr mutig, entschlossen und äußerst fokussiert auf das einzige Ziel ihren Bruder zu retten. Das Ende kam dann explosionsartig und hat mich wirklich schockiert und unfassbar zurückgelassen. Dabei lässt die Autorin einem den Raum zum Revue passieren und nachdenken. Der Bestseller bekam verdient 14 Literaturpreise und die Filmrechte in 20 Ländern. Für mich ist es ebenfalls ein starkes, sprachgewaltiges und ungewöhnliches Buch und ich bin gespannt, wie dieses filmisch umgesetzt wird. Von mir gibt es darum 5 von 5 Sterne dafür. :thumbup:


    ASIN/ISBN: 3423282134

    "Lebe jeden Tag so, als ob du dein ganzes Leben lang nur für diesen einen Tag gelebt hättest."

  • Meine Meinung zum Buch:



    Titel: Blicke in den Abgrund!



    Das ungewöhnliche Cover hat mich auf das Buch aufmerksam werden lassen. Da ich Erzählungen über starke weibliche Figuren sehr mag, begann ich neugierig mit der Lektüre.



    In der Geschichte geht es um ein namenloses Mädchen, die als Ich- Erzählerin fungiert und aus dem Leben mit ihrem gewalttätigen Vater berichtet. Bei einem schrecklichen Ereignis werden sowohl ihr kleiner Bruder Gilles als auch sie traumatisiert. Mit allen Mitteln versucht sie dennoch in die Zukunft zu blicken. Wird ihr dies gelingen und kann sie aus diesem teuflischen Familienkreis ausbrechen?



    Das namenlose Mädchen hat mich bereits auf den ersten Seiten für sich einnehmen können. Sie kümmert sich aufopferungsvoll um ihren Bruder, ist pfiffig und erkennt Zusammenhänge bald besser als ein Erwachsener. Sie ist zwar hochbegabt, hat dies aber zu keiner Zeit als besonderes Merkmal herausstechen lassen. Mich hat vor allem ihre Tapferkeit beeindruckt. Ich konnte mich sehr gut in sie einfühlen und es hat mir weh getan was sie aushalten muss in ihrer Familie.



    Gilles war mir hingegen sehr unheimlich. Ich verstehe, dass er durch das Ereignis einen seelischen Schaden davon getragen hat und die häusliche Gewalt sein übriges dazu beiträgt, aber deswegen muss man noch lange nicht so werden wie er, schon gar nicht als Kind. An seinem Beispiel sieht man leider sehr gut, dass Umgang den Menschen formt.



    Eigentlich hätte auf dem Cover Thriller anstatt Roman stehen müssen, denn beim Lesen hat es mich ungemein gegruselt und es hat mir teils seelische Schmerzen verursacht die Taten vom Vater und auch Gilles lesen zu müssen.



    Ansonsten ist das Geschriebene so eindringlich, dass einen das Buch regelrecht einsaugt und man nicht mehr aufhören kann.



    Ich hatte ja wirklich das Gefühl, dass es ganz böse ausgehen wird, aber das zum Schluss dann doch noch ein Silberstreif am Himmel ist, das hat mich beruhigt, denn sonst wäre mir das in Summe zu düster gewesen.



    Das Ende war überraschend, ging mir persönlich aber etwas zu glatt. Ich kann mir schlichtweg nicht vorstellen dass Ermittlungen so schnell eingestellt werden als wäre nichts gewesen.



    Fazit: Ein Roman mit Gänsehautpotential, den ich gern empfehle. Gelungen!



    Bewertung: 8/ 10 Eulenpunkten

  • Das wirkliche Leben - Adeline Dieudonné


    Mein Eindruck:

    Der Roman ist wirklich packend gemacht, aber die Überbetonung von Thrillerelementen bewirken, dass ich einige Szenen für übertrieben dargestellt empfinde. Der gewalttätige Vater ist überwiegend dämonisiert.

    Es ist aber wirklich schlimm, wie die junge Protagonistin in so einer gefährlichen Situation andauernder latenter Gewalt aufwachsen muss. Und diese Gefühlslage ist glaubhaft. Sie beinhaltet auch Sorge um ihren kleinen Bruder, der dieses Leben noch weniger als sie verträgt und emotionalen Schaden nimmt. Hinzu kommt die Enttäuschung über ihre Mutter, die die Gewalt ihres Mannes hinnimmt. Die Enttäuschung geht in Verachtung über.

    Für meinen Geschmack hätte die Darstellung der Mutter auch differenzierter sein können.

    Die Autorin konzentriert sich ganz auf ihre junge Erzählerin und so war das wohl nicht anders möglich.


    Zusätzlich beeindrucken mich ein paar intensiv beschriebene Passagen, z.B. die schockierende Jagdszene im Wald.


    Daher war ich von dem Buch schon beeindruckt!

  • Herr Palomar : Die Jagdszene war wirklich richtig heftig. Da habe ich nur mit dem Kopf geschüttelt wie man das seinem Kind nur antun kann.


    Auch fand ich dieses Jagdzimmer, wo die ganzen ausgestopften Tiere drin sind, ungemein gruselig.

  • In einer französischen Reihenhaussiedlung am Waldrand: Mit ihrem jüngeren Bruder Gilles und den Eltern wohnt ein zehnjähriges Mädchen zusammen. Nach außen wirkt die Familie ganz normal, obwohl der Vater einen bedenklichen Hang zu Whisky und die Jagd auf Großwild hat. Doch die Geschwister halten zusammen - bis zu dem Tag, als eine Tragödie vor den Augen der beiden passiert.


    „Das wirkliche Leben“ ist der Debütroman von Adeline Dieudonné.


    Meine Meinung:

    Der Roman besteht aus vielen kurzen Kapiteln. Erzählt wird in chronologischer Reihenfolge in der Ich-Perspektive aus der Sicht des Mädchens, allerdings mit erheblichem zeitlichen Abstand.


    Der Schreibstil ist nüchtern und direkt, aber auch anschaulich und atmosphärisch dicht. Auffallend sind die ungewöhnlichen Metaphern, die ich teils als sehr gelungen, teils als etwas unpassend empfunden habe. Schon nach wenigen Kapiteln entwickelt die Geschichte einen starken Sog, sodass ich das Buch nur ungern zur Seite gelegt habe.


    Der Fokus liegt auf den vier Familienmitgliedern. Die Gedanken und Gefühle des namenlosen Mädchens lassen sich sehr gut nachvollziehen. Sie ist einerseits kindlich und naiv, aber andererseits zugleich mutig und intelligent. Auch von ihrem Bruder und den Eltern entsteht ein deutliches Bild. Obwohl das Verhalten von Vater und Mutter krass ist, wirken die Figuren nicht unglaubwürdig.


    Inhaltlich ist der Roman nichts für schwache Gemüter. Dass Gewalt eine große Rolle spielt, wird schon nach wenigen Seiten klar. Auch im weiteren Verlauf schockiert die Geschichte und macht betroffen. Doch es geht nicht nur um Grausamkeiten, sondern auch um die Liebe und den Zusammenhalt zwischen Geschwistern, das Erwachsenwerden und den Kampf um Emanzipation.


    Bis zum Schluss herrscht eine unterschwellige Spannung, die immer stärker wird. Die Handlung kann mit einigen Wendungen überraschen, ist im letzten Drittel allerdings stellenweise etwas übertrieben. Das Ende konnte mich jedoch wieder überzeugen.


    Die ungewöhnliche Optik des deutschen Covers weckt Aufmerksamkeit, könnte aber falsche Erwartungen wecken. Gut gefällt mir, dass der sehr treffende Originaltitel („La vraie vie“) ins Deutsche wörtlich übersetzt wurde.


    Mein Fazit:

    „Das wirkliche Leben“ von Adeline Dieudonné ist ein Roman, der zwar nicht ohne Schwächen ist, aber mich dennoch beeindruckt und berührt hat. Eine empfehlenswerte und außergewöhnliche Lektüre.


    Ich vergebe 4 von 5 Sternen.

  • Mit der Subtilität von Trinitrotoluol


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    In einer trübseligen französischen Reihenhaussiedlung, die „Demo“ genannt wird, weil sie irgendwann als Vorzeigesiedlung geplant war, lebt ein elfjähriges Mädchen mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder, dem cholerischen, brutalen Vater und der blassen, antriebslosen Mutter. Im Sommer kommt täglich der Eiswagen, was zu den wenigen schönen Abwechslungen gehört, aber an einem dieser Sommertage, als das Mädchen Sahne zu ihrem Eis bestellt, explodiert der Sahnesyphon im Gesicht des Eisverkäufers. Es fetzt dem Mann das halbe Gesicht weg und tötet ihn, und das Mädchen gibt sich die Schuld daran, weil es sich Sahne gönnen wollte, die eigentlich tabu ist. Sie gibt sich aber vor allem die Schuld am Trauma des kleinen Bruders, der beim Eiskauf neben ihr stand und nach diesem Erlebnis für lange Zeit nicht aus der Schockstarre herauskommt – und als das dann endlich geschieht, entwickelt er sich zu einem gewalttätigen, grausamen kleinen Monster. Ein gewalttätiges, grausames und großes Monster ist der Vater längst, der nur etwas erträglicher ist, wenn er gerade auf der Jagd war, und der die Mutter fast regelmäßig blutig zusammenschlägt. Die Mutter erwartet die vorhersehbaren Attacken ihres Mannes mit stoischer Gleichmütigkeit, flüchtet danach in den zerzausten Garten, wo sie sich um ihre Zicklein kümmert. Als das Mädchen das fünfzehnte Lebensjahr erreicht, wird auch sie vom Vater als Opfer auserkoren. Aber das Mädchen will sich das nicht einfach gefallen lassen. Sie denkt, es müsse einen Weg zurück in das wirklich Leben geben, vor dem explodierten Sahnesyphon, und sie sucht nach diesem Weg.


    Über den Zeitraum von vier Jahren erleben wir dieses Drama mit. Das Mädchen, das als Ich-Erzählerin auftritt, entpuppt sich als hochbegabt und nimmt heimlich Unterricht bei einem Nobelpreisträger, der auch in dieser Siedlung wohnt. Aber selbst das ist nicht wirklich mit Hoffnung ausgestattet.


    Bis zum recht vorhersehbaren Showdown dieser wütenden und wütendmachenden Geschichte, aus der es keinen anderen Ausweg zu geben scheint als Gegengewalt, spielt die Autorin mal mehr und mal weniger geschickt auf der Klaviatur der Emotionen, die mit der Situation einhergehen, und das sind vor allem Zorn, Hilflosigkeit, Angst und Hass. Im Klappentext ist irrtierenderweise von einer „funkelnden Sprache“ die Rede, aber tatsächlich wirkt die Erzählung insgesamt sehr stakkatohaft und abgehackt, und die Sprache ist überwiegend schlicht. Das Buch ist mit seinen knapp 250 sehr, sehr großzügig gesetzten Seiten nicht lang – im normalen Satz hätte es vielleicht halb so viele –, und lässt sich rasant durchlesen, vorangetrieben auch vom Wunsch, an das Ende dieses Martyriums zu gelangen, doch der Eindruck, der zurückbleibt, ist dünn. Die Geschichte ist in ihrer inszenierten Ausweglosigkeit eher unsubtil; die Rollen sind klar besetzt, die Spielräume eng, und das ganze funktioniert nur, wenn man sich darauf einlässt, nicht zuletzt auch auf die vielen unlogischen Elemente. Das Ende lässt mehr Fragen offen als es beantwortet, und moralisch ist es mindestens problematisch.


    „Das wirkliche Leben“ ist eine flammende Anklage gegen häusliche Gewalt vor allem gegen Frauen, die oft – meistens – im Verborgenen bleibt, und als diese funktioniert es vermutlich recht gut, aber literarisch und dramaturgisch empfand ich es als zu brachial und linear.