Benjamin Myers - Offene See

  • Dieser bewegende, berührende, poetische und lyrische Roman von Benjamin Myerswar für mich ein wahrer "Glücksgriff", denn er zählt zu den bedeutendsten Büchern bis dato 2020 und zu meinen "Jahreshighlights".

    Erschienen ist der (HC, gebunden) Roman 2020 im Dumont-Verlag. Einen herzlichen Dank möchte ich auch dem genialen Übersetzerpaar Ulrike Wasel und Klaus Timmermann aussprechen!


    England, 1946:


    Benjamin Myers entführt den Leser in die unmittelbare (und davon noch sehr geprägte) Nachkriegszeit in Nordengland. Genauer gesagt in ein Dorf, in dem Robert Appleyard geboren wurde und in einer Bergarbeiterfamilie aufwuchs. Um der Enge und dem Mief des ihm vorgezeichneten Weges zu entfliehen, entscheidet er sich für eine Wanderung, die ihn ans Meer, zur "offenen See" bringen soll, das er unbedingt sehen möchte. Hier wird bereits der Freiheitsdrang des 16jährigen Protagonisten überdeutlich, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, dass er sich mit diesem Akt von den Fesseln seines alten Lebens, die ihn auf - jedoch nicht von ihm - festgelegte Ziele trimmen sollten, befreit und einen anderen (Lebens)weg einschlagen sollte....


    Kurz vor seinem Ziel folgt er einer Sackgasse in einer abgelegenen Bucht, die zu einem Cottage führt: Hier lernt er eine ältere Frau, Dulcie Piper, kennen, die am Ende dieses unscheinbaren Weges mit ihrem Hund Butler lebt: Solch' eine unkonventionelle, unverheiratete, kluge Frau hat er bisher noch nicht getroffen und ihre Art, ihre Ansichten beeindrucken ihn zutiefst. In den zahlreichen gemeinsamen Gesprächen, denen man als Leser lauscht, eröffnet sich Robert - der sich entscheidet, eine Hütte auf dem Gelände des Cottage zu renovieren und ihr für die "Verpflegung", die für die Nachkriegszeit in köstlichen Gerichten mündet, die er zuvor noch nicht kostete, damit zu danken, eine neue Perspektive und eine Welt, die er nicht kannte:


    "Man braucht ein bisschen Farbe im Leben, selbst wenn sie illusorisch ist. Und das Leben ohne Aroma ist tot." (Dulcie) DAS sind die Sätze, die einen als Leser sehr berühren, der nur ein Beispiel für viele andere kluge Sätze und Lebensweisheiten von Dulcie sind. Der Roman benötigt nicht viel Personal, Robert, Dulcie und deren Dialoge und Handlungen reichen vollkommen aus, um zu bezaubern: Die Sinneseindrücke der Natur, die Wildblumenwiese, die Landschaft werden für Robert - und auch für den Leser zum "Sinnenschmaus", der sehr bildhaft und gefühlvoll erzählt wird. War Robert eigentlich "auf der Durchreise" und wollte "die Bucht runter", so wird klar, dass er durch die Bitte eines Fischers - und auch durch sein Vorhaben, die Hütte zu renovieren, die früher ein Atelier war, länger bleiben wird.


    Die Faszination von Dulcie, die als intelligent, klug, lebenserfahren, empathisch, sprachgewandt, freiheitsliebend mit einer Abneigung jeglicher Autorität, trinkfest und heroisch definiert werden kann, überträgt sich anhand der Dialoge nicht nur auf Robert, dem sie förderlich zur Seite steht, ihm eine Welt zeigt, die er zuvor nicht kannte (Musik, Literatur, Romantik, Lyrik), sondern sie fasziniert auch immer wieder den Leser. (Jedem Jugendlichen würde ich eine solche Dulcie nur wünschen können, die exemplarisch dafür steht, wieviel Kraft in förderlichen Beziehungen zwischen Menschen steht).


    Den geheimnisvolleren Teil der Geschichte nimmt die Zeit ein, in der das Atelier noch unversehrt war und in dem gemalt wurde: Dulcie kannte eine deutsche Dichterin, deren Gedichte Robert dort findet und sie liest: An einem brandyseligen Abend erzählt Dulcie von dieser Frau, die quasi eine Schlüsselrolle in dem Roman einnimmt, in dem es um Freundschaft, Kunst und Leidenschaft, aber auch Schmerz und Verlust sowie Authentizität geht, die über Pflichterfüllung und Gehorsam gehen (sollten).


    Fazit:


    Durch eine tief berührende, bildhafte und poetische Sprache gelingt es BenjaminMyers, das nördliche England in der Nachkriegszeit wieder auferstehen zu lassen: Eine herrliche Landschaft tut sich vor dem inneren Auge auf, in der ein 16jähriger seinen Weg ins Leben sucht. Ein Roman, der sehr stimmig und wundervoll erzählt zum Ausdruck bringt, wie wichtig es ist, Förderung durch wohlgesonnene menschliche Beziehungen zu erfahren, ohne eine Gegenleistung zu verlangen: In diesem Roman ist es zudem so, dass beide Protagonisten sich gegenseitig "wecken" konnten: Während Robert erlebt, wie sehr ihn Literatur, Musik und auch die Natur inspiriert, stellt sich Dulcie den eigenen Schatten der Vergangenheit und kehrt zurück ins Leben. "OffeneSee" ist ein Roman, der mich sehr begeistern konnte und den ich absolut für lesens- und empfehlenswert erachte, daher erhält er von mir die volle Punktzahl!


    Sehr bemerkenswert im Nachwort/der Danksagung des Autors fand ich auch den Umstand, dass dieser Roman größtenteils mit Stift und Papier in einer Bibliothek verfasst wurde; den "Hütern des Wortes" ist er somit u.a. auch gewidmet. Schön! 5*****


    ASIN/ISBN: 3832181199

  • Robert kommt aus Nordengland, aus einer Gegend, in der der Kohleabbau alles bestimmt. Nach seinen Prüfungen macht er sich auf den Weg England zu erkunden, bevor er seinem Vater in die Kohlemine nachfolgen soll. Auf dem Weg an die See lernt er Dulcie kennen, die ein kleines Cottage oberhalb der englischen Nordseeküste hat und dort alleine mit ihrem Schäferhund lebt. Diese Begegnung soll sein Leben auf immer verändern. Denn Dulcie nimmt ihn ernst und zeigt ihm eine neue Welt, die Welt der Literatur und der Lyrik. Um sich bei Dulcie für Kost und Logis zu bedanken, renoviert Robert das kleine Atelier auf ihrem Grundstück auch wenn Dulcie davon eigentlich nichts wissen will. Als er dort ein Manuskript findet, wehrt Dulcie erst ab, öffnet sich aber nach und nach und gibt ihre und die Geschichte ihrer Freundin Romy preis.


    Mir hat das Buch gut gefallen. Anfangs zog es sich ein bisschen, als Robert noch alleine auf seiner Wanderschaft ist. Als er jedoch bei Dulcie ankommt, wird es interessant. Dulcie ist ganz sicher keine typische Frau ihrer Generation. Sie hält nichts von Konventionen und Denkverboten. Mit dieser Art holt sie auch Robert aus seinem eigenen Schubladendenken und öffnet ihm die Augen für eine alternative Zukunft, die er sich selber nie vorstellen konnte.


    Der Schreibstil ist sehr bildhaft, man sieht das Cottage und die Küste direkt vor sich, hört die Insekten und anderen Tiere auf der wilden Wiese vor Dulcies Cottage.


    Ein schönes Buch, dass auch ermutigt mal grösser zu denken, als man es vielleicht sonst tun würde.


    8 von 10 Punkte

  • Nach ungefähr fünf Sätzen war ich schon rettungslos in das Buch verliebt. Benjamin Myers hat so einen wunderschönen bildlichen Sprachstil, dass ich die 270 Seiten deutlich langsamer lesen musste als üblicherweise.


    Robert ist sechzehn als er beschließt, seiner Heimatstadt erst mal den Rücken zu kehren und auf Wanderschaft zu gehen. Er schlägt sich hier und da durch und landet am Ende bei der verschrobenen Dulcie. Die beiden freunden sich direkt an und helfen sich gegenseitig. Dulcie hilft Robert sich selber zu finden und Robert hilft ihr bei dabei eine schwierige Phase in ihrem Leben zu überwinden.

    Das Buch hat mir total Lust gemacht, meine Wanderschuhe zu schnüren und einfach drauflos zu gehen soweit meine Beine mich tragen. Robert erzählt die Geschichte im hohen Alter und man merkt ihm sehr an, dass er wehmütig auf diese Zeit zurück sieht. Nicht nur er hatte Dulcie total gern, auch als Leser bleibt einem nichts anderes übrig als sie zu lieben. Sie ist ehrlich und direkt, denkt völlig anders als die meisten Menschen zu dieser Zeit und ist nicht berechnend. Alles was sie tut, tut sie, weil sie überzeugt ist, dass es genau jetzt und genau so richtig ist. Ihre Zuneigung zu Robert ist echt. So eine Freundin kann man sich eigentlich nur wünschen, denn sie gehört zu den Menschen, die ihr Gegenüber tatsächlich wahrnehmen und richtig zuhören statt sich nur oberflächlich mit demjenigen abzugeben.


    Für mich ist der Hauptcharakter des Buches eindeutig Dulcie, weil sie so viel Raum in der Erzählung einnimmt, aber dabei niemals unangenehm wirkt. Robert ist der Erzähler, der allerdings so erzählt als wäre das Buch keine Fiktion, sondern als wäre alles tatsächlich geschehen. Für mich war das Buch zu keiner Zeit langweilig oder unangenehm, es war sogar zeitweise ziemlich spannend, weil der Leser erstnach und nach Dulcies Geschichte erfährt. Natürlich immer nur im gleichen Tempo wie Robert. Und ich kann euch sagen, dass die Erzählung einige Zeit in Anspruch genommen hat.


    Ich habe also zusammen mit Robert in seiner Hütte gesessen und ihm dabei zugehört, wie er in liebevollen Erinnerungen über Dulcie und ihrer gemeinsamen Zeit schwelgte. Außerdem habe ich jedes einzelne Wort eingesogen und genossen und ich bin mir sicher, dass ich mit „Offene See“ mein Monats- und vielleicht auch Jahreshighlight gefunden habe. Der Buchtitel schien mir erst mal ziemlich seltsam zu sein, aber im Laufe des Buches löst sich auf, warum es heißt wie es heißt.


    Ich kann das Buch absolut jedem empfehlen, weil ich möchte, dass so viele Menschen wie möglich es lesen und es dann genauso genießen wie ich. Vor dem Lesen sollte man sich aber im Klaren darüber sein, dass Myers zu den Autoren gehört, der Bandwurmsätze auf die Welt loslässt. Hier ein Beispiel: „In dem Moment entfalteten sich neue Gefühle von Verwirrung und Neugier in mir, vor allem jedoch ein überwältigendes, mächtiges Bewusstsein für den Raum, diesen Raum im Hier und Jetzt, als wären die Wörter über die Seite gekrochen und vom Papier gefallen und hätten mich umschlungen wie Ranken, die mich zurück in das Gedicht zogen, sodass die erdachten Zeilen und die reale Welt irgendwie zu einem tieferen Porträit von Land und Meer verschmolzen.“


    Der Autor hat schon einige Bücher geschrieben, allerdings wurden bis auf die „Bad Tuesdays“ Reihe keine weiteren Bücher ins Deutsche übersetzt.


    Das Buch wurde mir vom DuMont Verlag und von Netgalley zur Verfügung gestellt. Dies hat meine Meinung nicht beeinflusst.

  • Der Weg zu sich selbst


    Der 16-jährige Minenarbeitersohn Robert macht sich am Ende des 2. Weltkriegs und seiner Schulausbildung auf den Weg - wohin weiß er selbst noch nicht so genau.
    Nur weg von der drohenden Arbeit im Bergwerk, denn diese wartet auf ihn, genau so wie es für Generationen vor ihm war.
    Also läuft er los, an der Küste entlang, und trifft irgendwann auf die konventionslose Dulcie.
    Diese lebt alleine mit ihrem Hund Butler in einem Cottage am Meer.
    Es kommt, wie es kommen muss - Dulcie und Robert freunden sich an, Roberts geistiger Horizont wird durch Dulcie geöffnet und erweitert, er entdeckt seine Liebe zur Poesie.
    Und er entdeckt, was es mit dem kleinen Gartenhaus auf sich hat welches auf dem Weg ist, von der Natur zurück erobert zu werden.
    Am Ende des Sommers ist Robert um einige Erfahrungen reicher, diese werden sein Leben nachhaltig verändern.
    Der Roman ist rückblickend geschrieben, der alte Robert schaut auf dieses entscheidende Jahr in seinem Leben zurück.
    Der Schreibstil ist poetisch, bildhaft und ausschweifend.
    Ich habe das Buch gerne gelesen.
    Roberts Mut zur Veränderung, den er dank Dulcie findet, ist die Grundlage dieser schönen Geschichte.

  • "Offene See" wird sicher eines meiner Jahreshighlights 2020 werden. Es ist ein großartiger Roman, eines dieser Bücher, die man zuklappt und sich dann fragt, was man denn danach nun lesen soll.


    Mich hat vor allem die wunderschöne Sprache direkt eingenommen und ich habe mir mehrere Passagen markiert. Ich muss mir das Buch auf jeden Fall noch als Print zulegen, um Klebezettel hinein machen zu können und um es in ein paar Jahren noch einmal lesen zu können.


    Beschreibungen wie: "Ich ging barfuß zurück, die Socken zusammengerollt in den Stiefeln, die ich in der Hand hielt, der Kopf tropfnass von Wasser, das so frisch schmeckte wie die neue Jahreszeit." - sind so plastisch, dass man direkt Lust hat barfuß nach draußen in die Natur zu gehen und beinahe das Gefühl hat wie wunderbar es sich nach einem heißen arbeitsreichen Tag anfühlen muss die Füße ins kalte Wasser zu halten und dann durch das Gras zurück zu gehen.


    Die Protagonisten haben mir gut gefallen. Sie werden authentisch und lebensnah erzählt und mit Tiefe gezeichnet. Die Geschichte ist in sich stimmig und sehr bewegend, keine Szene ist zu viel oder zu wenig. Ein Buch, was einen dazu motiviert die Natur zu genießen und das Wesentliche im Leben nicht aus den Augen zu verlieren.


    Ich kann eine volle Leseempfehlung aussprechen, vor allem für Leserinnen und Leser, die Freude an poetischer Sprache haben.


    Definitiv 10/10 Eulenpunkte. :-)

  • Ich schwanke hin und her. Ich habe mir das Buch wegen eurer Lobeshymnen gekauft, aber ich kann leider nicht in allen Punkten zustimmen.

    Das Positive vorneweg: Der poetische Schreibstil ist wirklich atemberaubend, unvergesslich, wunder-, wunderschön. Ich zitiere einen Satz auf der ersten Seite: "Mir kam der Gedanke, dass das Meer uns die unendliche Existenz aller festen Materie vor Augen führt und dass die einzig wahren Grenzen nicht Schützengräben und Unterstände und Kontrollpunkte sind, sondern zwischen Fels und Meer und Himmel liegen."

    Schön, nicht wahr? Aber denkt so wirklich ein unbedarfter 16jähriger aus einem armen Bergarbeiterdorf? Er denkt und redet immer weiter so, man möchte in die schönen Sätze hineinkriechen - wenn sie denn zu ihm passen würden.

    Dann lernt er Dulcie kennen, und schwuppps - leert sie all ihre klugen Gedanken unvermittelt über ihm aus. Warum? Und warum gerade ihm? Das hat sich mir nicht erschlossen.

    Es war für mich ziemlich offensichtlich, dass die dürftige Rahmenhandlung nur dazu herhalten sollte, den Autor zu Wort kommen zu lassen. Zum Glück hat er etwas zu sagen!

    Dennoch hat mich das Buch etwas enttäuscht. Vielleicht hatte ich zu hohe Erwartungen?

    Wegen der unglaublichen kraftvollen, bezaubernden Bildersprache bekommt es dennoch einen Ehrenplatz in meinem Regal.

  • Aber denkt so wirklich ein unbedarfter 16jähriger aus einem armen Bergarbeiterdorf? Er denkt und redet immer weiter so, man möchte in die schönen Sätze hineinkriechen - wenn sie denn zu ihm passen würden.

    Das waren ja auch so meine Gedanken - bis jemand erwähnt hat, dass ja der alte Robert ( der nun seit vielen Jahren Schriftsteller ist ) die Geschichte rückblickend erzählt.

    Das hat mich dann etwas versöhnt, da die Beschreibungen wirklich nicht zu dem 16-jährigen passen.....

  • „Nur wenn ich allein in der Natur war, hatte ich je eine Ahnung von meinem wahren Ich bekommen.“


    go outside – work - eat – read – sleep: Das ist die Rezeptformel von B. M.´s Roman “Offene See”.


    Ein gutes Rezept hat der Autor da ausprobiert: Noch einer, der raus will, raus in die Natur, um dem engen Elternhaus zu entkommen, jedoch in einer gänzlich anderen Zeit als unserer, nämlich nach dem Schrecken des Krieges, wo „der Sieg der Alliierten nicht süß schmeckt“.

    Er soll mich mitnehmen auf seine Wanderung, er, der den Krieg als Kind bis zum Teenager-Alter erlebt hat, mich, die Brut der Schuldigen. Und er nimmt mich mit; in ein England der Nachkriegszeit, wo die Menschen mehr denn je nach Leben hungern und für ihre Gefallenen noch mehr leben wollen, weil sie es ihnen ganz einfach schuldig sind.

    Gerade anfangs wird der Krieg sehr oft erwähnt, für den Leser und den Reisenden kommt so keine Wohlfühlatmosphäre auf. Die Beschreibungen der Landschaft sind, auch nur anfangs, sehr sachlich.

    Aber dann trifft Robert auf ein malerisches Cottage und auf eine Frau, die wie aus der Zeit gefallen zu sein scheint (fragt sich nur, aus welcher): Dulcie. Und dann wird es plötzlich doch noch ein Wohlfühlbuch. Robert entdeckt die Sinnlichkeit von Lyrik, Poesie und Literatur, des Essens, der Natur – des Lebens.


    Frauen wie Dulcie sind immer Außenseiterinnen – insgeheim träumt wohl jeder von uns davon, eine Dulcie zu treffen – oder eine zu sein.


    Hätte dieses Buch eine Frau veröffentlicht, hätte es vermutlich “Die Honigschleuderin” geheißen und das Cover hätte vielleicht die Zeichnung einer Hütte gezeigt. Ich hoffe, dass noch viele Leser herausfinden möchten, warum!


    Es war sehr interessant und schön zu lesen, wie ein Mann mit der oben genannten Formel arbeitet, diese umsetzt. Das kannte ich bisher nur von der weiblichen Autorenfront. Letzendlich hat mir B.M. aber auch aufgezeigt, dass ich diese Formel bereits lebe und sehr glücklich damit bin:


    go outside – work – eat – read – sleep.

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“

  • Edelesoquark


    dreisterne.gif


    Der sechzehnjährige Robert hat in seinem Kohlebergbauort an der britischen Küste eine sprichwörtlich in Stein gemeißelte Zukunft vor sich, deshalb will er sich in diesem Sommer kurz nach dem Zweiten Weltkrieg den Duft der Freiheit noch ein wenig um die Nase wehen lassen und wandert übers Land, von Ortschaft zu Ortschaft, wo er jeweils für einen Tagelohn Arbeiten annimmt und mit wenig auskommt. Sein Ziel ist die andere Küste, irgendwo im Süden, wo der Blick auf die offene See unverstellt ist, wo echte Landschaft auf den wilden Ozean trifft. Wo man ein Gefühl für die Weite bekommt, für die Möglichkeiten und Optionen des Lebens.


    Wie es der Zufall beziehungsweise der Autor will, landet er kurz vor dem Ziel bei der eigenartigen, selbstbewussten Dulcie, die aus Roberts Sicht eine alte Frau ist und ein herziges Cottage auf den Klippen bewohnt. Aus dieser Begegnung wird eine tiefe Freundschaft, und als Katalysator dienen gutes Essen, reichlich Wein, die Literatur, ein Hund namens "Butler", Roberts handwerkliches Geschick und ein Manuskript, das die Geliebte von Dulcie hinterlassen hat, bevor sie ins Meer ging, um sich auf diese Weise umzubringen.


    "Offene See" ist fein ausgestattet, der Text zeichnet ein anschauliches Bild jener Zeit, und es gibt nicht wenige Passagen, die sprachlich und manchmal sogar inhaltlich überzeugen, aber meistens ist dieses Märchen vom Aschenputtel in Gestalt eines jungen, aber verblüffend weisen Bergarbeitersohnes, der seine ungeahnte intellektuelle Bestimmung findet, ziemlicher Esoquark. Viele Passagen sind, obwohl deutlich besser formuliert, beinahe coelhoesk, aber vor allem ist die überschaubare Handlung dieses Romans, der eher eine Novelle ist, unterm Strich eher langweilig, selten überraschend und so sehr in die Botschaft gezwängt, dass es alsbald Spaß zu machen aufhört, das mit lyrischen Superlativen überfrachtete Geschwurbel zu lesen. Im Prinzip ist schon im Moment der Begegnung von Robert und Dulcie, nein, schon bei seinem Aufbruch klar, wohin die Geschichte führen soll, aber zumindest aus meiner Sicht ist es Myers nicht gelungen, unter all dem sprachlichen Zuckerguss den Weg dorthin glaubhaft zu zeigen. Vor allem in jenen Momenten, wenn Robert die beinahe magische Wirkung der Lyrik ausmacht und sie sozusagen intuitiv durchdringt, wirkt die Erzählung hilflos - und ist auf tolerante Leserschaft angewiesen, die das dem Autor abkauft. Eine solche Leserschaft wird möglicherweise ihr Vergnügen mit "Offene See" haben, aber das meine hielt sich in Grenzen.

  • Edelesoquark


    dreisterne.gif


    Vor allem in jenen Momenten, wenn Robert die beinahe magische Wirkung der Lyrik ausmacht und sie sozusagen intuitiv durchdringt, wirkt die Erzählung hilflos - und ist auf tolerante Leserschaft angewiesen, die das dem Autor abkauft. Eine solche Leserschaft wird möglicherweise ihr Vergnügen mit "Offene See" haben, aber das meine hielt sich in Grenzen.

    Wow, fühlt sich fast ein bisschen wie ´ne Ohrfeige an, wenn einem das Buch gefallen hat. Tolerant steht hier eigentlich für etwas anderes, oder?


    Ich habe das Buch nicht als zuckergussüberzogen oder esoterisch empfunden, das nur für die Nachleserschaft.

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“

  • Hallo, killerbinchen.


    Ich habe das Buch nicht als zuckergussüberzogen oder esoterisch empfunden, das nur für die Nachleserschaft.

    Ich habe das Buch als deutlich esoterisch empfunden und die Erzählsprache als überwiegend dekorativ. Ich habe dem Autor das beinahe magische, lyrische Durchdrungensein seiner Hauptfigur nicht abgenommen, mir fehlte da das nachvollziehbare Moment, der Zugang, das Geschehen hinter den schönen Worten. Ich habe nicht geschrieben, dass ich Leute, denen das anders geht oder erging, damit irgendwie be- oder gar aburteile - man muss dem Autor das eben abkaufen, und ich mache das nicht, Punkt. An dieser Stelle scheiterte das Buch für mich. Anderen gefiel es sehr gut, was für mich selbstverständlich okay ist, denn so ist das nun einmal mit der Literaturrezeption.


    Niemand sollte sich persönlich angegriffen fühlen, wenn einer anderen Person etwas nicht gefällt, das man selbst mag. Ich find's übrigens umgekehrt sehr viel schlimmer: Wenn andere so tun, als würden sie etwas mögen, nur weil sie einem nicht wehtun wollen. Aber, hey, wir sind hier in einem Bücherforum und tauschen Eindrücke über Bücher aus. Und meiner war der oben geschilderte.

  • Ich fühle mich nicht von deiner Meinung die das Buch betrifft angegriffen, deshalb habe ich bewusst den Text zitiert, um den es mir geht, und ich denke, das weißt du auch.

    Die Aussage "da muss man schon soundso sein, damit einem das Buch gefällt" ist das, was mir gegen den Strich ging. Verstehst du, was ich meine?

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“

  • Verstehst du, was ich meine?

    Man muss zur "(dem Text gegenüber) toleranten Leserschaft, die ihm das abkauft" gehören, ja, das habe ich verstanden, dass Dir das unangenehm aufgestoßen ist. Ich kann dazu nur wiederholen, was ich oben geschrieben habe. Ich empfand das als nicht schlüssig und in dicke, süße, sprachliche Sahne getaucht, und ich habe es ihm nicht abgekauft. Du siehst das anders. Ich sehe Dich damit aber nicht anders. Ich habe nicht geschrieben, dass man mental schallgedämpft sein muss, um an diesem Buch gefallen zu finden, oder irgendwas sonst in dieser Art, sondern nur - nein. Ich wiederhole es nicht zum dritten Mal. ;) (Im Übrigen hat Rita weiter oben ein ähnliches Empfinden zum Ausdruck gebracht.)

  • Titel: Offene See

    Autor: Benjamin Myers

    Übersetzt aus dem Englischen von: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

    Verlag: Dumont

    Erschienen: März 2020

    Seitenzahl: 270

    ISBN-10: 3832181199

    Preis: 20.00 EUR


    Das sagt der Klappentext:

    Der junge Robert weiß schon früh, dass er wie alle Männer seiner Familie Bergarbeiter sein wird. Dabei ist ihm Enge ein Graus. Er liebt Natur und Bewegung, sehnt sich nach der Weite des Meeres. Daher beschließt er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sich zum Ort seiner Sehnsucht, der offenen See, aufzumachen. Fast am Ziel angekommen, lernt er eine ältere Frau kennen, die ihn auf eine Tasse Tee in ihr leicht heruntergekommenes Cottage einlädt. Eine Frau wie Dulcie hat er noch nie getroffen: unverheiratet, allein lebend, unkonventionell, mit sehr klaren und für ihn unerhörten Ansichten zu Ehe, Familie und Religion. Aus dem Nachmittag wird ein längerer Aufenthalt, und Robert lernt eine ihm vollkommen unbekannte Welt kennen. In den Gesprächen mit Dulcie wandelt sich sein von den Eltern geprägter Blick auf das Leben.


    Der Autor:

    Benjamin Myers, geboren 1976, ist Journalist und Schriftsteller. Myers hat nicht nur Romane, sondern auch Sachbücher und Lyrik geschrieben. Für seine Romane hat er mehrere Preise erhalten. Er lebt mit seiner Frau in Nordengland.


    Meine Leseeindrücke:

    Um gleich mal mit der Tür ins Haus zu fallen: Ein empathischer, ruhiger und intensiver Roman. Ein sehr schönes Leseerlebnis. Ein Roman über Freundschaft, tiefe Menschlichkeit und Verluste. Ich habe jede Seite dieses Buches genossen. Wunderbar geschrieben mit einer ganz besonderen Intensität und Tiefe.

    Die handelnden Personen – eigentlich sind es nur zwei Personen – sind wirklich großartig gezeichnet. Der Autor verwendet keine Klischees und dümmliche Sentimentalitäten. Ein realistischer und teilweise auch ein Roman mit einer ganze besonderen leisen Romantik und Melancholie.

    Eigentlich ist die erzählte Geschichte eher banal – aber Banalität ist ja eben nicht unbedingt etwas Negatives. Und das was erzählt wird ist sicher nicht für irgendwelche sensationsheischenden Schlagzeilen geeignet – nein, das was erzählt wird ist nichts anderes als das Leben, das ganz normale Leben – kurz nach dem Kriege in England.

    Ein sehr lesenswerter Roman dem ich sehr viele Leser wünsche.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ich habe seinerzeit die obigen Beiträge aufmerksam verfolgt, wollte es selbst gern einmal lesen, bin dann aber irgendwie von dem Buch abgekommen. Jetzt lag es in einer Buchhandlung, in der ich eine Lesung hatte, auf dem Tresen, und ich habe es mir endlich gekauft. Tja, und wieder einmal habe ich gemerkt, dass es gar nicht gut ist, VOR der Lektüre eines Buches bereits kontroverse Besprechungen davon gesehen zu haben. Immerhin gehen sie hier in diesem Thread von "großartiger Roman mit wunderschöner Sprache" bis zu "ziemlicher Esoquark" und "beinahe coelhoesk". Letzteres hat mich besonders abgeschreckt, denn meine Einstellung zu den Elaboraten Coelhos, des "Weltmeisters des Esoterikschunds" (MRR) ist wohl bekannt. Also versuchte ich alles zu vergessen, was ich hier gelesen hatte, und habe mich einfach in das Buch vertieft.


    Die ersten etwa 140 Seiten sind langatmig. Da wandert ein sechzehnjähriger Bergarbeitersohn mit einfacher Schulbildung planlos über alle möglichen Wiesen, beschreibt deren Bewuchs mit haarsträubender Intensität und fabuliert in einem Stil über sein bisheriges Leben, der für diese Figur völlig überzogen ist. Sonst aber geschieht - nichts. Jedenfalls nichts, das der Erzählung wert wäre.

    Als meine Frau (die das Buch vor mir gelesen hatte) sah, dass ich genervt war von dieser Lektüre, riet sie mir, es nicht wegzulegen, denn "in der zweiten Hälfte wird das ein richtig gutes Buch - wirst sehen!". Nach 43 Jahren Ehe mit dieser Dame weiß ich, wann ich ihrem Rat folgen sollte, und tat das dann auch. Und siehe da: Es wandelte sich wahrhaftig zum Lesevergnügen! Plötzlich - nämlich genau an der Stelle, wo der Held mit Dulcie zusammentrifft - wird dem Leser klar, dass der Autor gar nichts anderes für diese Geschichte im Köcher hatte als das, was nun passiert. Die erste Hälfte hat er wohl nur so lang ausgewalzt, weil er unbedingt einen Roman aus etwas machen wollte, das eher zu einer richtig guten Novelle getaugt hätte. Die sich nun entspinnende Entwicklung des Helden (wunderbar befeuert von der für ihre Zeit absolut "unmöglichen" Dulcie), die - durchaus nachvollziehbar - in seinem Entschluss kumuliert, Schriftsteller zu werden, ist gleichermaßen packend wie anrührend. Esoterikschund (zumindest solchen coelhoscher Prägung) konnte ich nicht entdecken.

    Nun, der zweite Teil des Buches hat mich mit dem ersten weitgehend versöhnt. Insgesamt war "Offene See" dann doch ein Lesevergnügen.

  • Mit Büchern mag es wie mit Menschen sein:


    Zu manchen hat man "Zugang", zu anderen nicht ;)


    und eine Leseweisheit, die mich seit Langem begleitet ist die, niemals eine Rezension geschweige denn viele oder kontroverse zu lesen, bevor ich SELBST das Buch gelesen habe, um das es geht.

    Nun weiß ich wieder umso mehr, warum :)