Grenzen der eigenen Sprache

  • Liebe Autoreneulen,


    ich gerate in der letzten Zeit immer häufiger an die Grenzen meiner eigenen Sprache. Das klingt komisch, deshalb muss ich es erklären.


    Bei anderen Autoren finde ich überall Worte, die ich natürlich kenne, aber noch nie im Leben benützt habe. Entgegnen ist so ein Wort. Meine Figuren erwidern, antworten, sprechen, sagen, erklären, aber sie entgegnen niemals etwas.
    Ich habe auch noch nie die Worte "missmutig" verwandt, "verdrießlich" oder "verzagt" gesagt oder geschrieben. Meine Figuren gehen immer nur schlafen, sie haben sich noch nie "zur Ruhe gelegt" usw.


    Wie geht es euch damit? Benützt auch ihr immer dieselben Worte? Wenn ja, stört ihr euch daran? Was tut ihr dagegen? Wie sprengt ihr die Grenzen der eigenen Sprache?

  • Hallo, Ines.


    Bemerkenswerte Fragestellung.


    Wir bewegen uns ja in ganz unterschiedlichen Genres, deshalb weiß ich nicht, ob meine Antwort hilfreich ist. Jedenfalls - ich bemerke an mir, daß meine Sprachwahl starken Schwankungen unterliegt, es gibt innere Trends und Entwicklungen. Ich habe manchmal Lieblingswörter, die ich dann gehäuft einsetze. Um dem vorzubeugen/entgegenzuwirken, schlage ich ganz oft im Dornseiff nach, aktiviere den Thesaurus oder ähnliches. Aber das Vokabular muß passen - bei Dir, im historischen Bereich, wie bei mir in der "Popliteratur". Ein cooler, lässiger Typ in der Kneipe "entgegnet" nicht. Andererseits empfinde ich dieses wirklich schöne Verb "entgegnen" als zwingend zum Vokabular für Historienromane zugehörig. :grin


    In letzter Zeit lese ich verstärkt englischsprachige Texte, wobei ich dann parallel in Wörterbüchern blättere. Wörter, die man nachschlägt, bleiben hängen. "Seufzen" habe ich lange nicht mehr in Geschichten benutzt, aber weil's mir gerade in einem englischen Text (to sigh, ich mußte tatsächlich nachschlagen) häufiger begegnet ist, habe ich es auch gleich in einer Geschichte eingesetzt.


    HTH.

  • Bei mir liegt die Grenze meiner Sprache eher in der Wortwahl.


    Ich bin mir Wörter, wie "nämlich" bewusst, aber ich mag sie nicht, bzw, ihren Klang und verwende sie daher nicht.


    Bei Wörtern wie "Plötzlich" kommt es darauf an. Innerhalb eines Absatzes kann ich es auch Mal verwenden, aber am Anfang eines Absatzes wirkt es mir deplatziert.


    Mit der Vielfalt der Wortwahl habe ich weniger Probleme, von anworten bis zynisch grinsen tun sie bei mir alles.


    Da ich meine Sätze in der wörtlichen Rede


    sowohl:


    "...", ... .


    als auch:


    "... ." ... .


    und:


    ... : "... ."


    sowie:


    ... . " ... ."


    und schließlich:


    "... . "


    aufbaue, komme ich auch selten in die Enge mit der Wortvielfalt.




    JASS :keks

  • Liebe Ines,
    interessant, aus der Richtung habe ich es noch nicht betrachtet. Mir fällt natürlich auch auf, dass mir beim Lesen Wörter begegnen, die ich nicht verwende, oder eben noch nicht ... Denn manche rutschen dann in meinen aktiven Wortschatz, was die Grenzen der eigenen Sprache dann doch wieder erweitert, oder?
    Ich glaube, ich habe eher mit Lieblingswörter (und -formulierungen) zu kämpfen. Da ist dann der Thesaurus u.ä. hilfreich.


    Herzliche Grüße,
    Solas :write

  • Hi, Ines,
    bei mir, in einem ganz anderen Bereich publizierend, hat es so angefangen, daß ich vor Jahren schon gegen die Vielzahl von Fremdwörtern allergisch wurde, die oft nur Worthülsen sind. Dazu kommt, daß man, wenn man an Fachtermini gebunden ist, sich einer gewissen Steifheit der Sprache ausgesetzt sieht.
    Das hat mir nicht gefallen. Seither versuche ich, möglichst viele Wörter deutsch auszudrücken.
    Bei mir wird nicht involviert und perzipiert und es wird auch nichts manifest.
    Meine Texte sind Texte oder aber, genauer bestimmt, Artikel oder Aufsätze oder von mir aus Kurzgeschichten, aber nie 'entäußerte Textsubstrate'.
    Dabei hat sich mein Vokabular gewaltig erweitert.
    Allerdings falle ich aus dem gewohnten Jargon raus, da mault schon mal ein Redakteur. ;-)


    Schreibe ich Fiktionales, hängt es, wie Tom schon sagte, am Genre. Ein, sagen wir, Vampir aus dem 18. Jh. spricht anders als eine Schülerinnenfigur 2004.


    Bist Du je über Karl Kraus gestolpert? ;-) Schwere Lektüre, aber lohnenswert, auf Dauer gesehen.


    Und Lyrik lesen lohnt sich auch. DichterInnen verfügen über ein hochvalentes, vielfach potenziertes Vokabular an der maximalen Obergrenze sprachlichen Potenzials.
    Ich meine natürlich, daß sie einen sehr umfangreichen Wortschatz haben :grin

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Hallo, Magali.


    Sorry, aber das schreit ja nach einem Kommentar:


    Zitat

    Das hat mir nicht gefallen. Seither versuche ich, möglichst viele Wörter deutsch auszudrücken.


    Zwei Sätze später (außerhalb des Beispiels):


    Zitat

    Meine Texte sind Texte oder aber, genauer bestimmt, Artikel oder Aufsätze oder von mir aus Kurzgeschichten, aber nie 'entäußerte Textsubstrate'.


    Text (lat.)
    Artikel (lat.)
    Substrat (lat.)


    Das nur am Rande. :lache


    Spaß beiseite. Ich denke, das Kernproblem - neben der Vielfalt innerhalb der genutzten Schriftsprache - ist eben, wie mehrfach erwähnt, ihre Angemessenheit. Vielfalt und Abwechslung um jeden Preis können zudem auch störend, gezwungen, nachgerade nervig wirken. Manchmal "sagt" man eben einfach, fertig, aus. Da stört es, wenn stattdessen gemurmelt, geantwortet, entgegnet wird. Schreiben ist sprachliche Komposition. Die Melodie muß stimmen, unabhängig davon, ob aufwendige Akkordfolgen o.ä. eingesetzt wurden - oder nicht.

  • Liebe Ines,


    ich bin ja keine Autoreneule, sondern "nur" eine Lesereule, aber ich finde Deine Frage sehr interessant und bin mal gespannt, was Du noch für Antworten findest.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Guten Morgen,


    und danke schön für eure Antworten.


    Fast habe ich den Eindruck, dass es mir mangels geeigneter Worte nicht ganz gelungen ist, zu sagen was ich meine. Es geht mir nicht um Thesaurus und andere Hilfsmittel, sondern schlicht darum herauszufinden, warum ich von all den vielen, vielen Worten, die es gibt, immer nur einen Teil davon verwende. Der andere Teil steht mir einfach nicht zur Verfügung. Selbst Goethe, heißt es, hat nur rund 20.000 Worte benützt. Die anderen fielen unter den Tisch.
    Ich fühle mich dabei wie ein Maler, der nur eine begrenzte Farbanzahl zur Verfügung hat, um ein Bild zu malen.
    Würde ich mehr Worte kennen und benutzen, so denke ich, würde auch die Sprache präziser werden. Und vielleicht sogar die Gedanken.


    Habt Ihr euch schon mal gefragt, warum wir im Alltag stets im Perfekt sprechen? Gestern habe ich eine Katze gesehen, sagt man. Nie: Gestern sah ich eine Katze.
    Vor drei Jahren bin ich sehr krank gewesen und habe im Krankenhaus gelegen, statt: Vor drei Jahren erkrankte ich und lag im Krankenhaus.


    Kennt ihr jemanden, der im Präteritum spricht? Redet ihr auch alle im Perfekt?

  • Huhu Ines!


    Ich glaube nicht, daß man "alle" Worte bewusst in seinem eigenen Wortschatz parat halten kann. Dazu ist jeder von seiner Umwelt, den Menschen mit denen er spricht, diskutiert, etc. viel zu sehr geprägt und beeinflusst.


    Der Vergleich mit einem Maler hinkt mMn, da alle Farben sich letztendlich auf die drei Grundfarben reduzieren lassen. Sprache ist vielfältiger, selbst ein Grundwortschatz umfasst bereits viele hundert verschiedene Ausdrucksformen, die sich anders als Farben nicht einfach mischen lassen.


    Gelungene Wortkombinationen, Ausdrucksweisen versuche ich mir zu merken und auch in eigenen Texten einzusetzen, wo sie passend erscheinen. Zu beobachten, wie andere Autoren Sprache einsetzen und damit arbeiten ist dabei (manchmal, nicht immer) hochinteressant, spannend und lehrreich.


    Achja, wegen des Perfekts: Mir kommt das einfach flüssiger vor, schneller, einer Plauderei eben angemessener. Wenn man einen Vortrag hält spricht man ja auch anders und verwendet die dazu passenden Zeitformen.


    Gruss,


    Doc

  • Tom


    ich habe nicht geschrieben, daß ich grundsätzlich Wörter, die als Fremdwörter gelten, vermeide. Noch rufe ich dazu auf.
    Ich habe geschrieben, daß ich aufmerksam wurde auf die Einschränkungen, die Sprache erleiden kann, wenn durchgängig Fremdwörter benutzt werden.


    Es geht doch eben darum, so viele Variationsmöglichkeiten zur Verfügung zu haben, wie es nur geht.


    Ich sage und schreibe 'Soße'.
    Ich verlange kein deutschtümmelndes 'Beiguß'.
    Noch verwende ich ein neu-deutsches 'Sauce' oder gar den 'haute-cuisinierten' 'Spiegel'


    Trotzdem kenne ich diese Wörter.


    Ines


    Du mußt aber Schrift- und Sprechsprache unterscheiden. das sind ganz unterschiedliche Ebenen.


    @doc


    So falsch war der Maler-Vergleich nicht. Es kommt doch auf die Farbwirkung an.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von magali ()

  • Hallo zusammen, hallo Ines,


    Ich glaube, ich würde die Begrenztheit des eigenen aktiven Wortschatzes nicht als Mangel beschreiben, wie du es tust, also als Verlust von Ausdrucksmöglichkeit. Es gibt ja bestimmte Schriftsteller, die einen extrem variantenreichen Wortschatz haben (etwa Pynchon); dann gibt es wieder solche, bei denen Kargheit Programm ist (etwa Kafka). Der spezifische Wortschatz ist doch auch etwas, woran man Texte erkennen kann, er ist eine Art Fingerabdruck. Es ist natürlich eine eigene und sehr interessante Fähigkeit, Stile kopieren zu können, aber zur eigenen Ausdrucksfähigkeit gehört doch auch eine Vertrautheit mit dem spezifischen Wortmaterial, die ich durch die persönliche Sprachentwicklung gewonnen habe (das sehe ich wie Doc) und die in einem thesaurierten (kann man das sagen?) Text manchmal auch verloren geht. Ist es nicht schön, wenn du sagen hörst: Man erkennt diesen Text als deinen?


    Zum Thema Zeit (juhu, Linguistik!): Präteritum und Perfekt haben ja noch Reste von Aspekten in sich. "Gestern sah ich eine Katze" klingt deshalb für mich auch falsch; im Gegensatz zu "letztes Jahr lag ich eine Zeit im Krankenhaus" - das könntest du mich bisweilen wohl auch sagen hören.
    Aber Sprache hat eine Tendenz zur Auslagerung, so dass das Perfekt und auch der mit "würde" gebildete Konjunktiv über kurz oder lang die Oberhand gewinnen, einfach weil es einfacher ist, sich ein PPP zu merken (und dazu ein Hilfsverb, das ich im Präsens ohnehin kennen muss), als eine ganze Palette von Konjugationen. Dieses letzte Wissen wird dann eben irgendwann zum Zeichen einer besonders ausgefeilten Sprache oder zum Kennzeichen von Schriftsprache (wie magali schon sagte). Für den alltäglichen Gebrauch tendiert Otto N. zur Einfachheit.


    Herzlich, B.

  • magali
    Um also beim Malervergleich zu bleiben (der ja meinen Worten nach nicht falsch war, sondern mMn nur hinkt):
    Um etwas Ausdrucksstarkes zu erreichen, kann ein Maler doch ebenso gut nur eine einzige Farbe bzw. sehr wenige Farben benutzen. Er muß doch nicht bei allen seinen Bildern aus dem vollen Farbspektrum schöpfen. Ein Autor macht es nicht anders bzw. muß es nicht anders machen, um interessante Texte zu verfassen, oder?


    Gruss,


    Doc

  • Bartlebooth,


    genau darum geht es: um die Entwicklung der eigenen Sprache und Ausdrucksfähigkeit!!! Ich habe es nicht kontrolliert, doch ich hoffe sehr, dass zwischen meinem ersten und meinem letzten Buch eine Entwicklung der Sprache statt gefunden hat.

  • Liebe Ines,


    auch ich habe mit großem Interesse Deinen Beitrag gelesen. Besonders bemerkenswert fand ich den Diskussionspunkt Zeitformen und die Verwendung des Wortes "Präteritum". Als ich 1992 zum Studium nach Kiel kam, kannte keiner diesen Begriff und alle redeten von "Imperfekt". Während meines Studiums und vor allem im Referendariat legten die Ausbilder großen Wert auf den korrekten Gebrauch von Fachbegriffen, die genaue Schilderung von zeitlichen Abläufen und letztlich die richtige Verwendung von Zeitformen. Diese Ausbildung hat stark geprägt. Die Auswirkungen zeigen sich nicht nur in beruflichen Schriftstücken, sondern auch in privaten Schreiben. Dabei kann es schon vorkommen, daß der Imperfekt in der Umgangssprache auftaucht. "Gestern sah ich eine Katze" hätte also durchaus auf mich zutreffen können. Beobachte ich allerdings die Verwendung der Vergangenheitsform bei meinen Mitmenschen, so habe ich oft den Eindruck, daß sich diese Ausdrucksweise gestelzt anhört, andere würden von Bürokraten- oder Behördendeutsch sprechen.


    Natürlich bestehen Unterschiede bei der Verwendung von Zeitformen im Reden und im Schreiben. Beim Sprechen habe ich nicht permanent die Grammatik im Kopf, sondern rede wie ich es durch mein Umfeld gelernt habe (meine persönliche Ansicht). Bei der schriftlichen Wiedergabe achte ich auf das, was ich niederlege und habe die Möglichkeit des Korrekturlesens (orthographisch als auch grammatikalisch).

  • Hallo Ines,


    Sprachentwicklung in der einen oder anderen Form findet wohl permanent statt. Es geht dabei aber mE nicht ausschließlich darum, den aktiven Wortschatz auszubauen. Eine Ausdrucksfähigkeit erhöht sich doch nicht linear mit der Anzahl der verwendeten unterschiedlichen Wörter.
    Mein Bsp. war vielleicht nicht klar genug: Würdest du sagen, Pynchons Ausdrucksfähigkeit ist größer als die Kafkas? Oder Bernhards? Nur weil er in seinen Texten einen viel größeren Wortschatz hat?
    Ich hoffe, wir posten gerade nicht aneinander vorbei; die Knappheit deiner Antwort macht es mir im Moment nicht leicht zu verstehen, ob ich dir auf die Füße getreten bin (wobei ich nicht wüsste womit, es also erstmal nicht annehme, ansonsten bitte ich schon mal vorsorglich um Verzeihung) oder ob die drei !!! kennzeichnen sollen, dass ich deine Frage richtig verstanden habe. :-)


    Herzlich, B.

  • Hallo, Bartlebooth,


    aber nein, es gibt keinen Grund für eine Entschuldigung. Gar nicht. Wieso auch?
    Die drei Ausrufungszeichen waren eher ein Ausdruck der Zustimmung.


    Merkwürdigerweise habe ich aber noch immer den Eindruck, nicht exakt das ausgedrückt zu haben, um das es mir eigentlich ging.
    Natürlich findet Sprachentwicklung ständig statt, jeden Tag. Ich glaube schon, dass meine Ausdrucksfähigkeit steigt, wenn mein Wortschatz umfassender ist. Das hat auch nichts mit der Kargheit der Sprache zu tun. Im Gegenteil: Ich halte Kargheit in der Sprache für erstrebenswert. Ich möchte mit wenigen Worten genau das ausdrücken, was ich meine. Die Kenntnis vieler Worte soll nicht der Geschwätzigkeit oder Langatmigkeit dienen, sondern der besseren Auswahl. Ja, ich glaube, das ist es: Ich strebe eine größere Auswahl an, um exakt das ausdrücken zu können, was ich meine. Ich wünsche mir eine Vielzahl von Worten, damit ich an das, was ich eigentlich sagen möchte, so nahe wie möglich heran komme.
    Ein Beispiel: Nach einem langen, anstrengendem Streit beschließt ein Paar, zu Bett zu gehen.
    Wenn sie sagt: "Lass uns schlafen gehen" ist diese Aussage recht weit gefasst. Würde sie aber sagen: "Lass uns zur Ruhe gehen" ist dieser Ausdruck meiner Meinung nach präziser, denn er benennt gleichzeitig den inneren Aufruhr und die Sehnsucht nach Ruhe. Verstehst du, was ich meine?


    Ein anderes Beispiel: Jemand sagt: "Ich liebe dich." Diesen Satz hat er auch schon zu anderen Frauen zu anderen Zeiten gesagt. Aber die Lieben unterscheiden sich voneinander. Wie also kann er der Frau sagen, dass er sie liebt, ohne dabei Worte zu benutzen, die er für ähnliche, aber keineswegs gleiche Situationen benutzt hat?

  • Ich ärgere mich total, dass ich gerade keine Zeit habe, hier vernünftig mitzumachen, denn das Thema ist sooo spannend! :fetch


    Ines , das mit der Auswahl ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt. Sich dann gezielt und bewusst zu beschränken ermöglicht eine grössere Souveränität im Umgang mit der Sprache, als wenn man von vornherein "beschränkt ist".


    Allerdings erfordert die grössere Auswahl dann auch eine weit grössere Souveränität, damit der Schuss nicht nach hinten losgeht. Fremdwortverliebtheit ist ein Beispiel. Ein anderes Beispiel ist, dass un-gewohnte Formulierungen ein Bruch mit Versteh-Konventionen sind und man die Wirkung mit einkalkulieren muss. "Lass uns schlafen gehen" ist eben nicht nur ein semantisch etwas ungenauer Ausdruck für das, was das Ehepaar da tun will, sondern im Kontext durchaus der Abschluss eines Tages durch Augen zumachen, Abstand gewinnen - und Ruhe finden. Sagen sie dagegen "Lass uns zur Ruhe gehen", ist das zuallererst eine ungewöhnliche Formulierung, die im Alltagsdialog vermutlich nicht verwendet würde, sie wirkt künstlich und wirkt nicht mehr auf unmittelbare Weise. Für mich bestünde die Herausforderung dann darin, den Aspekt der "Ruhe" in eine sprachliche Form zu fassen, die einerseits das Besondere an diesem "Insbettgehen" zum Ausdruck bringt, andererseits aber nicht so "markiert" ist, dass sie auf sich selbst aufmerksam macht.


    Das Präteritum.............. hmmmm..... das würde ich am liebsten in den Sprach-Thread rüberziehen, den wir vor einer Weile mal hatten. Hier in der Schweiz wird in der gesprochenen Sprache nur das Perfekt verwendet. Die Leute wissen aber, dass das in der Hochsprache so nicht funktioniert (ohne genau zu wissen, wie es denn funktioniert), und manche ersetzen dann im Hochdeutschen jedes Perfekt durch ein Präteritum. Das hat manchmal zur Folge, dass man als Deutsche den Sinn des Satzes nicht mehr richtig versteht, denn in manchen Zusammenhängen ist das Präteritum schlicht falsch, weil es die Bedeutung verändert, und nicht etwa "besseres Deutsch". Beispiel? :gruebel Ein E-Mail meiner Kollegin an einen Geschäftskontakt: "Guten Tag Frau Sowieso; ich lud Ihnen den Text auf unseren Server hoch, damit Sie ihn bearbeiten können. Mit freundlichen Grüssen" :wow


    Hach, und noch so viel mehr gibt's zu sagen! ;) Wichtig ist mir aber vor allem dieser Seiltanz zwischen Klischee ("Ich liebe dich") und potenziell kontraproduktivem Konventionsbruch.

    Surround yourself with human beings, my dear James. They are easier to fight for than principles. (Ian Fleming, Casino Royale)

  • Hallo Ines,


    Ja, ich verstehe, was du meinst und bin mit dir einer Meinung, dass es erstrebenswert ist, sich einen großen Wortschatz anzueignen, weil mit ihm die Wahrscheinlichkeit steigt, für alle Eventualitäten gerüstet zu sein.
    Allerdings ist es ja so, dass Texte auch mit einem sehr eingeschränkten Vokabular in der Lage sind, präzise zu sein (darauf will ich die ganze Zeit mit dem Pynchon/Kafka-Vergleich hinaus ;-)). Dh einerseits stimme ich dir im oben genannten Sinn zu; andererseits - und darauf kommt es mir an - scheint die Ausdrucksfähigkeit eines Textes nicht automatisch mit einer absolut gesehen größeren Bandbreite im Lexikon zu steigen. Das ist dann noch einmal etwas anderes als die Unterscheidung zwischen Kargheit und Ausgeschmücktheit, auf die du in deinem letzten Beitrag anspielst. Ich empfinde Pynchons Sprache (ich bleibe jetzt der Einfachheit halber mal bei diesem Beispiel) nicht als überladen im Sinne eines Füllhorns schwülstiger Adjektive, die er über den Text ausgießen würde, das tut er nicht. Er hat aber in deinem Sinne ein größeres sprachliches Reservoir, aus dem er schöpft, als eben Kafka (auf englisch fällt mir gerade niemand ein, vielleicht kann jemand helfen), erreicht dadurch allerdings keine höhere Präzision, wenn ein Computerprogramm vielleicht auch doppelt soviele unterschiedliche Worte auf der gleichen Seitenanzahl finden würde.
    Dh Präzision wird nicht allein im Lexikon hergestellt, sondern auch auf anderen Ebenen; so können Wiederholungen, Wortumstellungen, Assonanzen, bestimmte Verteilungen bei wörtlicher Rede oder dgl. mehr doch ebenso die Präzision eines Textes erhöhen. Das ist wenigstens mein Eindruck.


    Und was ich auch sehr wichtig finde und oben schon angesprochen habe: Die spezifische Eingeschränktheit eines Wortschatzes ist eben die deine und gibt Texten doch auch eine gewisse Unverwechselbarkeit. Und das ist doch auch ein wichtiges Ziel.
    Die Diskussion ist wirklich sehr spannend. :-)
    Ich bin jetzt auch erstmal weg, wenn auch nicht bis Samstag. ;-)

  • [quote]Original von Bartlebooth


    Präzision wird nicht allein im Lexikon hergestellt, sondern auch auf anderen Ebenen; so können Wiederholungen, Wortumstellungen, Assonanzen, bestimmte Verteilungen bei wörtlicher Rede oder dgl. mehr doch ebenso die Präzision eines Textes erhöhen. [quote]


    !!!
    Darum (?) finde ich es auch meistens problematisch, die Wirkung und das "Funktionieren" von Texten an zu kleinen Textsegmenten festzumachen.

    Surround yourself with human beings, my dear James. They are easier to fight for than principles. (Ian Fleming, Casino Royale)