Worum es geht
Im September 2008 machte das Team um den amerikanisch-deutschen Archäologen Nicholas Conard in einer Höhle auf der Schwäbischen Alb einen spektakulären Fund. Die 40 000 Jahre alte kleine "Venus vom Hohle Fels" ist bis heute die älteste bekannte Darstellung einer menschlichen Figur. Um die Sensation perfekt zu machen, wurden in ihrer Nähe auch noch die ältesten Musikinstrumente der Welt ausgegraben.
Die vielen Fragen, die sich im Zusammenhang nach den Menschen ergaben, die diese Kunstwerke angefertigt hatten, führte schließlich zur Entstehung dieses Buches, das die Autoren als archäo-literarischen Versuch bezeichnen. Der Paläolithiker ist befangen, weil er nur über das Auskunft geben kann, was sich mit den Methoden seines Faches belegen lässt. Darüber zu spekulieren, wer diese Menschen waren, oder was sich in ihrem Lebensumfeld zugetragen hatte, bleibt ihm versagt. Das Zusammentreffen mit einem Literaturwissenschaftler, einem berufsmäßigen Interpreten und Fabulierer erwies sich als Glücksfall, kann und darf er doch Theorien in Geschichten verwandeln. Dass sie nicht den Anspruch erheben, eine längst vergangene Wirklichkeit authentisch abzubilden, ist selbstverständlich, sind doch weder Worte noch Gedanken jener eiszeitlichen Menschen in anderer Form als in ihren Hinterlassenschaften überliefert.
Aus dem Wunsch, die Methode der Archäologie und die der Erzählung zu verbinden, erwuchs dieses Projekt, das man auch als "Wissenschaftsfiktion" bezeichnen könnte. Um die Rahmenbedingungen vorzugeben, wurden folgende Spielregeln festgelegt:
• Alles, was definitiv nicht ausgeschlossen werden kann, muss möglich sein.
• Es darf nicht verboten sein, die ferne Wirklichkeit mit heutiger Sprache zu benennen.
• Es muss verboten sein, die ferne Wirklichkeit mit heutiger Psychologie zu beschreiben.
• Keine Möglichkeit darf ausgeschlossen werden, weil sie ungewöhnlich ist.
• Jede Möglichkeit, die ausgeschlossen werden kann, muss verworfen werden.
Meine Meinung
Mit dem Bewusstsein von PC-Nutzern Eiszeitrituale ergründen zu wollen, ist ein an sich fragwürdiges Vorhaben, geben die beiden Autoren bereits im Vorwort zu, doch gilt das nicht generell für alle historischen Romane, habe ich mich gefragt? Mir ist es nicht einmal möglich, mich in die Zeit vor 400 Jahren zurückzuversetzen, also können mich noch viel fernere Zeiten ebenfalls nicht abschrecken, habe ich mir gedacht, und mich gerne auf das ungewöhnliche wissenschaftlich-literarische Experiment eingelassen.
Die ersten Kapitel vermochten zwar noch keine Begeisterung hervorzurufen, doch langsam hat mich diese unvorstellbar ferne und fremde Welt völlig in ihren Bann gezogen. Dabei war es nicht so sehr der Inhalt, das Zusammentreffen der in Europa seit etwa 300 000 Jahren lebenden Neandertaler und der aus Afrika eingewanderten ersten modernen Menschen, der mich gefesselt hat, sondern die meisterhafte Sprache, die schließlich eine unheimliche Sogwirkung auf mich ausübte.
Wie muss es für unsere frühen Vorfahren gewesen sein, monatelang in Kälte und Dunkelheit auszuharren? Wie haben sie den Hunger ertragen und die Angst vor den Wildtieren, von denen ihr Überleben doch grundsätzlich abhing? Wie reagierten sie auf Fremde, wie unterschieden sie zwischen Freund und Feind? Wen akzeptierten, und wen bekämpften sie? Wie nahmen sie eine sich klimatisch verändernde Umwelt wahr, wie erlebten sie Vulkanausbrüche und andere Naturphänomene? Wie muss es gewesen sein, in unbekanntes Territorium vorzudringen, nicht wissend, was der nächste Schritt für ein kleines Grüppchen von oft nur 20 Mitgliedern zu bedeuten hatte?
Die Hauptsorge galt sicherlich der Nahrungsbeschaffung, der Unterkunft und der Bekleidung, doch wurden auch körperlich beeinträchtigte Gruppenmitglieder versorgt, Wunden oft sogar recht erfolgreich behandelt und die Verstorbenen mit Grabbeigaben bestattet, die auf Totenrituale und Jenseitsvorstellungen schließen lassen. Dennoch wurde dem Individuum längst keine so große Bedeutung beigemessen wie heute. Zwar agierten diese frühen Menschen sozial, aber nur dann, wenn ihre Handlungsweise den Fortbestand der Gruppe nicht gefährdete und keine zusätzliche Belastung darstellte. Andernfalls wurden auch Schädel zertrümmert oder Alte und Kranke ihrem Schicksal überlassen. Trotz dieses unerbittlichen Daseinskampfes entwickelten die Menschen der Eiszeit eine erstaunlich vielfältige Kreativität, die sich in Wandmalereien, in der Anfertigung kleiner Kunstgegenstände und sogar Musikinstrumenten zeigte.
Alle diese Themen werden in der fiktiven Erzählung behandelt, die sehr deutlich auch immer wieder auf das magische Denken und oft intuitive Handeln der Gruppenmitglieder verweist. Jürgen Wertheimer hat sich der gestellten Aufgabe meiner Meinung nach sehr einfühlsam genähert, weshalb die Geschichte nie ins Irreale oder nicht mehr Nachvollziehbare abgeglitten ist.
Als einziger Kritikpunkt sei mir der Einwand erlaubt, dass ich den altsteinzeitlichen Menschen weniger vorausschauend und zukunftsorientiert dargestellt hätte. Seine Lebensspanne umfasste gerade einmal 25 - 40 Jahre, und die Bewältigung seiner Aufgaben war wohl mehr auf das Gegenwärtige als auf das Zukünftige ausgerichtet. Vielleicht irre ich mich aber auch, wissen wir doch, dass er abstrakt denken, dass er planen und über das Heute hinausblicken konnte. Wer weiß, zu welchen Gedankenflügen unser früher Verwandter fähig war, wenn er am nächtlichen Lagerfeuer den Blick zum Sternenhimmel erhob.
Besonders gut hat mir gefallen, dass an passender Stelle im literarischen Text immer wieder kurze wissenschaftliche Passagen eingefügt worden sind. In eigens gekennzeichneten Rubriken wird der Leser nicht nur über die genetische Vermischung von Neandertaler und Homo sapiens aufgeklärt, sondern auch über das eiszeitliche Klima, über Flora und Fauna, Wohnraum und Bekleidung, über Geräte, Werkzeuge und Waffen, Schnitzereien und Schmuck, über Musik und Sprache, soziale Strukturen und Kunstwerke der altsteinzeitlichen Jäger- und Sammlergesellschaft informiert.
Beeindruckend verstehen die Autoren den Menschen des Aurignaciens in seiner Umwelt darzustellen, dessen hartes Leben in und mit der Natur wir heute in keiner Weise mehr nachempfinden können. Unser ferner Vorfahre erhält in diesem Buch aber nicht nur einen Namen und ein Gesicht, sondern auch eine Stimme. Jürgen Wertheimer lässt ihn musizieren, lachen, lieben, hassen, leiden, kämpfen und töten, sodass wir durch die Jahrtausende hindurch unser eigenes Abbild wie in einem fernen Spiegel zu erkennen vermögen.
Sehr gut hat er sie meiner Meinung nach erzählt, unser aller Geschichte, die genauso gewesen sein könnte, und wahrscheinlich doch nie so stattgefunden hat.
Für dieses faszinierende Gedankenexperiment, das die literarische mit der wissenschaftlichen Komponente vortrefflich verbindet, gibt es von mir natürlich gerne
ASIN/ISBN: 3813503763 |