Jakob Arjouni: Hausaufgaben

  • Zum Inhalt:


    So hat sich der Deutschlehrer Joachim Linde sein heißersehntes Wochenende wohl nicht vorgestellt: Anstatt eines Ausfluges in die Berge kommt es in der letzten Schulstunde zu einem Eklat, zuhause trifft er auf den Freund seiner aus dem Elternhaus geflohenen Tochter, der ihn mit ungeheuerlichen Vorwürfen konfrontiert, die Mutter einer Schülerin unterstellt ihm unterdes am Telefon Antisemitismus, seine Frau hält sich in einer Nervenheilanstalt auf während sein Sohn die Welt verbessern will. Die Situation eskaliert, Linde steht vor dem Trümmerhaufen seines Lebens. Doch Linde sucht die Schuld immer bei den anderen, nie bei sich selber. Frei nach dem Motto „Ich bin Pädagoge, mir passiert so was nicht“. Laufend versucht er die Wahrheit so zu verdrehen, dass er als Opfer und niemals als Täter dasteht. Er flüchtet sich in eine Welt der Selbsttäuschung und des Selbstmitleides und versucht mit allen Mitteln, die Fassade aufrecht zu erhalten. Seinen Schülern gibt er täglich Hausaufgaben auf, seine eigenen Hausaufgaben hat er vernachlässigt.


    Meine Meinung


    Ein ganz großartiges Buch. Es liest sich sehr leicht und ist in wenigen Stunden ausgelesen. Die Verarbeitung des Stoffes dauert aber länger, als die Lektüre selber (wenn ihr wisst, was ich meine). Es wird ganz wunderbar aufgezeigt, wie Linde die Wahrheit verdreht, wie er sich Ausreden und Ausflüchte zurechtlegt, wie er den anderen und den Umständen die Schuld gibt, wie er auch noch am Schluss glaubt, dass alles wieder gut wird, obwohl er selber bis zum Hals im Schlamassel steckt und dafür auch selber verantwortlich ist.


    Ich habe von Arjouni bereits „Happy birthday Türke“, „Kismet“ und „Idioten“ gelesen, doch „Hausaufgaben“ ist mit Abstand das Beste!!


    Jakob Arjouni


    Jakob Arjouni wurde am 8.10.1964 in Frankfurt am Main geboren und lebt derzeit in Berlin. Berühmt ist er durch seine Kriminalromane geworden, in denen sich der deutsch-türkische Privatdetektiv Kemal Kayankaya durch das Frankfurter Milieu schlägt, und gern das ein oder andere Bierchen trinkt. 1987 wurde sein erstes Buch "Happy Birthday, Türke!" veröffentlicht. Für "Ein Mann, ein Mord" ist er mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden.

  • Ein ganz ungewöhnlicher, vielschichtiger und sehr gelungener Roman: Hier wird die Geschichte eines sexuellen Kindesmissbrauchs aus der Perspektive des Täters erzählt. Der Täter liefert uns jedoch keinen Tatsachenbericht, sondern vermittelt zunächst das Bild eines um seine Familie besorgten Intellektuellen, der an den Schwierigkeiten seines Privatlebens zu scheitern droht, und den man ein wenig bedauert. Aus Andeutungen, Ausflüchten, Halbwahrheiten und unvorsichtig Ausgeplappertem entsteht nach und nach ein Bild, das immer transparenter wird und dem Protagonisten mehr und mehr Sympathien entzieht – bis man ihn am Ende verabscheut.


    Zwischen dem harmlosen Beginn und dem einerseits ärgerlichen, andererseits erleichternden Ende der Geschichte liegt ein turbulentes Wochenende – ein Strudel der Ereignisse, der den Protagonisten in den Abgrund zu ziehen droht. Interessant ist die Ambivalenz, die der Autor beim Leser erzeugt. Man schwankt ständig zwischen dem Vertrauen, das man in die beschönigenden Versionen des Täters legt und dem Empören über die Wahrheiten, die zwischen den Zeilen stehen.


    Ein fesselnder Roman zu einem brisanten Thema, der nicht betroffen machen möchte, sondern vielmehr die ambivalente Sicht von Richtern, Medien und Beobachtern auf Tatverdächtige sexuellen Missbrauchs widerspiegelt – und der Parallelen zieht zu den Judenmördern im Dritten Reich und den heutigen israelischen Besatzern im Westjordanland.


    Fazit:
    Spannend und brillant konstruiert bietet dieser Roman nicht nur Lesevergnügen, sondern auch jede Menge Interpretationsspielraum und Diskussionsstoff.

  • Ich fand das Buch ok, aber ich würde es nicht weiterempfehlen und auch kein zweites Mal lesen. Ich kann meine Meinung noch nicht mal so genau an etwas Bestimmtem, das mir nicht gefallen hat, fest machen. Es war die Geschichte allgemein und irgendwie auch die Sprache, die mich nicht gerade vom Hocker gerissen haben...

  • Ich kann mich den Worten von Waldfee nur anschließen. Wirklich ein beeindruckender Roman, der sehr nachdenklich macht und auch ein eigenartiges Gefühl hinterläßt.


    Dabei fließen sehr gut verschiedene Themen in die Geschichte ein. Neben dem zentralen Thema der zwischenmenschlichen Störungen, kommt dabei vor allem der Nachwirkung des Dritten Reiches auf heute und dem aktuellen Nah Ost Konflikt eine bedeutende Rolle zu.
    Daraus zeiht Arjouni eine gekonnte Parallele: man sollte aufpassen jemanden vorschnell schuldig oder unschuldig zu sprechen.


    Das Herzstück des Romans war für mich die Charakterisierung von Linde. Wie Waldfee sehr schön geschrieben hat, dieser langsame Wandel im Bild des Lesers. Man schwankt anfangs immer wie man ihn einschätzen soll, was wirklich passiert ist und mit der Zeit gewinnt man ein immer klareres Bild. Danach sieht man aber wieder wie manipulativ dieser Mensch ist und alles so dreht und wendet, dass es für ihn positiv erscheint.



    Auch vom Erzählstil hat mir das Buch wirklich gut gefallen.


    Fazit: Ein Buch, welches zu lesen sich wirklich lohnt.


    Edit: Mittlerweile auch als TB erhältlich.


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  • @ taciturus


    Schön, dass dir das Buch auch so gut gefallen hat! Ich habe mir jetzt den neuesten Arjouni ("Chez Max") besorgt und bin schon sehr gespannt. :-)

  • Joachim Linde, äußerlich der „knallharte“ Liberale, der, der für alles und jedes Verständnis hat, der aber trotzdem Schwierigkeiten hat, Polarisationen in seiner Klasse zu verhindern. Daraus erwächst ihm dann weiteres Unbill. Seine Ehe geht schon mehr als den Bach runter, zu seinen Kindern, besonders zu seiner Tochter pflegt er ausgeprägtes „Nicht-Verhältnis“ und auch mit einigen Elternteile seiner Schülerinnen und Schüler gerät er aneinander.
    Im Grunde ist dieser „Dr.-Specht-Verschnitt“ gar kein echter Liberale, viel mehr ist er der Prototyp des Spießbürgers. Trotzdem versucht er immer auszugleichen, zu vermitteln und alles mit pädagogischem Handwerkzeug zu klären, zu lösen und wieder in die Reihe zu bringen.
    Jakob Arjouni hat ein sehr lesenswertes Buch geschrieben. Junge Menschen wollen keine pädagogischen oder andere Plattitüden hören, sie wollen Antworten und wenn es keine Antworten gibt, dann wollen sie wenigstens das Eingeständnis, dass eben diese Antworten nicht möglich sind. Sie wollen nicht diese ewig sich herauswindenden Erwachsenen, deren vermeintliche Argumentationen letztendlich nichts anderes sind als sinnleeres Gebrabbel.
    Arjouni klagt nicht an – er zeigt auf, und dass macht er in meinen Augen wirklich grandios.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Wahnsinn - also so ein Buch habe ich noch nicht gelesen. Obwohl auffallend kurz, geben einem die knapp zweihundert Seiten unheimlich viel Stoff zum nachdenken. Inhaltlich eine wahre Meisterleistung, der Autor spielt durchgehend mit den Perspektiven und dringt dabei immer tiefer in die Psyche des Protagonisten ein, sodass mit jedem Mal deutlicher wird, wie dieser sich durch Tatsachenverdrehung, (Selbst-)betrug und der schamlosen Ausblendung von Fakten an sein öffentliches Ansehen und seine Achtung vor sich selbst klammert. Dabei verstrickt er sich mit seinen Aussagen, versinkt in Selbstmitleid, verheddert sich in Lügen und weist die eigene Schuld dabei so weit von sich, dass sie dem Leser quasi mitten ins Gesicht springt.

  • Tja. Durch das "verklicken" bin ich nun auf diese Rezesion gestoßen und habe wieder ein Buch auf meiner Wunschliste mehr :grin


    Das Thema ist ja nun nicht alltäglich und sicher sehr gedankenanregend. Bin schon sehr gespannt darauf, es zu lesen.

  • Hey , also ich fand das Buch als nicht so der Hammer habe schon bessere von Jakob Arjouni gelesen , naja jedenfalls brauche ich jetz eine charakterisierung vom Herrn Linde könnt ihr mir da vielleicht helfen ? lg

  • Dank eines Buecherpaketes von schnatterinchen hab ich nun auch diesen wunderbaren Roman von Arjouni lesen koennen. Es ist wieder einmal erstaunlich, was dieser Autor in so ein kleines Buch von nicht mal 200 Seiten reinpacken kann. Dabei faengt die Erzaehlung recht harmlos an, wieder einmal in seinem bekannten locker-flockigen Schreibstil. So fluessig liest es sich, dass ich erst recht langsam gemerkt hab, was da eigentlich los ist. So wie Linde sich selber und seine Umwelt versucht zu beluegen, hat er es auch geschafft dem Leser erstmal ein falsches Bild von sich vorzugaukeln.


    Doch auch wenn Linde sich anscheinend immer wieder aus allem rauswiegelt, Arjouni hat mit seinem Erzaehlstil ein Bild fuer den Leser geschaffen, dass sehr deutlich ein Leben zeigt, das sich selber und alle um sich herum zerstoert. Ich kann mich da nur den anderen Stimmen anschliessen und diesen Schachzug als grandios bezeichnen.


    Als ich Arjouni im letzten Jahr hier in Calgary im Rahmen einer Lesung mehrerer Krimiautoren traf, war ich erst ein wenig enttaeuscht wie er durchklingen lies, dass die Zeit seiner Krimis wohl vorbei ist und er sich anderen Themen und Stilen widmen moechte. Doch nach diesem Buch ist diese Enttaeuschung verflogen. Ich freu mich schon auf weitere Titel von ihm. Krimi oder nicht.

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich