Die vierte Gewalt
Ich lese normalerweise keine Sachbücher, keine Biografien oder Memoiren, selbst bei Romanen mit "wahren Hintergründen" halte ich mich zurück. Diese Langformen, die meist auf sehr punktuellen Ereignissen basieren, ermüden und nerven mich schnell, weil homöopathische Höhepunkte auf mehrere hundert Seiten ausgewalzt werden - solche Themen sind journalistisch meistens besser aufbereitet, idealerweise als Features oder Reportagen. Aber während der letzten paar Wochen habe ich gleich zwei Sachbücher konsumiert, die sich auch noch mit der gleichen Thematik befasst haben, nämlich mit dem Journalismus im weitesten Sinn. Das eine war Deniz Yücels "Agentterrorist" über dessen Haftzeit in der Türkei, und das andere Juan Morenos "Tausend Zeilen Lüge" über den Fall Relotius.
Ich bin Spiegel-Leser. Ich bin möglicherweise kein typischer Spiegel-Leser, oder ich wäre das früher nicht gewesen, als der Spiegel noch eindeutiger links zu verorten war, während er in zwischen in der Mitte angekommen ist - und die Parteinahme, wenn überhaupt, von Fall zu Fall erfolgt. Ich lese das Magazin auch nicht immer mit Begeisterung. Meine Hauptmotivation hat etwas mit Solidarität zu tun. Ich bin der festen Überzeugung, dass unsere Gesellschaft auf die sogenannte "vierte Macht" oder "vierte Gewalt" angewiesen ist, auf eine freie, unabhängige, auf hohem Niveau agierende, investigative - aber keineswegs unparteiische - Presse. Werbefinanzierte Nachrichtenportale werden das nicht bieten oder ersetzen können. Echter Journalismus funktioniert nicht auf die Weise, auf die diese Anbieter arbeiten. Wer sich vergegenwärtigt, dass allein die Abteilung, die beim Spiegel für die Faktenüberprüfung zuständig ist, also die vorliegenden Texte auf Recherchefehler untersucht, achtzig Mitarbeiter stark ist, dem wird schnell klar, dass es nicht nur um "Content" gehen kann.
Ich habe mein Spiegel-Abo übrigens kurz nach dem Bekanntwerden des Falls Relotius abgeschlossen.
Im Herbst 2018 werden zwei Spiegel-Reporter auf die Fluchtbewegungen aus Mittel- und Südamerika in Richtung USA angesetzt. Der eine, Juan Moreno, der zum Auftragszeitpunkt ohnehin in Mittelamerika unterwegs ist, soll einen Treck von Flüchtlingen begleiten, die sich aus unterschiedlichen Ursprungsländern zusammengeschart haben, auf dem Weg nach Mexiko, wo sie auf die "Kojoten" treffen werden, die Schlepper, die sie für viele Dollars über die Grenze bringen. Der andere, Claas Relotius, soll das Unmögliche versuchen, nämlich eine der privaten Bürgerwehren zu finden und zu infiltrieren, die auf US-amerikanischer Seite im Grenzland auf Flüchtlinge lauern. Von der einen, sehr bekannten Gruppe abgesehen, die bereits durch alle Medien gereicht wurde und sich inzwischen für Interviews bezahlen lässt, sind diese Leute allerdings sehr pressescheu. Ein mit Moreno befreundeter Fotograf versucht seit Ewigkeiten, solche Kontakte zu bekommen. Relotius gelingt das innerhalb weniger Tage. Er liefert eine spektakuläre Geschichte über fünf bewaffnete Rednecks, zeichnet ein nachvollziehbares Psychogramm dieser selbsternannten Grenzwächter, ist sogar Augenzeuge bei handfesten Straftaten. Moreno, der den Zug der Fliehenden einige Tage begleitet und viele Gespräche führt, kann zwar auch eine authentisch klingende, bewegende Story beisteuern, aber im Vergleich zu Relotius' Anteil der Reportage bestenfalls dramaturgisches Unterfutter. Es gibt noch einen weiteren bedeutsamen Unterschied zwischen den beiden Teilen, die schließlich unter dem Titel "Jaegers Grenze" im Spiegel veröffentlicht werden: Während Moreno all das, was er aufgeschrieben hat, auch wirklich erlebt hat, ist Relotius' Geschichte frei erfunden.
Zu diesem Zeitpunkt ist Juan Moreno beim Spiegel ein sogenannter "fester Freier". Er bekommt eine monatliche Pauschale gezahlt, also quasi ein Grundgehalt, kann aber jederzeit und ohne Angabe von Gründen gefeuert werden. Der deutlich jüngere Claas Relotius jedoch, der während seiner kurzen Karriere schon eine Menge Journalistenpreise für seine Reportagen abgeräumt hat, ist fest angestellter Spiegel-Mitarbeiter und wird als kommender Chef des Ressorts "Gesellschaft" gehandelt, für das nur die besten Reporter schreiben. Als Juan Moreno die ersten Unstimmigkeiten in der Geschichte auffallen, die Relotius liefert, und skeptisch zu werden beginnt, glaubt ihm deshalb keiner. Und Relotius, direkt auf vermeintliche Fehler angesprochen, liefert scheinbar glaubwürdige, ausufernde Erläuterungen. Das "System Relotius" zeigt sich und seine Stärke.
Der Rest ist sozusagen Geschichte. Claas Relotius wird schließlich als notorischer Fälscher und Hochstapler enttarnt, Karrieren enden jäh, der deutsche Journalismus, von den Softnazis ohnehin als "Lügenpresse" diffamiert, nimmt erheblichen Schaden. Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", das sich quasi seit Gründung dafür rühmt, etwas eher nicht zu melden als das Risiko einzugehen, eine Falschmeldung zu verbreiten, das eine vielköpfige Schar von "Dokumentatoren" beschäftigt, die nichts weiter tun, als die Arbeit der ohnehin besten und reputiertesten Journalisten der Republik auf Fehler zu untersuchen, hat an der eigenen Brust einen Parasiten genährt, der schon seit Jahren komplett oder überwiegend ausgedachte Beiträge - ausschließlich Auslandsreportagen, nicht nur für den Spiegel - abgeliefert hat, für die es Journalistenpreise hagelte. Mehr noch. Dieser Mann sollte in der Hauptverantwortung eines der wichtigsten Ressorts des Magazins übernehmen.
Juan Moreno hat die Geschichte, die zu einem Großteil eine Geschichte über seinen eigenen Kampf ist, in packender, aber auch in selbstkritischer und sehr achtsamer, offener und fundierter Form aufgeschrieben. Der Mann, der Relotius überführte, der seine eigene Karriere und letztlich seine Existenz aufs Spiel gesetzt hat, schildert in einem überwiegend äußerst spannenden Buch diesen unvergleichlichen Fall. Moreno skizziert seine eigene - beeindruckende - Vorgehensweise, zeigt aber auch auf, wie es dazu kommen konnte, dass ein Mann wie Relotius ein Bollwerk des Journalismus' wie den Spiegel für sich einnehmen und dessen Hauptverantwortliche jahrelang hinters Licht führen konnte. Das Magazin, für das Moreno nach wie vor tätig ist, kommt nicht eben gut weg in diesem Text. Moreno schont niemanden.
Genau wie "Agentterrorist" ist "Tausend Zeilen Lüge" vor allem ein Buch, das energisch und, wie ich finde, sehr erfolgreich für den Journalismus wirbt, und das aufzeigt, wie akribisch, unermüdlich, aufopfernd und oft ergebnislos richtig gute, engagierte Journalisten arbeiten. Die beiden Bücher weisen auf das hin, was verlorenginge, gäbe es diese Art der Berichterstattung und Information nicht mehr. Die vierte Gewalt ist unverzichtbar. Nein, sie ist nicht unfehlbar, sie ist nicht frei von Betrug, von Eitelkeit und Korrumpierbarkeit, denn auch sie besteht aus Menschen - aber in der überwältigenden Mehrheit aus solchen, die einen Job großartig machen, der die Demokratie sichert, der für unsere Kritikfähigkeit unabdingbar ist und die Gesellschaft aktiv unterstützt. Leute wie Moreno oder Yücel oder viele tausend andere.
ASIN/ISBN: 3737100861 |