Christina Grätz, Manuela Kupfer: Die fabelhafte Welt der Ameisen. Eine Ameisenumsiedlerin erzählt, Gütersloh 2019, Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-08728-3, Hardcover mit Schutzumschlag,285 Seiten mit Abbildungen in Farbe und Schwarzweiß, Format: 14,7 x 3,2 x 22,5 cm, Buch: EUR 20,–, Kindle: EUR 14,99.
„Wenn ich mir vorstelle, wie Hundertausende Tiere aus den elf Nestern flüchten, Puppen und Innendienstler retten und Zuflucht in einem großen gemeinsamen Nest suchen, dann ist mir warm ums Herz. (...) So sieht echte Frauenpower aus.“ (Seite 126)
Dass man vor der Realisierung eines Bauvorhabens schon mal Hamster, Echsen oder Käfer umsiedeln muss, hört und liest man ja öfter. Dass auch bestimmte Ameisenarten zu den geschützten Tieren gehören, denen man eine neue Bleibe besorgt, wenn der Mensch sich ihren bisherigen Lebensraum aneignet, war mir neu. Ich hatte mir auch nie Gedanken darüber gemacht, wer solche Umsiedlungen überhaupt vornimmt, was das für eine Knochenarbeit ist und wie man zu so einen Job kommt.
Die Diplom-Biologin Christina Grätz erzählt uns in ihrem Buch mit einer solchen Begeisterung von dieser Tätigkeit, und Manuela Kupfer, gleichfalls Diplom-Biologin, bringt uns das Alltagsleben und die faszinierenden Fähigkeiten der kleinen Krabblerinnen so nahe, dass man quasi aus dem Stand zum Ameisen-Fan wird.
Wie man Ameisenumsiedlerin wird
Niemand hat Christina Grätz an der Wiege gesungen, dass sie mal (unter anderem)mit dem Umsiedeln von Ameisen ihre Brötchen verdienen würde. Ihr Fachgebiet als Biologin ist die Botanik. Sie hat in einem Ingenieurbüro gearbeitet und dort die Bauvorhaben naturwissenschaftlich begleitet. Als auf einem Baugrundstück plötzlich 20 Ameisennester umgesiedelt werden müssen, ist guter Rat teuer. Wer ist dafür zuständig?
Die Mitarbeiter des Büros fragen sich bis zum Ameisenheger Bernhard Helbig durch. Er erklärt sich bereit, doch weil er das umfangreiche Projekt nicht alleine stemmen kann, muss jemand aus dem Ingenieurbüro die Ameisenheger-Ausbildung absolvieren und ihm helfen. Natürlich richten sich aller Augen auf die Autorin: „Christina, für diese Aufgabe bist du als Biologin doch die Richtige.“ Wir kennen das: Wenn einem da nicht blitzartig eine glaubwürdige Ausrede einfällt, hat man den Job an der Backe.
Die Biologin hat Mitgefühl mit den Ameisen, die jetzt ihre Heimat verlieren sollen. Irgendwie sind sie ja Schicksalsgenossinnen, die Autorin und die Ameisen. Auch Christina wurde schon zwangsumgesiedelt, damals, als ihr Heimatdorf dem Braunkohleabbau weichen musste.
Abtragen, eintüten, anderswo aufbauen
Und wie rettet man nun Ameisen? Indem man die Nester ausfindig macht, sie vorsichtig abträgt, die Nestinhalte in große Papiersäcke füllt, diese penibel beschriftet, zum Auto trägt und am Zielort alles wieder so aufbaut, wie man es ursprünglich vorgefunden hat. Da kommt oft schweres Gerät zum Einsatz und man bewegt eine enorme Menge an Material. Auf den Fotos im Buch sieht man die Ameisenretter bis zur Hüfte in einer ausgehobenen Grube stehen. Also alles kein Spaß!
Bei diesen Rettungsaktionen gibt es so manche Überraschung: Nester, die so spät entdeckt werden, dass eine Notfallrettung bei denkbar ungünstiger Witterung vorgenommen werden muss oder Nester, die deutlich größer sind als es zunächst den Anschein hatte. Wie bei Eisbergen liegt auch bei Ameisennestern der größte Teil unter der Oberfläche. Und plötzlich hat man einen enormen Arbeitsaufwand, mit dem kein Mensch gerechnet hat und möglicherweise viel zu wenig Personal.
Dass Baumstümpfe in Ameisennester eingearbeitet werden, ist normal. Aber was hat es zu bedeuten, wenn man im Fundament eines Nestes Bierflaschen findet? Eine Ameisenparty?
Die Tiere stecken voller Überraschungen
Nicht immer gelingen die Umsiedlungen so, wie Christina und ihre Kolleg*innen sich das vorstellen. Mal gefällt den Tieren der neue Standort nicht und sie ziehen wieder um, mal kommt das Rettungsteam zu spät. Sehr berührend ist die Geschichte von den 11 Nestern, die einer Überschwemmung zum Opfer fallen. Nur das zwölfte Nest liegt an einem etwas höheren Standort und bleibt verschont. Also soll wenigstens dieses umgesiedelt werden. Als die Ameisenretter dort zu graben beginnen, trauen sie ihren Augen nicht …
Es ist schon irre, wozu diese kleinen Tierchen fähig sind!
Die optisch abgesetzte Info-Texte, die sich mit den lebhaften Schilderungen der Ameisenretterin abwechseln, sind sehr wissenschaftlich und man ertappt sich dabei, sich das Fachvokabular einbläuen zu wollen, als würde man demnächst abgefragt, aber dennoch ist das alles außerordentlich interessant. Ich vermute, dass diese Sachtexte von der zweiten Autorin, Manuela Kupfer, stammen.
Bauern, Räuber und Vampire
Dass Ameisen, genau wie Bienen und Wespen, mit denen sie verwandt sind, reine Frauenvölker sind, die nur für den jährlichen Hochzeitsflug ihrer Königinnen Männchen produzieren, ist nichts Neues. Aber egal, was die Tierchen so machen, es klingt außergewöhnlich und spannend –
von der Kommunikation durch Duftstoffe über die Nahrungsbeschaffung, Brutpflege und Arbeitsteilung bis hin zum Nestbau. Es gibt Ameisen, die Pilze oder Läuse züchten, und uneben diesen Landwirtinnen gibt’s auch noch räuberische und Sklaven haltende Arten, Selbstmordattentäterinnen und Sanitäterinnen, die verletzte Artgenossinnen wieder zusammenflicken. Sogar Dracula-Ameisen gibt es, aber vor denen braucht man sich als Mensch nicht zu fürchten.
Bei Überschwemmungen können Ameisen Rettungsflöße bilden, indem sie sich aneinanderklammern. Sie können das Zehnfache ihres eigenen Körpergewichts tragen und durch das Ausscheiden von Duftstoffen Artgenossinnen zu Hilfe Hufen, wenn sie in Gefahr sind. Die kommen dann auch prompt …
Olympiaverdächtige Rekorde
Ameisen gibt es seit rund 150 Millionen Jahren, und alle zusammen bringen ungefähr die gleiche Biomasse auf die Waage wie wir Menschen. Klein sind sie, aber zahlreich sind sie auch. Es gibt so viel Spannendes über Ameisen zu erzählen! Da ist es kein Wunder, dass es in dem Buch Kapitelüberschriften gibt wie „Olympiaverdächtig“ und „Partywissen“. Und dass Menschen sich bis zur Erschöpfung dafür engagieren, die Tiere zu retten, kann man nun nachvollziehen.
Wenn nach Lektüre dieses Buches jemand (ehrenamtlich?) Ameisen umsiedeln möchte – personelle Unterstützung ist in diesem Bereich immer willkommen. Die Landesverbände der Ameisenschutzwarte bilden Ameisenheger*innen aus: http://www.ameisenschutzwarte.de
Die Autorinnen
Christina Grätz, geboren 1974, ist Diplom-Biologin und dreifache Mutter. Sie lebt in einem kleinen Dorf in der Niederlausitz, ist Unternehmerin und hat bereits über 1.300 Ameisennester in ihrer Laufbahn als Ameisenhegerin umgesiedelt, eines davon sogar auf ihren Hof. Ihre Tätigkeit als Ameisenumsiedlerin erregte im Jahr 2017 besondere mediale Aufmerksamkeit. Beiträge über die Umsiedlung von fast 200 Nestern am Berliner Ring waren deutschlandweit in den Printmedien und im Radio, aber auch in großen Fernsehsendern (ARD-Morgenmagazin, ZDF-Mittagsmagazin, ProSieben Galileo, RTL Aktuell) vertreten.
Manuela Kupfer, geboren 1968, ist Diplom-Biologin. Sie studierte an den Universitäten Würzburg und Marburg und arbeitet seit 20 Jahren freiberuflich als Lektorin und Fachredakteurin im Bereich Naturwissenschaften und Gesundheit. Ihr Interesse an sozialen Insekten hat sprunghaft zugenommen, seit sie selber Honigbienen hält. Und nachdem sie mehrere Ameisenumsiedlungen begleiten konnte, haben es ihr die emsigen Krabbeltiere ebenfalls angetan.
ASIN/ISBN: 3579087282 |