Der 21. Dezember von Sinela
Himmlische Hilfe
Frustriert schaute der Engel der Frau zu, die mit müden Schritten durch den Park lief. Sie warf keinen Blick nach rechts oder links, stur schaute sie auf den Weg vor ihren Füßen. Mimmiel seufzte. Er war mit seinem Latein am Ende. Es half alles nichts, er musste zurück und sein Versagen beichten.
„Ich verstehe das nicht. Juliane Forster war doch auf einem guten Weg, seit du sie unter deine Fittiche, äh, entschuldige, ich meine natürlich unter deine Flügel genommen hast.“
Mimmiel druckste herum, er wand sich hin und her, aber nach einem strengen Blick von seinem vorgesetzten Engel sagte er mit leiser Stimme:
„Es ist … wie soll ich das nur ...ein Pfarrer ist schuld an der ganzen Misere.“
„Ein Pfarrer!“, schrie Gabriel. „Das hast du doch erfunden, um von deinem Versagen abzulenken! Pfarrer sind für die Menschen da, sie tun ihnen Gutes!“
„Dieser Mann nicht“, flüsterte Mimmiel, um dann lauter fortzufahren: „Schau dir doch die ganze Geschichte auf deinem allwissenden Monitor an, wenn du mir nicht glaubst“.
Gabriel schnaubte, ging dann aber doch zu seinem Schreibtisch und betätigte eine Taste an dem dort stehenden riesengroßen Bildschirm.
„Juliane Forster, ab Mai 2019.“
Einige Bilder flimmerten über die Mattscheibe, dann wurde das Bild schärfer und der Film begann.
Die nicht mehr ganz so junge Frau war froh, als sich die Tür hinter den Möbelpackern schloß. Endlich allein. Sie schaute sich in ihrer neuen Wohnung um. Und seufzte, als sie die vielen Umzugkartons sah, die noch auszupacken waren. Wenigstens standen ihre Möbel alle an Ort und Stelle und es war nichts zu Bruch gegangen. Hoffentlich galt das auch für das Geschirr und die Porzellanfiguren, die sie sammelte. Sie hatte alles zwar gut eingepackt, aber man wusste ja nie. Bevor Frau Forster sich an das Auspacken machte, warf sie noch einen Blick aus dem Wohnzimmerfenster. Die Aussicht war einfach grandios, weshalb sie sich auch für diese Wohnung entschieden hatte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie und in einem Hochhaus wohnen, das hätte sie sich auch nie träumen lassen, aber manchmal kommt es eben anders als man in jungen Jahren gedacht hatte. Und mit diesem Gedanken betrat auch Manfred wieder ihre Welt und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Warum nur musste er so früh sterben? Er war doch ein Bild von einem Mann, wie konnte ein mikroskopisch kleiner Virus ihn zu Fall bringen? Frau Forster schluchzte laut auf, nun rannen ihr die Tränen wie Sturzbäche über die Wangen. Sie lief zu ihrem Bett, ließ sich darauf fallen und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Die Trauer hatte sie wieder fest im Griff.
Die Sonne lachte von einem wolkenlosen Himmel. Es war angenehm warm, nicht heiß wie sonst im Hochsommer bei einer Hochdruckwetterlage, was daran lag, dass das Hoch, dass die Sonne brachte, über England lag und der Wind aus Norden wehte. Trotzdem waren die Freibäder voll, in den Gärten wurde gegrillt, die Kinder spielten auf der Straße, tobten über die Spielplätze, Senioren gingen an ihren Rollatoren durch den Park und erfreuten sich an der Blumenpracht. Frau Forster sah nichts von alledem, der Schmerz über den Verlust ihres Mannes war in den zwei Monaten, in denen sie an diesem Ort wohnte, übermächtig geworden. Sie hatte gedacht, der Umzug würde ihr helfen, besser mit der Trauer fertig zu werden, aber leider war das nicht der Fall gewesen, im Gegenteil. Hier kannte sie niemanden, sie war allein, hatte viel zu viel Zeit zum Nachdenken, zum in der Vergangenheit zu verweilen. Meistens hatte sie nicht mal mehr die Kraft um morgens aufzustehen. Warum auch, es gab ja niemanden, der auf sie wartete. Manfred fehlte ihr so sehr, am liebsten würde sie zu ihm gehen, ihrem Leben ein Ende setzen. Aber noch war ein Funken Lebenswille in ihr, der diesen Schritt bis jetzt verhindert hatte.
„Und das war der Zeitpunkt, an dem du mich auf die Erde geschickt hast, um Frau Forster wieder auf den richtigen Weg zu bringen“, wagte Mimmiel zu Gabriel zu sagen, welcher nur unwillig brummte.
Der Wind blies kräftig und rüttelte an den wenigen bunten Blättern, die bereits an einigen Bäumen hingen. Aber noch hielten sie sich fest, wollten nicht loslassen. Auch der älteren Frau, die zügig ihres Weges ging, blies der Wind ins Gesicht. Sie zog ihren Schal höher, denn es war in den letzten Tagen immer kälter geworden, der Sommer war jetzt wohl wirklich endgültig Geschichte. Frau Forster war das genaue Gegenteil der Natur; begab diese sich jetzt langsam in Richtung Winterschlaf, begann sie gerade erst aufzublühen. Wenn sie an die letzten Monate dachte, konnte sie es kaum glauben, irgendwie war alles total unwirklich. Sie hatte mit dem Leben abgeschlossen gehabt, aber dann zog eine junge Frau in die Nachbarwohnung, die sie am Anfang ziemlich genervt hatte. Frau Forster lächelte, als sie daran dachte. Wie oft hatte Sabine bei ihr geklingelt, um sich dies und jenes auszuleihen, oder weil sie Fragen zur Waschküche hatte. Aber sie waren sich irgendwann näher gekommen und Frau Forster hatte Sabine ihr Herz ausgeschüttet. Und die junge Frau war nicht nur eine gute Zuhörerin, sondern auch eine patente, zupackende Frau. Sie hatte sie langsam, aber sicher aus ihrem Jammertal geholt. Leicht war es nicht gewesen, aber dank Sabines Unterstützung hatte sie es geschafft. Sie hatte ihr natürlich schon längst das „Du“ angeboten und sie waren inzwischen gute Freundinnen geworden. Mit Sabine an ihrer Seite hatte sie sich dann auch wieder nach draußen getraut, hatte einige ihrer Nachbarn kennengelernt, war auf dem Chris de Burgh-Konzert in der Stadt gewesen und einiges mehr. Das Beste an allem war aber, dass sie jetzt im Kirchenchor sang. Sie, die immer dachte, sie könne nicht singen. Aber da hatte sie wohl ein falsches Selbstbild von sich gehabt. Wie das bei vielen Menschen leider so ist. Frau Forster sah auf ihre Uhr. Vor lauter nachdenken hatten sich ihre Schritte verlangsamt, nun musste sie sich aber beeilen um pünktlich zur Probe zu kommen.
„Ach ja“, seufzte Mimmiel, „alles war im grünen Bereich, aber dann ...“
„Ruhe, ich möchte wissen wie es weitergeht.“
Gabriel schaute den an seiner Seite stehenden Engel an.
„Und ich möchte wissen, ob sich deine Aussage bewahrheitet.“
Inzwischen hatte der Herbst die Regentschaft übernommen und die Blätter an den Bäumen leuchteten alle in kräftigen Farben. Der erste Frost hatte die Wespenvölker stark dezimiert, auch etliche Blumen waren erfroren. Doch an diese Dinge verschwendeten die Sängerinnen und Sänger des ökumenischen Davidschors im Moment keinen Gedanken, denn ihre Chorleiterin hatte ihnen gerade eben mitgeteilt, dass sie zum Ende des Jahres gekündigt hatte. Sieben Jahre war Frau Schuster bei ihnen und sie waren sehr zufrieden mit ihr. Was hatte die junge Frau nicht alles an Auftritten in die Wege geleitet, sogar die Zauberflöte hatten sie zusammen mit einem Kinderchor aufgeführt. Und natürlich war ihnen Elisabeth Schuster ans Herz gewachsen, sie wollten sie nicht gehen lassen! Es musste doch irgendeinen Weg geben um das zu verhindern!
„Können nicht wir Elisabeth anstellen? Wenn jeder von uns 10 € im Monat bezahlt, können wir uns ihr Gehalt doch leisten.“
„Marianne, so einfach wie du dir das vorstellst, ist das nicht. Wir müssten einen Vertrag aufsetzen, der arbeitsrechtlich in Ordnung ist und …“
„Ja, aber, da könnte man doch im Internet nach Musterverträgen schauen!“
„Schon, aber wir müssten uns auch erkundigen, wie das ist, wenn es zu einem Prozess kommen sollte.“
„Ach was für ein Quatsch“, warf Sonja ein, „Elisabeth wird uns doch nicht verklagen.“
Nun setzte heftiges Stimmengewirr ein, jeder der anwesenden Chormitglieder hatte etwas zu sagen, nur eines nicht. Juliane Forster saß ruhig auf ihrem Platz, konnte das Ganze einfach nicht begreifen. Elisabeths Weggang war ein großer Verlust für den Chor. Schon sagten einige Mitglieder, dass sie weggehen würden. Der Chor würde auseinander brechen. Dabei hatte ihr das Singen so viel Freude gemacht. Und auch nette Bekanntschaften waren innerhalb des Chors entstanden, ob diese weiter bestehen würden, stand in den Sternen. Ihr kamen die Tränen, das war bestimmt die Strafe dafür, weil sie wieder glücklich war.
Leise rieselte der Schnee vom Himmel und bedeckte die Erde. Die weiße Pracht wuchs unaufhörlich in die Höhe, langsam, aber stetig. Die Menschen hofften wie jedes Jahr auf weiße Weihnachten, aber bis dahin dauerte es noch ein wenig. Im Ort lief zurzeit der „Lebendige Adventskalender“, heute war die Fensteröffnung bei einem der Chormitglieder, weshalb der Chor dort ein paar Lieder singen würde. Während die anwesenden Mitglieder auf ihren Einsatz warteten, wurde die Kündigung von Elisabeth immer noch kräftig diskutiert.
„Diesen Pfarrer könnte ich gerade ...“
„Sebastian, versündige dich nicht!“
„Ach ist doch wahr, Menschenskinder! Nur, weil er ein Problem mit Elisabeth hat, müssen wir darunter leiden! Der Kerl verträgt es einfach nicht, wenn er Gegenwind bekommt, sich jemand seine Machenschaften nicht gefallen lässt!“
„Ich gebe dir ja recht, aber was sollen wir machen, er sitzt nun mal am längeren Hebel.“
„Es muss doch ..“
„Achtung, es geht los!“
Nachdem Marion die anwesenden Gäste begrüßt hatte, fing der Chor zu singen an. Die Lieder stiegen empor, durchbrachen die Wolken, erfüllten die Herzen von allen, die sie hörten. Doch schon nach vier Liedern war Schluss, nun begann der gemütliche Teil des „Lebendigen Adventskalenders“. Man stand zusammen, aß Plätzchen und Lebkuchen, trank Glühwein oder Punsch und unterhielt sich. Bei den Chormitgliedern gab es verständlicherweise immer noch nur das eine Thema. Es wurde hin und her überlegt, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Juliane Forster beteiligte sich nicht daran, sie war gleich nach dem Singen gegangen. Jetzt saß sie im Park, bemerkte weder die Kälte noch den Schnee, der auf sie fiel. Sie war total niedergeschlagen, alles brach auseinander. Die Freude war wieder aus ihrem Herzen verschwunden.
Nachdenklich wandte sich Gabriel vom Bildschirm ab. Konnte es wirklich sein, dass dieser
Pfarrer … Entschlossen wandte er sich wieder dem Monitor zu:
„Pfarrer Dinkeldorf, November 2019.“
Ein Büro, in dem sich zwei Männer gegenüber standen, erschien auf dem Bildschirm.
„Bitte Herr Dinkeldorf, auch wenn Sie Probleme mit Frau Schuster haben, stellen sie diese für den Dienst an der Sache zurück! Der Davidschor braucht sie als Chorleiterin! Sie hat schon so viel erreicht, ist mit Herzblut dabei, wer weiß, ob wir wieder so einen Leiter finden werden, wenn sie geht. Und ob wir überhaupt einen neuen Chorleiter finden!“
Missmutig schaute der katholische Pfarrer sein Gegenüber an. Diese evangelischen Geistlichen waren einfach zu weichherzig. Gaben immer nach, anstatt Härte zu zeigen. So wie er das tat. Er hatte hier das Sagen und wer sich mit ihm anlegte, den warf er hinaus, so einfach war das!
„Kommt nicht in Frage, werter Kollege. Frau Schuster muss gehen!“
„Dieser Chor besteht seit fast 50 Jahren und Sie werden ihn zerstören!“
Pfarrer Dinkeldorf lächelte, denn genau das war es, was er wollte. Es gab in Roth bereits einen Kirchenchor, da brauchte man im Nachbarort nicht noch einen.
„Es ist alles gesagt. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe zu tun.“
Resigniert verließ der evangelische Pfarrer das Büro, er hatte wirklich alles versucht, aber mit diesem Mann konnte niemand reden. Jetzt konnte nur noch Gott helfen.
Fassungslos starrte Gabriel auf den vor ihm stehenden Monitor.
„Glaubst du mir jetzt?“, fragte Mimmiel.
Dessen Vorgesetzter wandte langsam den Kopf.
„Wie um alles in der Welt konnte dieser Mann Pfarrer werden? Was denkt der sich eigentlich?“
Mimmiel trat ein paar Schritte zurück, denn er spürte den aufkommenden Zorn und wenn Gabriel wütend wurde, war es besser, man hielt ausreichenden Abstand zu ihm.
„Nein, so geht das nicht! Kirchenchöre singen zur Ehre Gottes und ein jeder, der sich dafür engagiert, steht unter Seinem besonderen Schutz! Ich werde gleich mal mit dem Chef reden, da muss etwas geschehen!“
Gabriel drehte sich um, durchquerte mit großen Schritten den Raum.
„Du bleibst hier“, rief er Mimmiel im Vorbeigehen zu, „ich brauche dich nachher bestimmt noch!“
„Weiße Weihnachten, das hatten wir auch schon lange nicht mehr“, sagte Juliane, die mit ihrer Freundin Sabine am Fenster stand und auf die Dächer der umliegenden Häuser schaute.
„Wenn ich mich richtig erinnere, ist das letzte schon 10 Jahre her. Es ist wie ein Wunder in der Zeit der Klimaerwärmung. „
„Und es ist nicht das einzige Weihnachtswunder! Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Pfarrer Dinkeldorf so plötzlich versetzt worden ist. Und das auf ein kleines Eiland im Indischen Ozean.“
„Vielleicht sucht er ja den Geist der Weihnacht auf der gleichnamigen Insel.“
Die beiden Frauen lachten laut. Sabine war froh, dass sich alles doch noch zum Guten gewandt hatte, denn sie hatte schon befürchtet, dass Juliane wieder den Lebensmut verlieren würde, wo ihr das Singen doch so viel Spaß machte. Gut, sie hätte zu einem anderen Chor gehen können, aber das hätte sie sich nicht getraut, denn auch wenn sie es nicht zugab, Sabine wusste, dass ihre Freundin immer noch dachte, sie könne nicht gut singen. Dabei hatte sie eine schöne Stimme, aber irgendjemand in der Vergangenheit hatte ihr das Gegenteil eingeredet.
„An was denkst du?“, fragte Juliane.
„Ich freue mich so für dich, dass Frau Schuster den Chor wieder leitet und einen längerfristigen Vertrag bekommen hat. Das gibt dir und den anderen Chormitgliedern Sicherheit und ihr könnt frohen Mutes ins Neue Jahr gehen.“
„Ja, das ist wahr. Ich bin so glücklich über diese Entwicklung, das glaubst du gar nicht. Und jetzt komm, das Weihnachtsessen wartet.“
Gabriel schaltete den Bildschirm aus und wandte sich Mimmiel zu.
„So wie es aussieht, braucht Frau Forster dich nicht mehr, deshalb bekommst du einen neuen Auftrag. Hol dir die entsprechenden Unterlagen im Himmelsbüro ab.“
Mimmiel war schon fast an der Tür, als ihn die Stimme Gabriels einholte.
„Ach ja, was ich noch sagen wollte – gute Arbeit, mach weiter so!“
Mimmiel konnte nicht anders, er riss sich den Heiligenschein vom Kopf, warf ihn in die Luft und rief „Hurra“. Leider passte der Engel nicht auf und sein Kopfschmuck fiel auf den Boden. Ein kurzer Blick zu Gabriel, dann hob Mimmiel ihn schnell auf und rannte zur Tür hinaus. Gabriel sah ihm hinterher, schüttelte den Kopf und wandte sich dann mit einem Schmunzeln wieder seinem Schreibtisch zu.