Der Büchereulen-Adventskalender 2019

  • Der 21. Dezember von Sinela



    Himmlische Hilfe


    Frustriert schaute der Engel der Frau zu, die mit müden Schritten durch den Park lief. Sie warf keinen Blick nach rechts oder links, stur schaute sie auf den Weg vor ihren Füßen. Mimmiel seufzte. Er war mit seinem Latein am Ende. Es half alles nichts, er musste zurück und sein Versagen beichten.


    „Ich verstehe das nicht. Juliane Forster war doch auf einem guten Weg, seit du sie unter deine Fittiche, äh, entschuldige, ich meine natürlich unter deine Flügel genommen hast.“

    Mimmiel druckste herum, er wand sich hin und her, aber nach einem strengen Blick von seinem vorgesetzten Engel sagte er mit leiser Stimme:

    „Es ist … wie soll ich das nur ...ein Pfarrer ist schuld an der ganzen Misere.“

    „Ein Pfarrer!“, schrie Gabriel. „Das hast du doch erfunden, um von deinem Versagen abzulenken! Pfarrer sind für die Menschen da, sie tun ihnen Gutes!“

    „Dieser Mann nicht“, flüsterte Mimmiel, um dann lauter fortzufahren: „Schau dir doch die ganze Geschichte auf deinem allwissenden Monitor an, wenn du mir nicht glaubst“.

    Gabriel schnaubte, ging dann aber doch zu seinem Schreibtisch und betätigte eine Taste an dem dort stehenden riesengroßen Bildschirm.

    „Juliane Forster, ab Mai 2019.“

    Einige Bilder flimmerten über die Mattscheibe, dann wurde das Bild schärfer und der Film begann.


    Die nicht mehr ganz so junge Frau war froh, als sich die Tür hinter den Möbelpackern schloß. Endlich allein. Sie schaute sich in ihrer neuen Wohnung um. Und seufzte, als sie die vielen Umzugkartons sah, die noch auszupacken waren. Wenigstens standen ihre Möbel alle an Ort und Stelle und es war nichts zu Bruch gegangen. Hoffentlich galt das auch für das Geschirr und die Porzellanfiguren, die sie sammelte. Sie hatte alles zwar gut eingepackt, aber man wusste ja nie. Bevor Frau Forster sich an das Auspacken machte, warf sie noch einen Blick aus dem Wohnzimmerfenster. Die Aussicht war einfach grandios, weshalb sie sich auch für diese Wohnung entschieden hatte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie und in einem Hochhaus wohnen, das hätte sie sich auch nie träumen lassen, aber manchmal kommt es eben anders als man in jungen Jahren gedacht hatte. Und mit diesem Gedanken betrat auch Manfred wieder ihre Welt und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Warum nur musste er so früh sterben? Er war doch ein Bild von einem Mann, wie konnte ein mikroskopisch kleiner Virus ihn zu Fall bringen? Frau Forster schluchzte laut auf, nun rannen ihr die Tränen wie Sturzbäche über die Wangen. Sie lief zu ihrem Bett, ließ sich darauf fallen und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Die Trauer hatte sie wieder fest im Griff.


    Die Sonne lachte von einem wolkenlosen Himmel. Es war angenehm warm, nicht heiß wie sonst im Hochsommer bei einer Hochdruckwetterlage, was daran lag, dass das Hoch, dass die Sonne brachte, über England lag und der Wind aus Norden wehte. Trotzdem waren die Freibäder voll, in den Gärten wurde gegrillt, die Kinder spielten auf der Straße, tobten über die Spielplätze, Senioren gingen an ihren Rollatoren durch den Park und erfreuten sich an der Blumenpracht. Frau Forster sah nichts von alledem, der Schmerz über den Verlust ihres Mannes war in den zwei Monaten, in denen sie an diesem Ort wohnte, übermächtig geworden. Sie hatte gedacht, der Umzug würde ihr helfen, besser mit der Trauer fertig zu werden, aber leider war das nicht der Fall gewesen, im Gegenteil. Hier kannte sie niemanden, sie war allein, hatte viel zu viel Zeit zum Nachdenken, zum in der Vergangenheit zu verweilen. Meistens hatte sie nicht mal mehr die Kraft um morgens aufzustehen. Warum auch, es gab ja niemanden, der auf sie wartete. Manfred fehlte ihr so sehr, am liebsten würde sie zu ihm gehen, ihrem Leben ein Ende setzen. Aber noch war ein Funken Lebenswille in ihr, der diesen Schritt bis jetzt verhindert hatte.


    „Und das war der Zeitpunkt, an dem du mich auf die Erde geschickt hast, um Frau Forster wieder auf den richtigen Weg zu bringen“, wagte Mimmiel zu Gabriel zu sagen, welcher nur unwillig brummte.


    Der Wind blies kräftig und rüttelte an den wenigen bunten Blättern, die bereits an einigen Bäumen hingen. Aber noch hielten sie sich fest, wollten nicht loslassen. Auch der älteren Frau, die zügig ihres Weges ging, blies der Wind ins Gesicht. Sie zog ihren Schal höher, denn es war in den letzten Tagen immer kälter geworden, der Sommer war jetzt wohl wirklich endgültig Geschichte. Frau Forster war das genaue Gegenteil der Natur; begab diese sich jetzt langsam in Richtung Winterschlaf, begann sie gerade erst aufzublühen. Wenn sie an die letzten Monate dachte, konnte sie es kaum glauben, irgendwie war alles total unwirklich. Sie hatte mit dem Leben abgeschlossen gehabt, aber dann zog eine junge Frau in die Nachbarwohnung, die sie am Anfang ziemlich genervt hatte. Frau Forster lächelte, als sie daran dachte. Wie oft hatte Sabine bei ihr geklingelt, um sich dies und jenes auszuleihen, oder weil sie Fragen zur Waschküche hatte. Aber sie waren sich irgendwann näher gekommen und Frau Forster hatte Sabine ihr Herz ausgeschüttet. Und die junge Frau war nicht nur eine gute Zuhörerin, sondern auch eine patente, zupackende Frau. Sie hatte sie langsam, aber sicher aus ihrem Jammertal geholt. Leicht war es nicht gewesen, aber dank Sabines Unterstützung hatte sie es geschafft. Sie hatte ihr natürlich schon längst das „Du“ angeboten und sie waren inzwischen gute Freundinnen geworden. Mit Sabine an ihrer Seite hatte sie sich dann auch wieder nach draußen getraut, hatte einige ihrer Nachbarn kennengelernt, war auf dem Chris de Burgh-Konzert in der Stadt gewesen und einiges mehr. Das Beste an allem war aber, dass sie jetzt im Kirchenchor sang. Sie, die immer dachte, sie könne nicht singen. Aber da hatte sie wohl ein falsches Selbstbild von sich gehabt. Wie das bei vielen Menschen leider so ist. Frau Forster sah auf ihre Uhr. Vor lauter nachdenken hatten sich ihre Schritte verlangsamt, nun musste sie sich aber beeilen um pünktlich zur Probe zu kommen.


    „Ach ja“, seufzte Mimmiel, „alles war im grünen Bereich, aber dann ...“

    „Ruhe, ich möchte wissen wie es weitergeht.“

    Gabriel schaute den an seiner Seite stehenden Engel an.

    „Und ich möchte wissen, ob sich deine Aussage bewahrheitet.“


    Inzwischen hatte der Herbst die Regentschaft übernommen und die Blätter an den Bäumen leuchteten alle in kräftigen Farben. Der erste Frost hatte die Wespenvölker stark dezimiert, auch etliche Blumen waren erfroren. Doch an diese Dinge verschwendeten die Sängerinnen und Sänger des ökumenischen Davidschors im Moment keinen Gedanken, denn ihre Chorleiterin hatte ihnen gerade eben mitgeteilt, dass sie zum Ende des Jahres gekündigt hatte. Sieben Jahre war Frau Schuster bei ihnen und sie waren sehr zufrieden mit ihr. Was hatte die junge Frau nicht alles an Auftritten in die Wege geleitet, sogar die Zauberflöte hatten sie zusammen mit einem Kinderchor aufgeführt. Und natürlich war ihnen Elisabeth Schuster ans Herz gewachsen, sie wollten sie nicht gehen lassen! Es musste doch irgendeinen Weg geben um das zu verhindern!

    „Können nicht wir Elisabeth anstellen? Wenn jeder von uns 10 € im Monat bezahlt, können wir uns ihr Gehalt doch leisten.“

    „Marianne, so einfach wie du dir das vorstellst, ist das nicht. Wir müssten einen Vertrag aufsetzen, der arbeitsrechtlich in Ordnung ist und …“

    „Ja, aber, da könnte man doch im Internet nach Musterverträgen schauen!“

    „Schon, aber wir müssten uns auch erkundigen, wie das ist, wenn es zu einem Prozess kommen sollte.“

    „Ach was für ein Quatsch“, warf Sonja ein, „Elisabeth wird uns doch nicht verklagen.“

    Nun setzte heftiges Stimmengewirr ein, jeder der anwesenden Chormitglieder hatte etwas zu sagen, nur eines nicht. Juliane Forster saß ruhig auf ihrem Platz, konnte das Ganze einfach nicht begreifen. Elisabeths Weggang war ein großer Verlust für den Chor. Schon sagten einige Mitglieder, dass sie weggehen würden. Der Chor würde auseinander brechen. Dabei hatte ihr das Singen so viel Freude gemacht. Und auch nette Bekanntschaften waren innerhalb des Chors entstanden, ob diese weiter bestehen würden, stand in den Sternen. Ihr kamen die Tränen, das war bestimmt die Strafe dafür, weil sie wieder glücklich war.


    Leise rieselte der Schnee vom Himmel und bedeckte die Erde. Die weiße Pracht wuchs unaufhörlich in die Höhe, langsam, aber stetig. Die Menschen hofften wie jedes Jahr auf weiße Weihnachten, aber bis dahin dauerte es noch ein wenig. Im Ort lief zurzeit der „Lebendige Adventskalender“, heute war die Fensteröffnung bei einem der Chormitglieder, weshalb der Chor dort ein paar Lieder singen würde. Während die anwesenden Mitglieder auf ihren Einsatz warteten, wurde die Kündigung von Elisabeth immer noch kräftig diskutiert.

    „Diesen Pfarrer könnte ich gerade ...“

    „Sebastian, versündige dich nicht!“

    „Ach ist doch wahr, Menschenskinder! Nur, weil er ein Problem mit Elisabeth hat, müssen wir darunter leiden! Der Kerl verträgt es einfach nicht, wenn er Gegenwind bekommt, sich jemand seine Machenschaften nicht gefallen lässt!“

    „Ich gebe dir ja recht, aber was sollen wir machen, er sitzt nun mal am längeren Hebel.“

    „Es muss doch ..“

    „Achtung, es geht los!“

    Nachdem Marion die anwesenden Gäste begrüßt hatte, fing der Chor zu singen an. Die Lieder stiegen empor, durchbrachen die Wolken, erfüllten die Herzen von allen, die sie hörten. Doch schon nach vier Liedern war Schluss, nun begann der gemütliche Teil des „Lebendigen Adventskalenders“. Man stand zusammen, aß Plätzchen und Lebkuchen, trank Glühwein oder Punsch und unterhielt sich. Bei den Chormitgliedern gab es verständlicherweise immer noch nur das eine Thema. Es wurde hin und her überlegt, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Juliane Forster beteiligte sich nicht daran, sie war gleich nach dem Singen gegangen. Jetzt saß sie im Park, bemerkte weder die Kälte noch den Schnee, der auf sie fiel. Sie war total niedergeschlagen, alles brach auseinander. Die Freude war wieder aus ihrem Herzen verschwunden.


    Nachdenklich wandte sich Gabriel vom Bildschirm ab. Konnte es wirklich sein, dass dieser

    Pfarrer … Entschlossen wandte er sich wieder dem Monitor zu:

    „Pfarrer Dinkeldorf, November 2019.“

    Ein Büro, in dem sich zwei Männer gegenüber standen, erschien auf dem Bildschirm.

    „Bitte Herr Dinkeldorf, auch wenn Sie Probleme mit Frau Schuster haben, stellen sie diese für den Dienst an der Sache zurück! Der Davidschor braucht sie als Chorleiterin! Sie hat schon so viel erreicht, ist mit Herzblut dabei, wer weiß, ob wir wieder so einen Leiter finden werden, wenn sie geht. Und ob wir überhaupt einen neuen Chorleiter finden!“

    Missmutig schaute der katholische Pfarrer sein Gegenüber an. Diese evangelischen Geistlichen waren einfach zu weichherzig. Gaben immer nach, anstatt Härte zu zeigen. So wie er das tat. Er hatte hier das Sagen und wer sich mit ihm anlegte, den warf er hinaus, so einfach war das!

    „Kommt nicht in Frage, werter Kollege. Frau Schuster muss gehen!“

    „Dieser Chor besteht seit fast 50 Jahren und Sie werden ihn zerstören!“

    Pfarrer Dinkeldorf lächelte, denn genau das war es, was er wollte. Es gab in Roth bereits einen Kirchenchor, da brauchte man im Nachbarort nicht noch einen.

    „Es ist alles gesagt. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe zu tun.“

    Resigniert verließ der evangelische Pfarrer das Büro, er hatte wirklich alles versucht, aber mit diesem Mann konnte niemand reden. Jetzt konnte nur noch Gott helfen.


    Fassungslos starrte Gabriel auf den vor ihm stehenden Monitor.

    „Glaubst du mir jetzt?“, fragte Mimmiel.

    Dessen Vorgesetzter wandte langsam den Kopf.

    „Wie um alles in der Welt konnte dieser Mann Pfarrer werden? Was denkt der sich eigentlich?“

    Mimmiel trat ein paar Schritte zurück, denn er spürte den aufkommenden Zorn und wenn Gabriel wütend wurde, war es besser, man hielt ausreichenden Abstand zu ihm.

    „Nein, so geht das nicht! Kirchenchöre singen zur Ehre Gottes und ein jeder, der sich dafür engagiert, steht unter Seinem besonderen Schutz! Ich werde gleich mal mit dem Chef reden, da muss etwas geschehen!“

    Gabriel drehte sich um, durchquerte mit großen Schritten den Raum.

    „Du bleibst hier“, rief er Mimmiel im Vorbeigehen zu, „ich brauche dich nachher bestimmt noch!“


    „Weiße Weihnachten, das hatten wir auch schon lange nicht mehr“, sagte Juliane, die mit ihrer Freundin Sabine am Fenster stand und auf die Dächer der umliegenden Häuser schaute.

    „Wenn ich mich richtig erinnere, ist das letzte schon 10 Jahre her. Es ist wie ein Wunder in der Zeit der Klimaerwärmung. „

    „Und es ist nicht das einzige Weihnachtswunder! Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Pfarrer Dinkeldorf so plötzlich versetzt worden ist. Und das auf ein kleines Eiland im Indischen Ozean.“

    „Vielleicht sucht er ja den Geist der Weihnacht auf der gleichnamigen Insel.“

    Die beiden Frauen lachten laut. Sabine war froh, dass sich alles doch noch zum Guten gewandt hatte, denn sie hatte schon befürchtet, dass Juliane wieder den Lebensmut verlieren würde, wo ihr das Singen doch so viel Spaß machte. Gut, sie hätte zu einem anderen Chor gehen können, aber das hätte sie sich nicht getraut, denn auch wenn sie es nicht zugab, Sabine wusste, dass ihre Freundin immer noch dachte, sie könne nicht gut singen. Dabei hatte sie eine schöne Stimme, aber irgendjemand in der Vergangenheit hatte ihr das Gegenteil eingeredet.

    „An was denkst du?“, fragte Juliane.

    „Ich freue mich so für dich, dass Frau Schuster den Chor wieder leitet und einen längerfristigen Vertrag bekommen hat. Das gibt dir und den anderen Chormitgliedern Sicherheit und ihr könnt frohen Mutes ins Neue Jahr gehen.“

    „Ja, das ist wahr. Ich bin so glücklich über diese Entwicklung, das glaubst du gar nicht. Und jetzt komm, das Weihnachtsessen wartet.“


    Gabriel schaltete den Bildschirm aus und wandte sich Mimmiel zu.

    „So wie es aussieht, braucht Frau Forster dich nicht mehr, deshalb bekommst du einen neuen Auftrag. Hol dir die entsprechenden Unterlagen im Himmelsbüro ab.“

    Mimmiel war schon fast an der Tür, als ihn die Stimme Gabriels einholte.

    „Ach ja, was ich noch sagen wollte – gute Arbeit, mach weiter so!“

    Mimmiel konnte nicht anders, er riss sich den Heiligenschein vom Kopf, warf ihn in die Luft und rief „Hurra“. Leider passte der Engel nicht auf und sein Kopfschmuck fiel auf den Boden. Ein kurzer Blick zu Gabriel, dann hob Mimmiel ihn schnell auf und rannte zur Tür hinaus. Gabriel sah ihm hinterher, schüttelte den Kopf und wandte sich dann mit einem Schmunzeln wieder seinem Schreibtisch zu.

  • Der 22. Dezember von polli



    Nestwärme


    Kurz vor Weihnachten war die Fensterscheibe jeden Morgen mit Eisblumen zugewachsen. Unten am Rand blieb die Eisschicht den ganzen Tag über besonders dick. Es zählte zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, eine Münze in der Hand zu erwärmen und gegen das Eis zu pressen, bis ein Guckloch entstand.

    Aber bis es soweit war, dass ich warm angezogen in der Stube umherlaufen durfte, verging eine Weile.

    Meist wurde ich wach, wenn es noch dunkel war. Mollig warm unter der Daunendecke versteckt, schob ich eine Nasenspitze aus den Federn. Kalt, eiskalt war die Luft. Ich rumorte ein bisschen, bis sich meine Oma neben mir rührte.

    "Oma, ich stehe ganz bestimmt nicht auf, es ist zu kalt."

    Wir beschlossen beide, heute im Bett liegen zu bleiben. Wenigstens so lange, bis wir es uns anders überlegten. Dann schimpften wir über den strengen Winter.

    "Weißt du eigentlich, Kind, dass dein Großonkel in Russland vier Zehen verloren hat und dass der Frost schuld daran ist?"

    Ich erschauerte vor der Macht des bösen Frosts und zog meine Füße näher zu mir heran. Während Oma die Geschichte vom Großonkel erzählte, stellte ich mir vor, wie irgendwo in einem fernen Land, schwarz vor Russ, ein paar einsame Zehen im Straßengraben lagen, verloren von einem erschöpften Soldaten, der Lumpen an den halb erfrorenen Füßen trug.

    "Wollen wir jetzt aufstehen?", unterbrach Oma meine Gedanken.

    "Nein, zu kalt. Wenn ich jetzt aufstehe, erfrieren meine Füße."

    "Auch gut", sagte Oma geduldig. "Warten wir noch ein Weilchen. Aber wir sollten unsere Anziehsachen ins Bett holen, das wärmt sie an."

    Mutig stand sie auf, hüpfte um das Bett herum und stopfte meinen Wollpullover, die Strumpfhose und den Winterrock unter die Daunendecke. Es wurde kalt an den Zehen und ich bekam eine Gänsehaut.

    "Erzähl noch was", forderte ich. Oma kroch ins Bett zurück, schüttelte sich und dann erzählte sie von früher, als sie keine Schuhe hatte.

    "Wie bist du dann in die Schule gegangen?"

    "Barfuß, Kind. Eine Stunde durch den Wald hin, eine zurück. Vom Frühjahr bis zum Herbst. Man gewöhnt sich daran."

    Ich befühlte meine Fußsohlen. Jetzt, im Winter, hatte ich keine Schwielen. Ich stellte mir vor, wie sich die Tannennadeln und Äste schmerzhaft in die weiche Haut bohrten. Oma redete weiter. Vom Henkelmann, den die Kinder dem Vater bringen mussten, von den Adventsliedern damals und vom dunklen Wald. Ich nickte ein. "Mak de Döppers op!" Damit war ich gemeint.

    "Kind, jetzt muss ich aufstehen. Du bleibst liegen, bis es in der Küche warm geworden ist und ich deinen Kakao fertig habe."

    Arme Oma. In der Küche war es ebenso kalt wie im Schlafzimmer, und bis das Feuer richtig brannte, musste sie lange frieren. Ich dachte an die Packung mit dem dunklen Kakaopulver. Ein Bild war darauf, mit einem holländischen Mädchen unter einer weißen Haube. Es lächelte freundlich und sah mir beim Kakaotrinken zu.


    5:30 Uhr. In den Heizungsrohren gluckert es. Die Anlage ist drei Jahre alt und schaltet vollautomatisch auf Tagbetrieb um. Ich bleibe noch ein wenig liegen und sortiere meine Gedanken. Vor dem Fenster tanzen dicke Schneeflocken. Die doppelverglasten Scheiben waren noch nie mit Eisblumen zugewachsen, noch nicht einmal unten am Rand. Als es Zeit ist aufzustehen, begegnet mir mein Jüngster, Frühaufsteher. Er hüpft barfuß, im dünnen Schlafanzug, auf der Treppe herum.


    "Zieh dich dick an, es ist kalt draußen", sage ich automatisch. "Mir ist aber nicht kalt, fühl mal", entgegnet er und streckt mir einen warmen Kinderfuß entgegen.

    "Willst du ein Brötchen?"

    Er nickt.

    "Ich gehe eben ins Bad und ziehe mich an, dann mache ich dir dein Frühstück."


    Wir sitzen am Esstisch. Ein Spielzeugauto fährt geräuschvoll um die Tasse herum, streift die Morgenzeitung und parkt zwischen Messer und Löffel ein. "Du hast ja immer noch keine Socken an, ist dir wirklich nicht kalt?"

    "Nö, Mama. Ich brauche keine Socken und keine Schuhe, mir ist immer warm. Kann ich Kakao haben?"

    Ich stehe auf und hole die Packung mit dem dunklen Kakaopulver aus dem Regal. "Weißt du eigentlich, dass es Leute gibt, die keine Schuhe besitzen?"

    "Ja, woanders, wo es Arme gibt, die nichts zu essen haben."

    "Da auch. Aber stell dir vor, meine Oma, also deine Urgroßmutter, die hatte früher als Kind auch nicht immer Schuhe." Und dann erzähle ich, wie sie barfuß durch den Wald zur Schule lief, dem Vater das Essen zur Arbeit bringen musste und wie mein Großonkel im fernen Russland vier Zehen verlor, als er Lumpen an den halb erfrorenen Füßen trug.

    "Voll spannend, Mama." Brummend erhebt sich das Spielzeugauto, fliegt eine Runde um die Kakaopackung und meistert ein schwieriges Einparkmanöver. Das holländische Mädchen unter der weißen Haube betrachtet das Kunststück und lächelt uns freundlich zu.

  • Der 23. Dezember von Tom



    Diverse Weihnachtsmänner gesucht


    Es begann im Jahr 2011, als sich eine kompakte, in Körpermitte etwas ausladend gebaute Studentin ostentativ in die erste Reihe des kleinen Vorlesungssaals setzte, den wir für die Infoveranstaltungen nutzten. Sie begegnete meinem überraschten Blick mit dieser rebellischen Attitüde, die ich von Leuten kannte, die der Meinung waren, es gäbe außerhalb ihres Standpunkts keine andere mögliche Wahrheit. Ich seufzte leise und stellte mich hinter das Pult, um die ansonsten durch die Bank männlichen Leute zu begrüßen, die für den "Studentischen Hilfsdienst", wie es damals noch hieß (abgekürzt StuHiDi), in jenem Jahr als Weihnachtsmänner tätig werden wollten. Zwei Jahre später wurden wir in "Hilfsservice der Studierenden" umbenannt, weil man nicht mehr "Studenten" sagte (und an der Uni auch keinen Menschen mehr mit einem geschlechtsbezogenen Artikel, Pronomen oder Substantiv ansprach), weil aber auch niemand sklavisch Dienste ableisten wollte (besonders fügsam oder nur fleißig war allerdings sowieso keiner). Abgekürzt hießen wir ab dann "HilSerdeStu", was für mich wie der Name eines rumänischen Diktators klang, aber mich fragte niemand. Unsere alte Internetadresse schnappte sich umgehend eine Zeitarbeitsfirma, die uns in den folgenden Monaten einige Aufträge klaute.

    Viele Studenten - zu dieser Zeit durfte man sie noch ungestraft so nennen - wollten bei diesem exzellent bezahlten Nachmittag ordentlich abgreifen, und obwohl die Moral und der Respekt vor Traditionen schon seit einiger Zeit deutlich gesunken waren - ich selbst hätte nur wenige von ihnen als Weihnachtsmann zu meinen Kindern gerufen, aber ich hatte ja nicht einmal Kinder -, war die Nachfrage seitens der Auftraggeber nach wie vor hoch. Das Geschäft brummte. Die fünf bis sieben Stunden am Heiligabend gehörten zu den lukrativsten des Jahres, weshalb hier auch knapp hundert Studierende saßen, die Weihnachten überwiegend zwar für eine imperialistische, postkapitalistische, frauen- und fortschrittsfeindliche Veranstaltung hielten, die von weißen Männern erfunden worden war, die aber nichts gegen die Scheinchen hatten, die man dabei einstreichen konnte, ohne eine allzu komplexe Gegenleistung erbringen zu müssen.

    "Liebe zukünftige Weihnachtsmänner", begrüßte ich die Reihen der nachlässig gekleideten, fetthaarigen, mit allerlei elektronischem Schnickschnack beschäftigten und gänzlich unchristlichen Studenten. Einige waren vermutlich sogar zugekifft oder mit Hilfe anderer Substanzen an der Grenze zur Tiefenentspannung.

    "Und Frauen!", protestierte die Dame in der ersten Reihe erwartungsgemäß, wofür es sehr zaghaften, vereinzelten Applaus gab.

    Ich schüttelte langsam den Kopf und lächelte die Studentin an. "Es gibt keine Weihnachtsfrau", ließ ich über die Saalbeschallung vernehmen. "Die Tradition ist zwar keine sehr alte, aber wenn Sie diesen Job machen wollen, werden sie gefälligst als Weihnachtsmann gehen müssen." Noch während ich es sagte, wusste ich, dass es ein Fehler war: "Wofür Sie die körperliche Eignung ja ansonsten haben", ergänzte ich nämlich. Die paar Piepel, die vorher applaudiert hatten, buhten jetzt.

    Sie fletschte die Zähne, stand auf, zerriss dabei den Bewerbungsbogen, den sie ohnehin nicht ausgefüllt hatte, und ging betont langsam nach draußen, wobei sie die Schnipsel wie Konfetti verstreute. Kurz vor der Tür drehte sie sich noch einmal zu mir um und sagte: "Sie sind ein peinlicher alter Mann. Ihre Tage sind gezählt."

    Ich zuckte die Schultern. Peinlichkeit war mir wurst, ich wollte nur meinen Job machen, und der war kein politischer, glaubte ich damals jedenfalls noch. Das mit dem Altsein biss ein wenig. Ich würde im kommenden Januar meinen achtunddreißigsten Geburtstag feiern. Als wirklich alt hatte ich mich bisher noch nicht gesehen. Das war man erst ab vierzig.


    Weil der StuHiDi zwar ein Tochterunternehmen der Universität war, aber ansonsten unabhängig von ihr, hatte der Allgemeine Studentenausschuss - später "Allgemeiner Studierendenausschuss" - keine direkten Einflussmöglichkeiten. Viele bezeichneten ihn als den politischen Arm jener Terrorzelle, die sich als soziologische Fakultät tarnte. Ich hatte dazu keine Meinung, bis nach der Infoveranstaltung eine Delegation des AStA vor dem Büro des StuHiDi auftauchte, um gegen dessen diskriminierende Jobvergabe im Allgemeinen und meine sexistischen Entgleisungen im Speziellen zu protestieren. Man tat das, indem man mich mit frischen Tomaten bewarf, weil man auf die Schnelle keine verfaulten gefunden hatte.

    Aber das war nur der Anfang.


    Die meisten der Jobs, die wir vermittelten, bestimmten Geschlecht und etwaige andere Voraussetzungen der Bewerber quasi von selbst, deshalb fragten wir auch nicht danach. Als Umzugshelfer bewarben sich ohnehin fast nur männliche Sportstudenten, als Kinderbetreuer angehende Pädagogen weiblichen Geschlechts, als Hundesitter Biologiestudenten und irritierenderweise viele Chemiker, bei Nachhilfe war es so uneinheitlich wie die Nachfrage der Auftraggeber, alles andere konnte jede und jeder und jedex machen. Bis auf die Weihnachtsmännersache.

    Glaubte ich.

    Sie schafften es nicht mehr bis zum kommenden Heiligabend, aber schon im nächsten Jahr musste ich ein Dutzend Frauen als Weihnachtsmänner akzeptieren, dazu vier oder fünf Leute, die sich weigerten, ihr Geschlecht zu nennen oder auf den Bewerbungsbögen anzugeben, von denen wir diese Angabe auch ein Jahr später auf Drängen der Universitätsleitung tilgten, nebst den ursprünglich geforderten Informationen zu religiöser Orientierung und Gewicht. Während der AStA seinen Erfolg feierte, sahen das die Leute, die für ihre fraglos viel zu konservativ und rollenkonform erzogenen Kinder explizit Weihnachtsmänner bestellt hatten, ein wenig anders. Ich hatte über die Feiertage keinen offiziellen Dienst, aber das Notfalltelefon für die Studierenden, das am Heiligen Abend bis zwanzig Uhr geschaltet war, summte und flötete ab halb drei am Nachmittag fröhlich vor sich hin. Teilweise unter Gewaltandrohung waren die nichtmännlichen Weihnachtsmänner von ihren Auftraggebern fast ausnahmslos vor die Tür gesetzt worden. Bei einigen Anrufen konnte ich sie noch im Hintergrund in ziemlich unchristlichem Tenor schimpfen hören. Da wir wohlweislich die Auftragsbedingungen und die AGB des HilSerdeStu angepasst hatten, war das zumindest vorläufig kein finanzielles Problem (die, die nicht zahlen wollten, verklagten wir erfolgreich, und letztlich wollte niemand als misogynes Arschloch dastehen), aber es schädigte unseren Ruf. Nur eine einzige Studierende traf auf eine recht entspannte Familie, die kurzerhand das von einer Getränkefirma erfundene Märchen umdichtete und für den Weihnachtsmann eine Ehefrau erfand, die ihm schon immer bei starker Nachfrage aushalf, was lediglich nicht jeder wusste.


    Im kommenden Jahr konnten die Weihnachtsmänner nur noch online gebucht werden, weil die Telefonate nicht mehr auszuhalten waren. Aber auch das ging zunächst nach hinten los. Besorgte Eltern schrieben in die Formulare, dass sie sich einen männlichen Studenten wünschten, doch weil wir das vorhergesehen und deshalb den Wunsch nach konkreter Geschlechterzugehörigkeit oder anderen Eigenschaften, deren Einforderung eine Diskriminierung anderer darstellte, ausgeschlossen hatten, schrieben die, die sich für etwas pfiffiger hielten, bei den Sonderwünschen tatsächlich Dinge wie: Bitte nur echte Bärte. Oder: Bitte Menschen MIT Penis. Es war seltsam, das zu lesen. Aber die Sonderwünsche waren nicht Vertragsbestandteil, deshalb hätten sie sich auch Leute mit Flügeln wünschen können, die wirklich fliegen können sollten.

    Im Jahr darauf ließen wir die Möglichkeit, solche Wünsche oder überhaupt Anmerkungen zu hinterlegen, deshalb ersatzlos weg. Man konnte nur noch Alter und Anzahl der Kinder angeben, und außerdem ankreuzen, ob diese ein Gedicht aufsagen oder ein zur Jahreszeit passendes Lied singen sollten. Auch das Zeitfenster musste man etwas flexibler angeben, da wir uns für jene Bewerber geöffnet hatten, die körperlich oder aufgrund der sprachlichen Fähigkeiten eigentlich nicht dazu in der Lage waren, diesen Job zu machen. Ab diesem Jahr nannten wir die Leute, die wir aussendeten, auch nicht mehr "Weihnachtsmänner", sondern "Weihnachtspersonen" (es wurde zwar versucht, auch die Bezeichnung des Fests zu tilgen, aber das misslang). Die Nachfrage seitens der Kunden war zwar inzwischen so stark gesunken, dass ich aus der Bewerberschar ausschließlich beleibte männliche Studenten hätte auswählen können, aber das tat ich natürlich nicht, sondern ich hielt mich streng an eine ausgefeilte Quotentabelle (in der ich dann doch wieder jene Eigenschaften berücksichtigte, die wir eigentlich zu ignorieren hatten, aber das erfuhr niemand). Ich hätte das auch nicht anders praktizieren dürfen. Die Universitätsleitung hatte den HilSerdeStu auf Bitten des AStA inzwischen in das Projekt "diskriminierungsfreie Universität" eingegliedert, weshalb wir sogar eine blinde und hörgeschädigte Weihnachtsperson mir unbekannten Geschlechts zu einer äußerst irritierten Familie in einen Vorort schickten - nebst Begleitung, gestellt von einem spezialisierten Pflegedienst, die mit diesem Job mehr verdiente als unsere Weihnachtsperson. Es war ihr einziger Einsatz, von dem sie hochbeglückt nach mehreren Stunden zurückkehrte, während die Familie in einer detailreichen Mail dringend darum bat, aus unserem Verteiler gestrichen zu werden, und sich Forderungen wegen einer möglichen Traumatisierung ihrer drei und vier Jahre alten Kinder vorbehielt.


    Aber das war schließlich eine überflüssige Bitte, aus dem Verteiler gestrichen zu werden. Nach einigen Krisensitzungen und vom AStA initiierten, begleitenden Kampagnen bei Facebook, Twitter und Instagram strich die Universitätsleitung den Weihnachtspersonenservice aus dem Portfolio des HilSerdeStu. Alle Beteiligten hatten eingesehen, dass sich das Angebot nicht mit einer diskriminierungsfreien Universität vereinbaren ließ.


    Ich zog es privat ehrenamtlich auf. Freunde und Bekannte, viele ehemalige Studenten und sogar einige Dozenten meldeten sich freiwillig für den Dienst, der ausschließlich beleibtere Herren unter Vertrag nahm, die mit diesem Job jedoch kein Geld verdienten. Die Einnahmen leiteten wir an gemeinnützige Organisationen weiter, die wir nach außen nicht nannten. Schon im zweiten Jahr der Existenz des von mir gegründeten Services war die Nachfrage so groß, dass wir die Preise und damit die Spendengelder anheben konnten - und eine Warteliste einrichten mussten. Wir bekamen säckeweise Post und kleine Geschenke von glücklichen Familien, die ihre Kinder ganz sicher zu toleranten, weltoffenen Menschen erziehen, ihnen diese kleine Freude an einem Festtag, der, unter uns gesprochen, sowieso nichts mit der Realität zu tun hat, aber nicht nehmen wollten. Dafür hatten sie mein vollstes Verständnis.

    Ich habe großen Respekt vor Menschen, die rund um die Uhr für eine diskriminierungsfreie Welt eintreten, und gegen all diese Ungerechtigkeiten, die es in unseren Gesellschaften gibt. Es ist ein hartes, gemeines Schicksal, wenn man diskriminiert wird. Aber Toleranz und Verständnis sind keine Einbahnstraßen - und nichts, das man instrumentalisieren sollte. Wir können eine bessere, friedliche und vorurteilsarme Welt schaffen, aber nicht dadurch, dass wir einander unsere Meinung und unseren Willen aufzwingen, um jeden Preis und in jeder noch so absurden Situation. Weil nämlich auch das eine Form von Diskriminierung ist.


    In diesem Sinne.

    Frohe Weihnachten.

  • Der 24. Dezember von churchill



    Was ist Wahrheit?


    Vielen Dank auch! Jedes Jahr ein ganz schöner Trubel, der zu meinem Geburtstag veranstaltet wird. Oder besser gesagt: Zu dem Tag, den ihr für meinen Geburtstag haltet. Obwohl: Inzwischen wissen angeblich viele Menschen gar nicht mehr, warum sie das Fest feiern, das ihnen so viel Stress bereitet ...


    Entschuldigung: Ich habe mich gar nicht vorgestellt.

    Jehoshua bar Joses. Besser bekannt als Jesus. Künstlername Christus. Aber den bekam ich erst anschließend. Also hinterher. Als ich schon tot war. Und doch irgendwie nicht. Ich greife vor.


    Kommen wir zurück zu meinem Geburtstag. Die Wahrheit ist: Es ist lange her. Aber keiner weiß so richtig, wann ich geboren wurde. Oder wo. Stop, höre ich euch sagen. Das wissen wir doch. In Bethlehem! Bloß weil Lukas es damals so aufgeschrieben hat. Nee, nach allem, was ich weiß, wurde ich in Nazareth geboren. Ist ja auch logisch. Meine Eltern wohnten und arbeiteten dort. Warum hätten sie von Galiläa nach Judäa gehen sollen? Mobilität war damals noch kein großes Thema.


    Ihr wisst es besser? Die Volkszählung? Außer Lukas hat niemand etwas davon berichtet. Niemand! Und bei der Gründlichkeit der römischen Verwaltung könnt ihr Gift drauf nehmen, dass diese Volkszählung perfekt dokumentiert worden wäre, hätte sie jemals stattgefunden. Es war aus dramaturgischen Gründen wichtig, dass Lukas meine Geburt nach Bethlehem verlegt hat. Schließlich sollte da der Messias geboren werden. Der Erlöser. Der neue König David musste in dessen Heimat zur Welt kommen. Stand schließlich in den Schriften.


    Nazareth passte da nicht wirklich. Lukas machte es passend. Und die Geschichte von der vergeblichen Herbergssuche und der Geburt im Stall hat ja auch was. Sie dient heute noch Jahr um Jahr als Drehbuch für unzählige Krippenspiele. Außer Lukas hat niemand davon berichtet. Und dennoch glaubt alle Welt, dass es so war. Schon beeindruckend.


    Meine Eltern waren Maria und Josef. Da werde ich oft gefragt, ob Maria wirklich Jungfrau war. Natürlich war sie das. Irgendwann. Wie jede Frau. Dann wurde sie schwanger und ich kam zur Welt. Und später meine Schwestern und Brüder. In Nazareth wurde ich geboren, dort wuchs ich auf, dort begann ich zu arbeiten, dort ging ich mit meinem Vater in die Synagoge. Für alle, die das nicht so auf dem Schirm haben: Ich war Jude. Von Anfang an. Bis zum letzten Atemzug. Und der tat verdammt weh, das kann ich euch sagen.


    Ich war ein Kind meiner Zeit. Die Römer stellten als Besatzer ein ziemliches Problem für die Ausübung unserer Religion dar. Nach vielen Jahren in Nazareth schloss ich mich dem Wanderprediger Johannes an. Er war ein charismatischer Typ, der davon überzeugt war, dass der Erlöser bald kommen und uns befreien würde. Johannes rief dazu auf, Buße zu tun. Er meinte, dass nur diejenigen zu Gott kommen würden, die ihr Leben radikal umstellen. So wie er.


    Das sah ich etwas anders. So, wie ich Gott verstand, machte er uns ein Angebot. Er schenkte uns sein Reich. Seine Liebe. Sein Verständnis für uns und unsere Fehler. Und seine Barmherzigkeit.

    An uns liegt es, dieses Geschenk anzunehmen. Wenn wir es annehmen, werden wir so leben, wie es Gott gefällt. Weil wir ihn und unsere Mitmenschen lieben. Und nicht, weil wir Angst vor ihm haben.


    Diese Überzeugung brachte mich dazu, mich als Wanderprediger selbständig zu machen, um den Menschen von Gottes Liebe und Barmherzigkeit zu erzählen und sie (im wahrsten Sinne des Wortes) zu berühren. Eine Zeitlang klappte das richtig gut. Es kam ein ziemlich großer Fanclub zusammen und trotz der überschaubaren Anzahl an Massenmedien erreichte ich viele Menschen. Vielleicht auch, weil ich die Schwerpunkte meiner Tätigkeit etwas anders setzte als die Wanderpredigerkollegen, die damals in durchaus großer Zahl unterwegs waren.


    Meine Auslegung von Gottes Gesetzen unterschied sich von jener der Kollegen. Irgendwie ging es mir nicht in den Kopf, wenn Menschen glaubten, der Sinn ihres Lebens bestehe in der Erfüllung von Gesetzen. Die Gesetze sind doch für den Menschen da und nicht umgekehrt! Die Pharisäer achteten vorbildlich auf die Einhaltung der Gesetze. Die Sadduzäer gaben sich redlich Mühe, den Tempelkult in diplomatischen Beziehungen zu den römischen Besatzern zu bewahren. Die Essener suchten die Lösung in Askese, die Zeloten mit Gewalt. Allesamt aber warfen sie mir vor, ich würde mir die Finger und noch mehr schmutzig machen, wenn ich mich mit Menschen abgebe, die sich am Rand der Gesellschaft befinden oder aus ihr schon ausgestoßen worden sind. Menschen mit Krankheiten und Behinderungen. Prostituierte und Zöllner. Kriminelle und Fremde. Und viele Frauen ...


    Ich habe das nie verstanden. Gott schuf doch nicht die Menschen, um sich anschließend nur um eine kleine privilegierte Gruppe zu kümmern. Gott hat uns doch in diese Welt gestellt, um mit allen anderen Menschen zusammen sein Reich zu schaffen. Mit ALLEN anderen.


    Vielleicht habe ich das hier oder da etwas zu intensiv und hartnäckig gesagt. Irgendwann war klar, dass mich mein Beruf nicht nur viel Kraft sondern am Ende auch den Kopf kosten würde. Ich wurde wegen Unruhestiftung zum Tode verurteilt und am Kreuz hingerichtet. Damit hätte alles vorbei sein können.


    Was soll ich sagen. Eigentlich ging es erst richtig los. Ich starb, blieb aber letztendlich am Leben. Das, was ich sagte und tat, lebte weiter. Durch andere. Viele Jahrhunderte lang. Bis heute. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Menschen mich nicht immer richtig verstanden haben. In meinem Namen wurden Kriege geführt. In meinem Namen wurden Menschen verurteilt und körperlich oder seelisch vernichtet. In meinem Namen wurde Macht missbraucht. In meinem Namen wurden Gesetze über Gesetze erlassen. Sie haben mich oft nicht begriffen.


    Aber es gibt mich noch. Überall da, wo Liebe gelebt und Barmherzigkeit geübt wird. Überall da, wo der Blick auf Mitmenschen gerichtet wird, die Hilfe und Unterstützung brauchen. Überall da, wo Menschen sich nicht zum Maß aller Dinge erheben. Manchmal sogar in Kirchen und Palästen.

    Im Vatikan sind aktuell richtig gute Ansätze zu erkennen. Sollte mich dort jemand inzwischen wirklich verstanden haben? Naja, was die Frauen angeht, ist die katholische Kirche noch ein paar Jahrhunderte zurück. Aber es könnte sich etwas tun. Bleiben wir mal optimistisch.


    Ach so: Ich bin übrigens auch überall da, wo ein Baby geboren wird. Wo es den ersten Schrei tut. Wo es sich vom der Mutter stillen und beschützen lässt. Wo es lächelt und wo es weint. Ich bin dabei. Versprochen. Lukas hat die Weihnachtsgeschichte wirklich gut geschrieben. Sie ist sicher nicht historisch. Aber so was von wahr.


    So wünsche ich euch heute allen ein schönes Fest und mir einen tollen Geburtstag.

    Trinkt einen guten Wein und denkt an mich ...

    Ad multos annos!