Jackie Thomae: Brüder

  • Ich bin Dein Vater. Na und?


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    Sie sind, sagt der Klappentext, "Kinder desselben Vaters, der ihnen nur seine dunkle Haut hinterlassen hat". Mick und Gabriel heißen sie, zwei deutsche Männer, deren Leben - und auch dieses Zitat entstammt dem Klappentext - "unterschiedlicher nicht sein könnten" (was fraglos eine gewagte Behauptung ist). Das Buch ist mit einem Schutzumschlag versehen, der eine Textur aus braunen Streifen in verschiedenen Tönungen zeigt.

    Gut möglich also, dass es in diesem Roman um Hautfarbe geht.


    Der Senegalese Idris war in den Siebzigern als Gaststudent in der DDR und hat sich dort zweimal als Vater verewigt. Der eine Sohn, Michael, genannt Mick, wurde von der Mutter namens Monika und ihren wechselnden Lebensabschnittsgefährten schließlich in Westberlin aufgezogen, der Bruder Gabriel, dessen Mutter bald nach der Geburt starb, von den Großeltern im Osten. Mick entwickelte sich zu einem impulsiven, triebgesteuerten, mäßig bindungsfähigen Filou, Gabriel, der hochgebildete Kontrollfreak, wurde global agierender Stararchitekt mit großartiger Frau, originellem Kind und teurer Villa im zentralen London. Es sind durchaus zwei recht unterschiedliche Vitae entstanden, aber sie hätten ohne Zweifel noch um einiges unterschiedlicher ausfallen können. Die Hautfarbe, die der Vater als einziges erkennbares Merkmal in verschiedenen Intensitäten hinterlassen hat, ist zwar bei beiden Männern ein Aspekt des Daseins - unvermeidlich in einem von weißhäutigen Menschen dominierten Umfeld -, aber kein ausschlaggebender, vor allem nicht aus ihrer Sicht. Gabriel ist in dieser Hinsicht etwas dünnhäutiger und meidet das Thema in Kommunikation und Diskurs nach Möglichkeit, Mick demgegenüber genießt es, aufgrund seines Aussehens leichter an Frauen zu kommen - er hat den positiven Rassismus in gewisser Weise instrumentalisiert.

    Die beiden Männer wissen nichts voneinander, und ihre Leben haben auch keine Gemeinsamkeiten. Die Lebensgeschichten, die die Autorin in zwei abgeschlossenen Kosmen und Erzählungen ausbreitet, verfügen über so gut wie keine Schnittmenge - es sind zwei beliebige, aber durchaus interessante Lebensgeschichten - die genau das sagen sollen: Diese Vermutungen, die Ihr internalisiert anstellt, wenn Ihr in Hautfarben denkt, wenn ihr ganz allgemein Herkünfte und deren vermeintliche Folgen beurteilt, die sind idiotisch. Sie spielen keine Rolle. Unser Vater hat uns tatsächlich nur unsere Hautfarbe hinterlassen, aber hiervon abgesehen sind wir Herren unserer eigenen Schicksale, sind unsere sozialen Einflüsse viel ausschlaggebender für das, was aus uns geworden ist.


    Der Punkt, der Mick und Gabriel verbindet, ist Idris' Vaterschaft, weshalb sich zwischen den beiden Abschnitten literarischer Tesafilm befindet, ein "Intermezzo", wie es die Autorin nennt, aber im Ergebnis verstärkt das noch den Eindruck, eigentlich zwei Geschichten zu lesen, die man auch einzeln hätte erzählen können, ohne diese verbindende Stelle (aber dann auch ohne diese Aussage). Selbst die Momente der Katharsis - Gabriels sich lange ankündigendes Burn-Out, Micks Risikobereitschaft, die in einer Drogenkurierreise nach Südamerika gipfelt - scheinen auf nichts zu verweisen, das Gemeinsamkeiten ausleuchten würde. Das Buch heißt zwar "Brüder", aber es verkündet: Das ist nichts weiter als ein Etikett. Wie so viele andere Etiketten, die ihr uns anzukleben versucht, die ihr euch gegenseitig anklebt, weil ihr Zusammenhänge seht, wo keine sind. Aber für diese Aussage hätte es kein so umfangreiches Buch, so viel Schreibkunst, einen so großen kreativen Aufwand gebraucht. Oder doch?


    Jackie Thomae schreibt mit dem Skalpell, sie seziert ihre Figuren mit einer Präzision, die ihresgleichen sucht, sie legt jede Facette und jedes Detail frei, lässt nichts unter der Oberfläche oder im Geheimen. Ihre Figuren sind lebenswirklich - man nimmt ihnen jeden Satz, jede Geste, jede Entscheidung, sämtliche Kompetenzen und alle Lügen ab, dem Personal dieses starken, beeindruckenden, sprachlich über alle Maßen perfekten Romans. Es ist ein Vergnügen, diesen Text zu lesen, es löst Begeisterung aus, die Arbeit einer Autorin vor sich zu haben, die so mit Sprache, Dramaturgie und Figuren umzugehen in der Lage ist, die so genau beobachtet - und der es auch noch gelingt, diese Beobachtungen mit einem bescheidenen Instrument wie der Schriftsprache in einer Weise wiederzugeben, die sie nachvollziehbar werden lässt.


    Und dennoch hat man das Gefühl, dass hier mit den sprichwörtlichen Kanonen auf Spatzen geschossen wurde, dass eine detailreiche, riesengroße Landkarte akribisch gezeichnet wurde, nur um die Entfernung zwischen zwei bestimmten Punkten zeigen zu können, wofür aber auch eine grobe Skizze gereicht hätte. Seltsamerweise geriet Mick mit dem Ende seines Buchabschnitts bei mir sofort in Vergessenheit, wie ein mäßig guter Bekannter, von dem man lange nichts gehört hatte - seine jederzeit etwas diffuse Lebensplanung manifestierte sich sozusagen. Diese dramaturgische Flüchtigkeit der Erzählung ist umso merkwürdiger, da ihre hohe Dichte für das genaue Gegenteil spricht; allein, es ist so. Ein wenig rätselhaft blieb mir auch die Bedeutung des Wechsels von der auktorialen, also der allwissenden Erzählperspektive im ersten hin zu zwei Ich-Erzählern im zweiten Teil. Als würde die Autorin darauf aufmerksam zu machen versuchen, welches Arsenal sie beherrscht, und das ist ohne jeden Zweifel ein enormes, aber sie hat dabei den Zweck des Manövers vergessen.


    Ich bin entzweit. Vieles an und in "Brüder" ist kongenial, verweist einen Großteil der zeitgenössischen Autoren auf die hinteren Plätze, demonstriert eindringlich, was möglich sein kann, aber dann bleibt wieder die Frage nach dem Warum, auf die die Antwort unterm Strich zu schmal für ein so breitbeinig daherkommenden Text ausfällt. Das erkennbare Erbe der beiden Brüder zeigt sich in der Schattierung der Haut, aber ansonsten weist nichts im Leben von Mick und Gabriel auf Gemeinsamkeiten hin, und auch wenn die Unterschiedlichkeit - entgegen der Behauptung des Klappentextes - größer sein könnte, ist sie doch groß genug, um zu unterstreichen, was "Brüder" vermitteln soll: Brüder sind wir alle, aber das, was ihr mutmaßt, wenn ihr auf Basis körperlicher Merkmale Gemeinsamkeiten sucht, das ist ziemlicher Bullshit.


    ASIN/ISBN: 3446264159

  • :gruebel Geht die Autorin auch davon aus, dass alle Leser genau die selben Vorurteile haben?

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend MZB: Darkover-Universum

  • Tante Li : Ich glaube nicht, dass Jackie Thomae von dieser etwas absurden Annahme ausgeht, aber ich bin auch wirklich unsicher, was ihre Aussage und Botschaft angeht. Was ich schreibe, das stellt eine Ableitung dar, eine Interpretation, das ist das Ergebnis eines längeren Drübernachdenkprozesses (ich habe "Brüder" Anfang Oktober gelesen, aber es hat eine Weile gedauert, bis ich tomintern zu einer Schlussfolgerung gekommen bin, zu einer Antwort auf die Frage nach dem Warum, die ich dann in eine Rezension gießen konnte). Es ist sehr, sehr gut möglich, dass ich generell falschliege.


    Andererseits. Es geht ja gemäß meiner Interpretation darum, auf welche Art wir Menschen kategorisieren, vorbeurteilen, und das tun wir nicht selten auf der Basis körperlicher Merkmale. Das Geschlecht ist das prägnanteste, aber auch die Hautfarbe fällt in eine ähnliche Kategorie. Vorurteile - egal, ob positive oder negative - basieren darauf, dass wir Gemeinsamkeiten mit früheren Erlebnissen (oder tradierten Informationen, Erfahrungen aus zweiter Hand usw. usf.) herstellen, basierend auf Äußerlichkeiten, Herkunft, Sozialstruktur usw. Das tun viele von uns, das tun wir auch unbewusst.

  • :thumbup: Diese Überlegungen gefallen mir schon besser als Deine unterschwellige Beschuldigung in Deiner Rezension, von der Du Dich mit Deinem wiederholten "ihr" aus dem Kreis der Vorurteilsbehafteten herausnimmst. :blume

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend MZB: Darkover-Universum

  • Dieses "Ihr" in der Rezension bezieht sich m.E. ziemlich eindeutig auf jene, die eben so denken (und zuweilen auch handeln), vermittelt durch das Wörtchen "wenn":

    "Brüder sind wir alle, aber das, was ihr mutmaßt, wenn ihr auf Basis körperlicher Merkmale Gemeinsamkeiten sucht, das ist ziemlicher Bullshit."