'Mit der Faust in die Welt schlagen' - Seiten 231 - Ende


  • Hier finde ich vor allem das letzte Kapitel ganz, ganz stark gemacht. Er erzählt, wie sie in die Schule einsteigen, immer wieder unterbrochen von Tobis Gedanken. Diese Gedanken beschäftigen sich hauptsächlich damit, dass doch bitte jemand kommen und ihn aufhalten möge.

    Die anderen sind verantwortlich für die Taten, Philipp, die Mutter, die Großmutter, die den Garten verkauft hat, die Politiker, Merkel, schlussendlich die Flüchtlinge. Selbst daran, dass er am Ende den Brand legt, ist sein Bruder schuld, weil er sich nicht bei ihm gemeldet hat. Dabei hat Tobi einen freien Willen. Er hätte sein Leben selbst in die Hand nehmen können. Niemand hat ihm das verwehrt oder verboten.

    Sicher hat Tobi einen freien Willen. Und klar, er hofft, das ihn da jemand raus holt. Die anderen sind Schuld? Vielleicht hätten ihm Eltern und Großeltern, Lehrer etc. auch dazu verhelfen können Verantwortung zu übernehmen. Er hat das nicht gelernt. Schon die Generationen vor ihm haben die Verantwortung abgewälzt. Das Potential nein zu sagen und etwas anderes zu tun, das hatte er nicht. Ich bin genau so eingestellt wie Du Saiya . Und ich versuche zu hinterfragen. Man könnte Argumente dafür und dagegen finden. Auch Philipp hat dieselbe "Erziehung", ich nenne das jetzt mal so, genossen. Er hat sich abgewandt. Aber fängt er etwas mit seinem Leben an? Zumindest erfahren wir es nicht. Hätte er seinen Bruder unterstützen müssen? Ja, denn die Eltern haben es nicht getan. Tobias sucht sich die falschen Vorbilder, wer kann es ihm verdenken, vermisst er doch Anleitung und Zugehörigkeit. Er ist noch jung. Möglicherweise ändert er sich noch. GEben wir die Hoffnung nicht auf.


    Und ja, das tolle an dem Buch ist, dass es überall sein könnte. Da wo Armut und Unlust, Frustration und geistige Enge herrschen. Da wo Verantwortung auf andere abgewälzt wird

  • Ich denke übrigens nicht, dass der große Bruder für den kleinen Bruder zwingend Verantwortung übernehmen muss. Wenn er es schafft und ihm helfen kann, ist das natürlich großartig, aber wenn er das nicht kann, sollte man ihm das nicht vorwerfen. Es ist nicht richtig, Philipp die Elternrolle aufzubürden oder von ihm zu erwarten, die von diesen gemachten Fehler auszubügeln.

    Er muss ja selbst erstmal die Kraft finden, sein eigenes Leben "auf die Reihe" bekommen.


    Und schlussendlich hat er ja scheinbar versucht Tobi aufzuhalten oder zumindest zu erreichen. Leider war es zu spät, um die Straftat zu verhindern. Trotzdem ist Philipp nicht dafür verantwortlich, auch wenn Tobi das in seinem Frust so wahrzunehmen scheint und u. a. das vermeintliche Nichtmelden seines Bruders als Auslöser für die Brandstiftung nennt.

    Was kommt als nächstes? Ein Anschlag auf die syrische Familie, die Besitzer des ehemaligen Gartens des Großvaters, weil die Großmutter ihn finanziell nicht mehr halten konnte, woran natürlich "diese Flüchtlinge und Merkel" die Schuld tragen? Da wäre mir doch lieber, er wird jetzt erwischt und bekommt wenigstens die strafrechtlichen Konsequenzen für sein Handeln zu spüren.

  • Aufbürden kann man es ihm nicht, und ankreiden, dass er es nicht getan hat auch nicht. Ich hätte es mir gewünscht. Aber ich hätte mir auch gewünscht, die Eltern oder zumindest die Großeltern oder die Lehrer hätten sich mehr um die Kinder gekümmert. Sie sind so ziemlich mit allen Anforderungen auf sich alleine gestellt. Die Verantwortung tragen sie. Letztendlich hat sich Tobias nicht gegen die Gewalt entschieden. Der Weg, wie es dazu gekommen ist, war im Buch eindringlich beschrieben. Gibt es Lösungen? Oder ist es schon zu spät? Ich weiß es nicht.

  • Hat er sich wirklich auf keine Seite geschlagen?
    Ich empfinde das nämlich ganz anders. Er zeigt zwar nicht mit dem Zeigefinger auf die Jungs, aber durch seinen beobachtenden, distanzierten Stil, zeigt er doch sehr deutlich, dass er die Taten dieser Clique verurteilt.

    Natürlich positioniert sich der Autor, mit jedem Satz und jeder Figur, jeder Entwicklung gegenüber, aber es macht das, finde ich, nicht so offensichtlich, nicht mit einem erhobenen Zeigefinger. Wir Leser sollen uns selbst Position suchen, Position beziehen. Vielleicht habe ich mich da nicht ganz deutlich ausgedrückt.

    Mir gefällt, dass hier nicht um Sympathien geworben wird und auch keine Antipathien gelenkt werden. Jede Figur ist recht neutral und sachlich betrachtet.

    Die anderen sind verantwortlich für die Taten, Philipp, die Mutter, die Großmutter, die den Garten verkauft hat, die Politiker, Merkel, schlussendlich die Flüchtlinge. Selbst daran, dass er am Ende den Brand legt, ist sein Bruder schuld, weil er sich nicht bei ihm gemeldet hat. Dabei hat Tobi einen freien Willen. Er hätte sein Leben selbst in die Hand nehmen können. Niemand hat ihm das verwehrt oder verboten.

    Ich finde es auch gut, dass eben dieses Ende des Buches so ist und nicht noch im letzten Moment gut ausgeht. Tobias ist falsch abgebogen, mehrfach, aber er ist es selbst, der weiter macht. Vielleicht begreift er noch irgendwann, dass er sein Leben selbst in die Hand nehmen muss, selbst etwas verändern muss, damit es ihm besser geht, vielleicht aber auch nicht. Das Leben ist nicht nur schwarz und weiß.

    Wenn möglichst viele Unzufriedene und Bequeme begreifen, dass man etwas tun muss, sich engagieren und nicht nur meckern, wäre schon viel erreicht...

    Und ich bin froh, dass der Autor hier ganz klar Stellung bezieht, wenn auch ohne erhobenen Zeigefinger. Ich finde auch sehr interessant, dass diese trostlosen, armen Lebensumstände eben nicht spezifisch für den Osten sind. Die Geschichte hätte ebenso an einem so trostlosen Ort im Ruhrgebiet oder sonstwo im Norden, Süden oder Westen Deutschlands spielen können. Auch das rechne ich dem Autor hoch an.

    Die Geschichte hätte überall spielen können, das stimmt. Und überall gibt es die, die sich ihrem Schicksal ergeben oder den Rattenfängern hinterherlaufen.

    Die Lebensumstände sind eben keine Entschuldigung für Rassismus oder die Wahl faschistischer Politiker.

    Meinst du?

    Ich gebe dir Recht, dass die Regionalität nicht unbedingt etwas damit zu tun hat. Aber die Lebensumstände, die Unzufriedenheit mit den eigenen Chancen und das Gefühl der Benachteiligung lenken Leute schon in die Richtung derer, die scheinbar einfache Wege anpreisen, meine ich.

  • Meinst du?

    Ich gebe dir Recht, dass die Regionalität nicht unbedingt etwas damit zu tun hat. Aber die Lebensumstände, die Unzufriedenheit mit den eigenen Chancen und das Gefühl der Benachteiligung lenken Leute schon in die Richtung derer, die scheinbar einfache Wege anpreisen, meine ich.

    Ich schrieb, dass es dafür keine Entschuldigung gibt und genau das meine ich.

    Du verstehst wohl hier stattdessen "Erklärung". Erklären können die Lebensumstände und die eigene Unzufriedenheit es sicher, entschuldigen allerdings nicht.


    Es gibt für mich keine Entschuldigung dafür Faschisten eine Stimme zu geben, Auschwitz zu relativieren oder den Holocaust zu leugnen, Schulen und Asylantenheime anzuzünden, Menschen zusammenzuschlagen oder zu töten. Keine der hier beschriebenen Lebensumstände kann das entschuldigen.

  • Es gibt für mich keine Entschuldigung dafür Faschisten eine Stimme zu geben, Auschwitz zu relativieren oder den Holocaust zu leugnen, Schulen und Asylantenheime anzuzünden, Menschen zusammenzuschlagen oder zu töten. Keine der hier beschriebenen Lebensumstände kann das entschuldigen.

    Das kann ich so nur unterschreiben!

    Ich schrieb, dass es dafür keine Entschuldigung gibt und genau das meine ich.

    Du verstehst wohl hier stattdessen "Erklärung". Erklären können die Lebensumstände und die eigene Unzufriedenheit es sicher, entschuldigen allerdings nicht.

    Das stimmt genau so.

    Ich versuche immer Erklärungen zu finden, aber das war hier gar nicht gemeint, du hast Recht.

  • Dafür gibt es nie eine Entschuldigung. Es sind schwache Menschen, die niemals sich selber reflektiert haben, wenn sie die Schuld an ihrer eigenen Misere anderen Menschen in die Schuhe schieben. Wenn man sich mit sich selber auseinander setzt, findet man immer einen Weg glücklich zu sein. Es dauert vielleicht etwas, aber möglich ist es und leicht ist es auch nicht immer. Aber wie hätten die beiden das tun sollen? Sie haben ja kein Vorbild. Die Eltern etc. sind ja auch ziemlich gefrustet und finden keinen Weg raus.


    Ich möchte nicht wissen, wie viele solcher Erklärungen (um mal dabei zu bleiben) wir hier in Deutschland haben. Es sind ja nicht nur junge Leute, die gefrustet sind. Obwohl ich einige Menschen nicht verstehe. Die haben alles: Einen Job, eine Arbeit, ein eigenes Haus, einen Ehepartner, Kinder, sogar Enkelkinder etc. und denen fällt nichts besseres ein als über die "Scheiss-Flüchtlinge" zu schimpfen und die dafür verantwortlich zu machen, dass es ihnen selber "schlecht" geht. Aber mehrmals im Jahr in den Urlaub fahren geht ja auch, obwohl es ihnen so schlecht geht. Da hört für mich jede Art des Verstehens und Nachvollziehen-Wollens auf.

  • Da hört für mich jede Art des Verstehens und Nachvollziehen-Wollens auf.

    Ich stimme Dir bei allem zu.

    Mit dem Verständnis ist es vor allem schwierig, da es aus meiner Sicht mehr um Emotionen geht und weniger um die Ratio. Angst vor einer ungewissen Zukunft usw. Ginge es um rationelle Überlegungen, könnte man argumentieren. Gegen Emotionen kommt man argumentativ nicht an.

  • Da kam heute nachmittag ein passender Beitrag auf Bayern 2

    Zündeln in Eden - Von der Unzufriedenheit in guten Zeiten, man kann das noch nach hören

    https://www.br.de/radio/bayern…ausstrahlung-1944482.html


    Zündeln in Eden - Von der Unzufriedenheit in guten Zeiten

    Autorin: Ariane Stolterfoht / Regie: Frank Halbach

    Täglich machen sich Menschen in aller Welt auf den Weg, um bei uns das zu finden, was ihnen ihre Heimatländer nicht bieten: Seit über 70 Jahren Frieden, soziale Absicherung, ökonomische Chancen, Meinungsfreiheit, Frauenrechte, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, einen funktionierenden Rechtsstaat. Diese kostbaren Errungenschaften scheinen vielen Menschen hierzulande dagegen immer weniger zu bedeuten. Sie gehen nicht zur Wahl, beklagen sich, dass alles schlechter sei als früher oder sprechen von "Lügenpresse", andere suchen das Risiko oder empfinden Häme gegenüber schlechter Gestellten oder folgen den unrealistischen Heilsverheißungen ideologischer Rattenfänger. Warum bloß?