Oder Gurken
Matthias Freier ist im Jahr 1998, neun Jahre nach dem Mauerfall, Anfang zwanzig. Er kann gut schreiben, aber sein zweiter Vorname lautet nicht gerade „Motivation“. Doch dafür gibt es ja Fliege, den Macherkumpel, dem das kostenlose Stadtmagazin „0335“ gehört, und außerdem die Werbeagentur, für die Freier pausenlos Newsletter und Flyer textet. Wenn er nicht gerade, quasi im Alleingang, die nächste Ausgabe der 0335 raushaut. Denn Fliege hat andere Sachen im Kopf, er plant Größeres: Frankfurt/Oder, der Ort des Geschehens, wird seit der Wende von der SPD regiert, die aber nur ein paar Dutzend Mitglieder hat, von denen die meisten auch noch Karteileichen sind. Fliege will mit seiner nihilistischen Kampagne „Zur Sonne, zur Freiheit“, die montags mit wachsendem Zulauf für besseres Wetter demonstriert, die SPD übernehmen und damit Franziskus zum Bürgermeister machen, den neoliberalen Neureichen, dem einige Autohäuser gehören, und wohl noch ein paar andere Sachen. Kurzerhand wird Freier, eher gegen seinen Willen, zum Pressesprecher des Kandidaten gekürt. Aber auch Freier hat eigentlich andere Sachen im Kopf, zum Beispiel Nadja, die vor Monaten in den Westen umgezogen ist, jetzt in Berlin rumturnt und gelegentlich in Frankfurt/Oder auftaucht, um Freiers Kopf erneut zu verdrehen. Und außerdem sind da noch die Nazis, die überall darauf warten, Zecken - also Linke im weitesten Sinne - zu klatschen. Und die täglich besser organisiert zu sein scheinen. Man munkelt sogar von einer Liste, die von ihnen abgearbeitet wird. Und einer geheimnisvollen grauen Eminenz namens Gramschi, die das Geschehen aus dem Hintergrund steuert.
Der Journalist Christian Bangel, der selbst aus Frankfurt/Oder stammt und inzwischen Chef vom Dienst bei „Zeit online“ ist, bietet im oft vergnüglichen Duktus durchaus recht harte Kost. Was anfangs nach einer typischen Coming-of-Age-Geschichte klingt, zwar angesiedelt im Fernen Osten direkt an der polnischen Grenze, aber doch adaptierbar auf viele andere Soziotope, entwickelt sich mehr und mehr zu einem Soziogramm, zu einer kritischen Abrechnung, die es gleichzeitig schafft, für Verständnis und Respekt zu werben, ohne mit ostaligschen Verklärungen zu arbeiten. Ganz im Gegenteil - die, die einer Vergangenheit nachtrauern, die als Persilschein für jede noch so irritierende Gegenwartsentscheidung herhalten muss, bekommen ordentlich ihr Fett weg. Aber auch der Umgang der Wessis mit den in einigen Bereichen geschichtsbedingt sehr naiven oder wenigstens ahnungsarmen Ossis ist Thema, und all das vor dem Hintergrund dieser oft ruppigen, gleichsam unsauberen Nachwendedekade, in der vieles möglich schien, vieles möglich war, aber durchaus nicht wenige Träume auch - verbunden mit ordentlicher Ernüchterung - endgültig ad acta gelegt werden mussten. Bangels Helden wehren sich tapfer gegen die Nazis, aber die offenkundige Ausbeutung durch den Westunternehmer bemerken sie als allerletzte.
„Oder Florida“, das hinreißend ausgestattet ist, liest sich flockig und entspannt, kommt aber mit einer ernsten Thematik daher, lockt mit seiner augenzwinkernden Doppelbödigkeit, vielen zeitgeschichtlichen Querverweisen und seinen liebenswürdigen Figuren. Im zweiten Teil hängt der Roman zunächst ein bisschen durch, kühlt etwas aus, um dann umso fulminanter auf ein ziemlich überraschendes, aber stimmiges Ende zuzurauschen. Danach verzeiht man Bangel sogar, dass er hin und wieder Termini verwendet hat, die eigentlich erst später populär wurden. Die Geschichte erinnert an Clemens Meyers „Als wir träumten“, aber ohne dessen Zähigkeit und Larmoyanz. Bangels Figuren sind keine Opfer, sondern Individuen, die ihre Zeit spiegeln, ohne den Zwang zu verspüren, sie vertreten zu müssen. „Oder Florida“ ist außerdem eine Liebesgeschichte - und eine über Freundschaft. Und, übrigens, ein wirklich empfehlenswertes, warmherziges und kluges Buch.
ASIN/ISBN: 3492058043 |