John Lanchester wurde in Hamburg geboren, wuchs in Hong Kong auf, mehrfach ausgezeichneter Autor von fünf Romanen und seinen eigenen Worten ein tragischer Nerd, als Fan von Game of Thrones.
Für Moderatorin Jackie McGlone hätte es keinen passenderen Zeitpunkt für die Veröffentlichung von „Die Mauer“ geben können, gerade jetzt brenne es am Amazonas. John Lanchester hatte die das erste Gespräch zum Buch im sehr heißen September 2018, im Januar 2019 sei es erschienen. Im August 2018 sei ein großes Stück Eis in der Nordwest Passagegeschmolzen. Es kämen ständig schlechte Nachrichten, in immer geringerem Abstand. Im Winter minus 60 Grad in Minnesota, es gebe viele solcher Zeichen. Gleichzeitig könne er verstehen, wenn der Klimawandel geleugnet werden. Es wäre wundervoll, wenn es nicht so wäre.
Die Grundidee sei ihm in einem sich wiederholenden Traum gekommen, in dieser besonderen Phase zwischen Schlaf und Wachsein.
Ihm sei das Bild einer auf einer Mauer stehenden und frierenden Figur und Wasser auf der anderen Seite der Mauer geblieben. Es sei klar gewesen, dass es eine veränderte Welt sei. So sei das Bild ihm im Traum erschienen und die Welt zu der Geschichte sei wie von selbst gekommen. Ausgangspunkt sei eine Klimakatstrophe rund um Großbritannien, in dem Roman untersuche er die möglichen Konsequenzen.
Es sei das erste Mal, dass er so geschrieben habe und er sei überzeugt, dass diese Phase zwischen Schlaf und Wachsein sehr produktiv sei.Zu jener Zeit habe er an einem langen und komplexen Roman gearbeitet, mit einer Vielzahl von Figuren. „Die Mauer“ sei dazwischen gekommen, daher sei die andere Geschichte erstmal im Gefrierschrank gelandet. Er sei ein wenig besorgt, dass die andere Geschichte dort möglicherweise inzwischen gestorben sei, verwahrt in vielen Gefrierbeuteln.
Sein Roman werde mit denen von George RR Martin verglichen, doch seiner Meinung nach sei die einzige Gemeinsamkeit, dass beide vom Hadrianswall inspiriert wurden. Der Wall habe ihn schon immer interessiert. Die dort stationierten Soldaten seien aus den verschiedensten Ländern zum Dienst am Hadrianswall gekommen, einen Ort, der für sie der Rand der Welt war. W. H. Auden schrieb sogar ein Gedicht über die Soldaten, die ihren Dienst dort verrichteten und auf Schottland blickten.
John Lanchester verzichtete bewusst auf detaillierte wissenschaftliche Erklärungen und konzentriere sich auf die Vorstellung eines Lebens in Großbritannien ohne die aktuellen Vorteile durch den Golfstrom. Das Klima rund um Großbritannien werde „nördlicher“, denn oft vergesse man, dass Madrid, Peking und New York auf der gleichen Höhe liegen und Großbritannien dank des Golfstroms ein verhältnismäßig warmes Klima genieße. Als er in Hong Kong aufwuchs sei die Luftfeuchtigkeit immer wichtiger gewesen als die Temperaturangabe. Schon früh habe ihn Kälte fasziniert.
Den Traum der Person auf der Mauer und den Wassermengen auf der anderen Seite habe er Anfang 2016 gehabt, bevor Donald Trump von seiner Mauer gesprochen habe. Das habe er extra nachgeschaut.
Der Weltklimarat IPPC habe vorhergesagt, dass die Durchschnittstemperatur bis Ende des Jahrhunderts um 3,7 Grad steigen werde, wenn wir Menschen unverändert weitermachen würden.
Ihn erinnere die aktuelle Situation an Texte aus dem alten Rom. Schon Tacitus habe über eine solche Phase geschrieben. Die politischen Zeichen verdunkelten sich, die Menschen würden sich voneinander abwenden und Fakten betonen, warum man unterschiedlich sei – dabei seien diese Fakten oft erfunden.
Die Weltkarte habe sich nach dem Fall der Berliner Mauer verändert. Und doch der Großteil der Mauern, die seit dem Ende des zweiten Weltkriegs gebaut wurden in diesem Jahrtausend errichtet worden. Zwischen Indien und Pakistan, im Iran, in der westlichen Sahara und Marokko. Neuglänzende High-Tech Mauern würden errichtet und die Welt verwandeln, Verschlossenheit statt Offenheit.
Als er begann „Die Mauer“ zu schreiben, hätte er die Hypothek auf sein Haus verwettet, dass Trump nicht Präsident werde, noch nicht einmal als Kandidat der Republikaner nominiert werde. Es sei nicht bewusst seine Absicht gewesen, über den Brexit oder den Klimawandel zu schreiben – wobei er nicht ausschließen könne, dass sein Unterbewusstsein sich schon stark mit diesen Themen beschäftigt habe.
Der Klimawandel sei das weitaus drastischere der beiden Themen, unumkehrbare katastrophale Veränderungen, die nicht plötzlich aufgetaucht seien. Die Zeichen seien seit 1979 bekannt.
Er habe sehr viel für das Buch recherchiert und sei immer wieder Gefahr gelaufen, diese Daten im Roman einfließen zu lassen. Plötzlich seien seine Figuren nach Bombay gereist, wo er zu Recherchezwecken war, während sie eigentlich im schottischen Musselburgh sein sollten. Seiner Meinung nach ist es störend, wenn die Figuren immer wieder wissenschaftliche Fakten erklären und er habe versucht, dies auf ein Minimum zu reduzieren. Ford Madox Ford habe einmal gesagt, es sei wichtig zu wissen, die Türgriffe aussehen, aber man müsse es nicht aufschreiben.
Nicht alles, was ein Autor schreibe, sei autobiographisch. In einem seiner Romane ginge es ums Kochen und einen Serienmörder. Gerade bei diesem Buch sei er am häufigsten nach einem möglicherweise autobiographischen Hintergrund gefragt worden, merkte er mit einem Augenzwinkern an.
Die Mauer in seinem Roman werde zum Teil gebaut, um „die Anderen“ draußen zu halten. Jene, die auf ihrer mittlerweile unbewohnbaren Heimat flüchten. Seine Hauptfigur habe Scheuklappen und sehe seine Gesellschaft isoliert, könne nicht das große Ganze sehen.
In „Kapital“ habe er bewusst viele Nebenfiguren gehabt, jetzt habe er sich auf eine kleine Anzahl von Figuren konzentriert und eine Dickens-ähnliche Atmosphäre geschaffen. Schon früh sei ihm klar gewesen, dass die Geschichte von einer einzelnen Person erzählte werde.
Als Autor müsse man drei Punkte bedenken, die eng miteinander verbunden seien. Was ist die Geschichte, wer erzählt sie und wie wird sie erzählt. Ein Roman entstehe aus deren Kombination.
Die Mauer in seinem Roman stehe für das Ende der Welt, vor dem die Menschen schon immer Angst gehabt hätten. Seiner Ansicht nach sind diese Ängste spätestens seit der Erfindung der Atombombe zu einer realen Möglichkeit geworden.
Einer der wichtigsten Themen in „Die Mauer“ sei der Konflikt zwischen Jung und Alt. John Lanchester las eine Stelle aus dem Roman, in dem eine junger Mann zwei Wochen zu Hause verbrachte und jetzt für zwei Wochen Wachdienst an die Mauer muss. Seine Eltern wuchsen anders auf und dieser junge Mann wurde in eine Welt hineingeboren, in der das Teil des Alltags ist.
Auch in unserer heutigen Gesellschaft gebe es immer stärkere Spannungen zwischen den Generationen. Er könne sich nicht erinnern, früher solch drastische Differenzen zwischen verschiedenen Altersgruppen miterlebt zu haben. Wenn nur die Wähler unter 25 hätten abstimmen dürfen, hätten die Conservatives keinen einzigen Sitz gewonnen.
Die „Fridays for Future“ Bewegung habe sich so rasant ausgebreitet, weil dies die Generation sei, die die Folgen des Klimawandels miterleben würde und auch durch Staat nicht mehr so abgesichert sei, wie heute über 65-Jährigen.
John Lanchester glaubt an eine moralische Verpflichtung optimistisch zu bleiben. Nur wenn die Menschen optimistisch seien, würden sie handeln, damit der Klimawandel so gering wie möglich ausfalle. Die Wissenschaft sage nicht, dass wir verdammt seien, sondern handeln müssten. Als Pessimist habe man eine „kann sowieso nichts machen“ Einstellung und dann würden die drastischeren Vorhersagen eintreffen. Jedes Zehntel um das die Temperatur nicht steige würde Millionen Leben retten.
Seine Großeltern waren während des Zweiten Weltkriegs in einem japanischen Lager interniert. Mit seiner Großmutter habe er oft darüber gesprochen und gelernt, dass Überleben davon abhänge, von einem Tag zum nächsten durchzuhalten. Gleichzeitig sei das Leben auch in dieser Situation weitergegangen, man habe an die Zukunft geglaubt, sich verliebt, Schulen eingerichtet usw.
Mit dem Wort „Dystopie“ hadere, es fühle sich für ihn fast wie „non fiction“ an.
Das System wir unsere Gesellschaft und Politik funktioniere habe in mehrfacher Hinsicht versagt. Die Normen für Ehrlichkeit seien verschwunden und es sei unergründlich, wie es soweit kommen konnte. Dinge, die früher zum sofortigen Ende einer politische Karriere geführt hätten, seien heute normal.
In seinem Roman ändere sich alles durch die globale Klimaveränderung und die Gesellschaft verschließe sich. In Großbritannien sei es seltsamerweise zuerst zur politischen dann zur wirtschaftlichen Krise gekommen.
Für ihn ist es erstaunlich, welche Verschiebungen es gebe. Heute hätten junge Menschen eher ein Gefühl für die großen Zusammenhänge und soziale Verantwortung während Politiker sie als Schulschwänzer abtäten. Seine Generation (Jahrgang 1962) werde als Schurken in die Geschichtsbücher eingehen, wenn sie jetzt nicht geschlossen handele. Sein ehrgeiziges Ziel sei es das Schreckensszenario in seinem Buch nicht zur Wirklichkeit werden zu lassen. Er zwinge sich immer wieder ins Licht zu schauen und zu hoffen, dass die im Roman beschriebenen Ereignisse nicht wahr würden. Die Politiker müssten dringend handeln, einzelne engagierte Personen könnten nicht genug bewegen und die trägen Gesellschaftsmitglieder nicht zu anderem Handeln zwingen. Aber so wie bei der Brexitabstimmung würden die Leugner und Selbstgefälligen aussterben.
Sein nächstes Buch sei eine Sammlung von Geistergeschichten und danach werde er den anderen Roman aus den vielen Gefrierbeuteln befreien und wiederbeleben. Zu dessen Inhalt wollte John Lanchester noch nichts verraten.
Trotz der ernsten Themen endete die Veranstaltung in einer positiven Stimmung.
ASIN/ISBN: 360896391X |